Im Würgegriff der KircheMuß ein Theologe Christ sein? Der Fall Lüdemann - Ein Exempel von Christoph Türcke in DIE ZEIT Nr.41 vom 1.10.98 Gerd Lüdemann soll die Theologische Fakultät Göttingen verlassen, weil er nicht mehr an Sühnetod und göttliche Herkunft Jesu glaubt. "Eine Wissenschaft vom christlichen Glauben ist sowenig christlich wie die Wissenschaft vom Verbrechen verbrecherisch", schrieb der Theologe Oskar Pfister 1923. Würden sich die deutschen Theologischen Fakultäten dieser Einsicht öffnen, müßten sie schließen. Aber sie brauchen nicht, denn sie sind gesetzlich geschützt. Besondere Verträge mit dem Staat garantieren den christlichen Kirchen konfessionellen Religionsunterricht an staatlichen Schulen und konfessionelle Theologie an staatlichen Universitäten. Wer nicht katholisch oder evangelisch getauft ist und die entsprechende Kirchensteuer zahlt, darf Religionsunterricht nicht erteilen; wer Theologieprofessor werden will, braucht zudem ein positives Gutachten der zuständigen Diözese oder Landeskirche. Und die Kirchen tun, als sei das das Selbstverständlichste von der Welt. War's nicht immer so? Verdankt sich die europäische Universität nicht gar dem Christentum? Wohl wahr. Als im 12. und 13. Jahrhundert die Universitäten von Bologna und Paris von sich reden machten, da wurde der fortgeschrittenste Stand des Wissens von Theologen vorgetragen, da war die theologische Fakultät die höchste. Allerdings war da auch die Zugehörigkeit zur Gesellschaft zugleich Zwangsmitgliedschaft in der allein seligmachenden Kirche und das Abweichen von ihrer Lehre ein Kapitalverbrechen. Diese Zeiten sind vorbei. Das Christentum ist nicht mehr der kulturelle Leim einer ganzen Gesellschaft, sondern nur noch ein Ferment darin. Ein Menschenrecht namens Religionsfreiheit hat sich durchgesetzt. Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert ist es von Freigeistern, Aufklärern, Bürger- und Arbeitervereinen mühsam erkämpft worden - gegen erbitterten kirchlichen Widerstand. Seit aber die kirchliche Macht nicht mehr ausreicht, es zu verhindern, gehören die Kirchen zu denen, die es am lautesten für sich reklamieren. Wir wollen nur das Recht, unsern Glauben praktizieren zu dürfen wie jede andere Religionsgemeinschaft auch, beteuern sie. Doch wenn sie "Recht" sagen, meinen sie "Vorrecht". Eintreibung der Kirchensteuer durch den Staat, christlicher Religionsunterricht als reguläres Schulfach, konfessionsgebundene Theologie im gleichen wissenschaftlichen Rang an der Universität wie Physik, Mathematik oder Soziologie: all das, was in unserm Kulturkreis sämtlichen andern Glaubensgemeinschaften im Namen der Religionsfreiheit verwehrt wird und was die Großkirchen nur dürfen, weil sie es früher durften, als sie für das Menschenrecht der Religionsfreiheit noch der größte Hemmschuh waren, das soll ihnen selbstverständlich bleiben. Von Zeit zu Zeit regt sich öffentliche Empörung dagegen, wie in Deutschland zuletzt im Fall Küngs, jenes katholischen Theologen, der die Unfehlbarkeit des Papstes angezweifelt, ein abweichendes Verständnis von Christsein entfaltet hatte und nach vielem Hin und Her die kirchliche Lehrbefugnis entzogen bekam. Als halbwegs aufgeklärter Zeitgenosse schüttelte man damals den Kopf über die Engstirnigkeit der obersten Glaubensaufsichtsbehörde in Rom.. Daß Küng, als er die Tübinger Fakultät der Katholischen Theologie verlassen mußte, dem Rektor der Universität direkt unterstellt wurde, sein eigenes Institut und alle akademischen Ehren bekam, nahm man als gerechten Ausgleich und moralischen Sieg einer weltoffeneren Theologie. Nun haben die evangelischen Kirchen, die sich damals am öffentlichen Kopfschütteln kräftig beteiligten, ihren eigenen Fall, und dessen Stachel geht tiefer. Gerd Lüdemann, 1983 als ordentlicher Professor für Neues Testament an die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Göttingen mit voller kirchlicher Zustimmung berufen, ist im Laufe des letzten Jahrzehnts durch seine wissenschaftliche Arbeit, die sogenannte historisch-kritische Bibelforschung, zu unerwarteten Ergebnissen gekommen. Die zahllosen Unstimmigkeiten und Unredlichkeiten, die ihm in den biblischen Texten aufstießen, haben ihn nach und nach davon überzeugt, daß weder Jesus auferstanden noch die Bibel göttliches Wort sei. Daraus hat er die Konsequenz gezogen: Sein Buch "Der große Betrug" (zu Klampen Verlag, 1998), das aus der Spreu der vielen Jesus untergeschobenen Bibelworte die wenigen herausarbeitet, die er mit gewisser Wahrscheinlichkeit so oder ähnlich gesagt haben könnte, hat einen spektakulären Auftakt. Es beginnt mit einem Abschiedsbrief an den "Herrn Jesus": nimmt Abschied von allem, was das Christentum diesem Jesus nachträglich angehängt hat: seinem Sühnetod für unsere Sünden, seiner Gottessohnschaft, Auferstehung und rettenden Wiederkunft. Damit war das Maß voll. War Lüdemann schon die kirchliche Prüfungserlaubnis entzogen worden, als er Jesu Auferstehung bestritt, so verlangten nun seine Göttinger Fakultätskollegen in einer gemeinsamen Erklärung seinen Austritt aus der Theologischen Fakultät. Ein Nichtchrist könne nicht weiterhin Theologieprofessor sein. Die Konföderation Evangelischer Kirchen in Niedersachsen griff diese Forderung auf und teilte Lüdemann Mitte Juli schriftlich mit, das kirchliche Gutachten für seine Berufung nach Göttingen müsse "mit allen Konsequenzen zurückgenommen werden. Diese Rücknahme muß nach unserer Auffassung dazu führen, daß Sie die Theologische Fakultät verlassen." Professor dürfe er gerne bleiben, aber nicht für Theologie. Man gab Lüdemann sechs Wochen Zeit zu einer Stellungnahme, aber schon nach zwei Wochen vermeldete der Evangelische Pressedienst (epd) eine "Einigung" zwischen dem Ministerium für Wissenschaft und Kultur und den Evangelischen Landeskirchen: An der Göttinger Fakultät solle für "Ersatz im Fach Neues Testament" gesorgt werden. Lüdemann freilich denkt nicht daran, seinen Lehrstuhl zu räumen, und er tritt auch nicht aus der Kirche aus, weil die ihn dann nach geltender Rechtslage sofort aus der Fakultät entfernen könnte. "Ich will an der Theologischen Fakultät nur weiter tun dürfen, was ich bei meiner Habilitation versprochen habe: der Wissenschaft dienen und die akademische Jugend im Geist der Wahrheit erziehen", heißt es in seiner Stellungnahme vom August 1998 an die Konföderation, und sein neuestes Buch "Im Würgeggriff der Kirche" (zu Klampen Verlag, 1998) ist der ausführliche Kommentar dazu: ein Manifest "Für die Freiheit der theologischen Wissenschaft". Es wurmt die Protestanten schon lange, daß ihr Vertrag mit dem Staat nicht so straff ausgefallen ist wie der katholische. Die Katholiken haben besser vorgesorgt: rechtsverbindlich festschreiben lassen, daß das kirchliche Gutachten für einen vom Glauben abfallenden Theologieprofessor jederzeit zurückgenommen werden kann, derjenige dann die Fakultät verlassen und das zuständige Ministerium Ersatz schaffen muß. Das hat der evangelische Staatsvertrag versäumt. "Eine nachträgliche Beanstandung kennt das Vertragsrecht für die evangelische Kirche nicht. Dementsprechend sind Abhilfe oder Ersatzgestellungspflichten für den Staat nicht vorgesehen", räumt der Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland, Axel von Campenhausen, in seinem Standardwerk Staatskirchenrecht ein und legt das so aus: "Aus der fehlenden Regelung in den Verträgen folgen weder der Ausschluß einer kirchlichen Beanstandung noch deren Unbeachtlichkeit. Die Lehrverantwortung ist auch für die evangelische Kirche unverzichtbar." Daher könne ihr "ein nachträgliches Beanstandungsrecht [...] von Seiten des Staates nicht versagt werden". Das wird man sehen. Vorerst ist nur das kirchliche Gutachten für Lüdemann zurückgenommen. Der offizielle Antrag auf seine Entfernung aus der Theologischen Fakultät ist noch nicht formuliert. Erst wenn er vorliegt, heißt es im Ministerium, werde man prüfen, ob Lüdemann auch gegen seinen Willen in eine andere Fakultät umgesetzt werden könne. Aber schon vorher hat die Landesregierung bemerkenswerte Konzessionen gemacht: "Zwischen Universität, Ministerium und Kirchen wurde jetzt eine Regelung entwickelt, nach der freiwerdende andere Lehrstühle im Fachbereich Theologie jeweils auf Zeit mit einem Lehrbefähigten für das Fach Neues Testament besetzt werden." Zudem "könnte im Jahr 2002 eine C4-Professur aus einem anderen Fachbereich an die Theologie gehen", berichtet epd. Die Kirche nimmt das als feste Zusage. Sie ist in der Offensive. Sie hat Fakten geschaffen. Sie hat Lüdemann die kirchliche Prüfungserlaubnis entzogen, sie erkennt bei ihm gemachte Seminarscheine nicht mehr an. Also ist ein ordnungsgemäßes Studium bei ihm nicht mehr möglich, folgert die Fakultät, reklamiert den faktischen Ausfall einer ganzen Professur und verlangt vom Ministerium Ersatz, denn dem obliegt ja die Gewährleistung der ordnungsgemäßen Lehre. Und das Ministerium erkennt an, daß hier ein Ausfall vorliegt, auf den es reagieren muß. Es macht sich die kirchliche Sicht, daß Lüdemanns Lehre das Prädikat "theologisch" nicht mehr verdient, zu eigen. Es ergreift theologisch Partei, wo es doch allein über die Rechtslage zu urteilen hat, nach der Lüdemann mit voller theologischer Lehrkapazität seiner Fakultät zur Verfügung steht. Mit andern Worten: Es gibt seine Religionsneutralität preis. Ob das noch verfassungsgemäß ist, wäre ebenso eine juristische Klärung wert wie die Frage, ob diese Sonderbehandlung der Theologischen Fakultät mit der gesamtuniversitären Fürsorgepflicht des Staates vereinbar ist. Denn eine weitere Stelle für die Theologie bedeutet natürlich einen Stellenabzug in einem anderen Fachbereich. Der Kirche freilich ist das längst nicht genug. Sie hat angekündigt, alle rechtlichen Mittel auszuschöpfen, um Lüdemann aus der Fakultät enifernen zu lassen. Und wenn ihr das gelingt, ist der Präzedenzfall da und seine einschüchternde Wirkung nicht zu unterschätzen. Dann darf die evangelische Kirche ebenso wie die katholische entscheiden, welche Universitätstheologie konfessionskonform ist. Auch so kann man die Ökumene voranbringen. Daß die Kirche, statt kleinlaut ihre aus vorbürgerlicher Zeit geretteten Sonderrechte zu genießen, bis die Begradigung der europäischen Rechtsverhältnisse zu ihr vorstößt, hier derart Druck ausüben kann, ohne sogleich heftigsten öffentlichen Gegendruck zu bekommen: das ist vielleicht das Irritierendste am Fall Lüdemann. Offenbar bedient sie da ein tiefsitzendes altes Denkmuster, das sich ähnlich in die moderne Gesellschaft hinübergestohlen hat wie manche Kirchenprivilegien, sogar im Bewußtsein von Atheisten und Indifferenten fortlebt und sich etwa so formulieren läßt: Von Theologie mag man halten, was man will; aber zur Theologieprofessur gehört das Christsein ebenso wie zum Kreis die Rundung. Diesen Konsens, der weit über die Kirchen hinausreicht, hat Lüdemann aufgekündigt. Deshalb fliegen ihm die Herzen auch nicht so zu wie Küng, der den Gemeinplatz, das Christentum müsse zeitgemäß und weltoffen werden, so intelligent auszufüllen wußte, daß er noch zu Lebzeiten als moderner Musterchrist in die Kirchengeschichte eingegangen ist. Lüdemann aber will gar kein Christ mehr sein, und prompt schnappt, als sei es ein konditionierter Reflex, die Frage ein, warum er dann noch Theologieprofessor bleiben wolle. Ja, ist denn immer noch nicht klar, daß die staatliche Universität nicht mehr christlich und die Theologische Fakultät keine kirchliche Hochschule ist? Kirchliche Hochschulen können ihren Wissenschaftsstandard jederzeit auf Glaubensniveau senken. Sie dürfen ihre Dozenten genauso auf ein bestimmtes Glaubensbekenntnis verpflichten wie Banken ihre Angestellten auf Schlips und Kragen. Aber von einer staatlichen Universität das gleiche zu verlangen, nämlich daß auch an ihr die Wissenschaft vom christlichen Glauben selbstredend christgläubig sein müsse, ist ungefähr so, wie zu fordern, daß Musikwissenschaft auf dem Klavier vorgetragen oder Sportwissenschaft vorgeturnt wird. Eine solche Wissenschaft können sich die Kirchen in Deutschland nur leisten, weil ein Staatsvertrag sie schützt, und um sich die Blöße einer solchen Wissenschaft nicht zu geben, wird andernorts die Wissenschaft vom Christentum als das geführt, was sie ist: Teil einer allgemeinen Religionswissenschaft. Eine saubere Lösung, die im übrigen die religionswissenschaftlichen Fakultäten nicht hindern muß, die Einrichtung des einen oder andern konfessionell theologischen Lehrstuhls zu gestatten, wenn die Kirchen ihn finanzieren. Warum nicht großzügig sein? Daß diese Lösung nicht längst selbstverständlich ist: das zeigt, was für ein Ausfall an demokratischem Rechtsbewußtsein an der Schnittstelle von Theologie und Gesellschaft nach wie vor herrscht. In seinem Schatten gedeihen die Verträge von Kirche und Staat. Es wird Zeit, eine Grundlektion in demokratischem Rechtsbewußtsein nachzuholen und öffentlich zu fragen, wes Geistes Kind diese Verträge sind. Der Menschenrechte? Der Verfassung? Was ist das für eine Gemeinschaft von Gläubigen, die das Evangelium predigt, das uns von aller Selbstgerechtigkeit und der Macht des Gesetzes befreien soll, und sich an jeden greifbaren Buchstaben des Gesetzes klammert, wenn es um den Erhalt ihrer Sonderrechte geht? Und was tut ein Staat, der da mitspielt? Die Europäische Union wirft solche Fragen mit neuer Dringlichkeit auf, und die Vereinheitlichung des europäischen Universitätsrechts wäre der ideale Zeitpunkt, sie durch ein juristisches Großreinemachen zu beantworten.
Christoph Türcke ist Theologe und Professor für Philosophie
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Aktualisiert am 25.10.11