Der Fluch des Christentums

Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion.
Eine kulturelle Bilanz nach zweitausend Jahren.

Von Herbert Schnädelbach

Mit seinem "Mea culpa!" hatte der Papst Woityla auf seine Weise Bilanz gezogen; er bat um Vergebung für das, was Christen im christlichen Namen getan haben, hütete sich aber, irgendeine Schuld der Kirche als solcher einzuräumen. In der Perspektive der Kirchenräson ist das verständlich, aber es dient nicht der Wahrheit, denn die Wahrheit ist: Die "sieben Todsünden", die der Papst nennt, sind nicht trotz, sondern wegen des Christentums geschehen; die Täter haben dabei nicht gegen dessen Prinzipien verstoßen, sondern nur versucht, sie durchzusetzen. Nicht bloß die Untaten einzelner Christen, sondern das verfasste Christentum selbst als Ideologie, Tradition und Institution lastet als Fluch auf unserer Zivilisation, der bis zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts reicht, während der christliche "Segen" stets von Individuen ausging, die das, was sie Gutes taten, allzu oft gegen den Widerstand der amtskirchlichen Autoritäten durchsetzen mussten. Meine Vermutung ist, dass diese Christen ihre Kraft stets aus den biblischen Beständen bezogen, die gar nicht spezifisch christlich sind, sondern jüdisches Erbe: zum Beispiel das Liebesgebot. Im Folgenden geht es nicht um die grauenvolle Kriminalgeschichte des Christentums; in die Falle "Prinzip versus Realität" und "Wir sind allzumal Sünder" möchte ich nicht tappen. Deswegen werde ich stattdessen, im Gegenzug zu den "sieben Todsünden" des Papstes, auf sieben Geburtsfehler des Christentums verweisen, die es gar nicht beheben kann, weil dies bedeutete, sich selbst aufzuheben. Vielleicht aber ist diese Selbstaufgabe der letzte segensreiche Dienst, den das Christentum unserer Kultur nach 2000 Jahren zu leisten vermöchte; wir könnten es dann in Frieden ziehen lassen.

1. Die Erbsünde

Wie das Christentum als Theologie ist auch die Erbsünde eine Erfindung von Paulus: "Derhalben, wie durch einen Menschen die Sünde ist gekommen in die Welt und der Tod durch die Sünde, und ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, dieweil sie alle gesündigt haben" (Röm. 5, 12). In der Tat ist auch Genesis 2, 17 zufolge der Tod "der Sünde Sold" (Römer 6, 23), denn Gott sprach: "... aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben." Das Alte Testament kennt somit den Tod aller Menschen nur als Erbschaft der Sünde Adams. Aus diesem "Erbtod" macht Paulus im kühnen Umkehrschluss die Erbsünde: Wenn die Sünde den Tod zur Folge hat, muss dort, wo gestorben wird, auch Sünde gewesen sein, für den der Tod die Strafe ist; also sind alle Nachkommen Adams allein deswegen, weil sie als Sterbliche geboren worden sind, geborene Sünder - unabhängig von ihren Taten. Daraus ergibt sich die paulinische Botschaft der Rechtfertigung durch den Glauben, auf die sich in unseren Tagen Katholiken und Protestanten in einem gigantischen Formelkompromiss erneut geeinigt haben. Eine solche Nachricht ist aber kein Trost, sondern eine Provokation für alle, die sich weigern, den paulinischen Zusammenhang zwischen Tod und Sünde anzuerkennen: Warum sollte ich mich bloß deswegen, weil ich sterblich bin, für schuldig halten? Wer sich nur durch den Glauben für gerechtfertigt hält, ist bereit, sich um Adams willen oder besser grundlos beschuldigen zu lassen und dann als bloß Begnadigter weiterzuleben. Überdies kann der Begnadigte seiner Gnade niemals sicher sein, wie uns die Lehre von der Prädestination versichert. Deren Funktion ist es freilich, die Rechtfertigung durch den Glauben nicht selbst als einen Rechtsanspruch darzustellen, aber was ist das für eine Gerechtigkeit, die die einen Erbsünder zum Heil und die anderen zur Verdammnis vorherbestimmt? An dieser Stelle verbietet uns das Christentum den Mund: "Ja, lieber Mensch, wer bis du denn, daß du mit Gott rechten willst?" (Röm., 9, 20)

Was die Lehre von der Erbsünde anthropologisch bedeutet, liegt auf der Hand: Sie ist menschenverachtend. Der Mensch, wie er geht und steht, ist verblendet, wenn er sich nicht für "verderbt" und für unfähig zum Guten hält. Dass die Ideen der Menschenwürde und der Menschenrechte christliche Wurzeln hätten, ist ein gern geglaubtes Märchen. Die Idee der Humanitas stammt aus der Stoa, und die Figur des aufrechten Ganges des Menschen vor Gott ist ein jüdisches Erbe, das das paulinische Christentum korrumpiert und verschleudert hat. Der fromme Jude spricht sich selbstverständlich die prinzipielle Fähigkeit zu, "gerecht", das heißt dem göttlichen Gesetz gemäß zu leben; er kennt keine Erbsünde, sondern nur die Sünden, die er selbst begangen hat, und für die existiert auch Vergebung. Diese jüdische Überzeugung trifft der ganze Hass und die ganze Verachtung des Neuen Testaments; Paulus zufolge gibt es vor Gott keine Gerechten, und die, die sich dafür halten, sind Pharisäer - ein Schimpfwort bis heute. Dem fügt er noch die Propagandaphrase vom Leiden der Juden unter dem Gesetz hinzu, die bis heute die Judenmission rechtfertigen soll; es gilt ihm als "Fluch" und als "Zuchtmeister ... auf Christum" (Galater 3, 13 und 24). In Wahrheit ist für die frommen Juden das Gesetz selbst göttliche Gnade; wie könnten sie sonst das Fest der Gesetzesfreude feiern?

Die Lehre von der Erbsünde und ihr Gegenstück, die These von der Gerechtigkeit allein durch den Glauben, haben dazu geführt, dass das jüdische Motiv der Würde eines jeden Menschen als Gottes Ebenbild und die stoische Idee der Menschenrechte im Christentum nur in verstümmelter und dadurch pervertierter Gestalt festgehalten wurden. Das Resultat ist die christliche Lehre vom relativen Naturrecht: Menschenwürde und Menschenrechte existieren im Christentum nur für Glaubende als von Gott Begnadigte. Wer dazugehört, darüber entscheidet die Kirche: "Extra ecclesiam nulla salus." So ist es kein Zufall und erst recht kein historischer Unfall, wie der Papst glauben machen möchte, dass seit je für die Christen die Heiden bis zu ihrer Taufe keine Menschen waren und auch nicht so behandelt werden mussten.

In den christlichen Staaten konnten naturrechtliche Ansprüche stets mit dem Hinweis auf den "Sündenstand" der Betroffenen abgewiesen werden. So musste die Aufklärung die Idee des nichtrelativen Naturrechts gegen den erbitterten Widerstand der Amtskirche beider Konfessionen durchsetzen, denn es ließ sich nur als säkulares durchsetzen. Dabei galt es, die Erbsündenlehre samt ihren fatalen Implikationen zu neutralisieren. Dass auch heute ständig auf die Verdienste des Christentums für die Ideen der Menschenwürde und Menschenrechte verwiesen wird, so als hätte hier etwas vorgelegen, was nur zu säkularisieren gewesen wäre, ist in Wahrheit bittere Ironie: Das jüdische und stoische Erbe musste der christlichen Tradition erneut abgetrotzt werden. Es gibt keinen Grund für Christen, darauf auch noch stolz zu sein.

2. Die Rechtfertigung als blutiger Rechtshandel

Die ursprüngliche Botschaft der ersten Christen lautete: "Er ist auferstanden." Welchen Sinn hatte dann seine Kreuzigung? Die Auskunft des Paulus lautet: "Wie nun durch eines Sünde die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, also ist auch durch eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen gekommen" (Röm. 5, 18). Die Gerechtigkeit dieses einen aber ist für das Neue Testament keine andere als die des leidenden Gottesknechts nach Jesaja 53, 4 ff., der sich wie ein "Lamm" zur "Schlachtbank" (10) führen lässt und sein Leben zum "Schuldopfer" hingibt. Das Christentum fasst die Erlösung von der Erbsünde im Sinne des alten jüdischen Sühnerituals, in dem ein Schaf zum "Sündenbock" gemacht wird, als das Sühnopfer eines unschuldig Gekreuzigten, der "unsere Sünden ... hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz" (1. Petrus 3, 24).

Wenn das die ganze Wahrheit vom "Lamm Gottes" wäre, dann genügte Dankbarkeit, um einen zum Christsein zu veranlassen, aber uns wird gesagt: Dieser unschuldig Geopferte war nicht irgendwer, sondern der Sohn Gottes; das Lamm Gottes war selbst Gott. Somit hat Gott dieses Sühnopfer mit sich selbst veranstaltet, denn "Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selbst"(2. Kor. 5, 19 ). Diese Selbstversöhnung Gottes erscheint auch als Rechtshandel, in dem Gott zugleich Gläubiger und Vertreter der Schuldner ist; die Währung ist Blut: "Ihr seid teuer erkauft" (1. Kor. 6, 20); "... mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes" (1. Petrus 1, 18 f.). Angesichts dieses unbegreiflichen Szenariums möchte man fragen, warum der christliche Gott nicht unter denselben Bedingungen vergeben kann wie der jüdische Gott am Jom-Kippur-Fest, und dies vielleicht auch ohne Opferlamm.

"Das Blut Jesu Christi ... macht uns rein von aller Sünde" (1. Johannes 1, 7) - im Pietismus und seinen Liedern wurden daraus wahre Blutorgien. Seit dem späten Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert ist die christliche Ikonografie eine Welt von "Blut und Wunden". Die Maler und Bildner können sich gar nicht genug tun in der grausigen Darstellung der Leiden Christi und der unzähligen Märtyrer. Warum hängt ein sterbender Gehenkter in allen Kirchen und bayerischen Schulstuben - und nicht ein Auferstandener? Warum genügt nicht ein Kreuz als das paradoxale Zeichen der Einheit von Niederlage und Sieg, von Erniedrigung und Erhöhung? Wieso müssen christliche Kinder vom ersten Schultag an vor Augen haben, was Kreuzigung physisch bedeutet?

Der Grund ist: Das Christentum kann sich Glaube/Liebe/ Hoffnung nicht ohne Blut vorstellen; je blutiger, desto authentischer. Was wäre schon ein siegreicher gegenüber dem gegeißelten Jesus in der Wieskirche? Sicher wäre es überzogen, diese Bilderwelt mit heutigen Gewaltvideos zu vergleichen; die Vermutung aber, dies alles habe auch der mentalen Vorbereitung auf die Grausamkeiten im Namen Christi gedient, lässt sich nur schwer abweisen. Die antike Rechtspraxis der Folter wurde schließlich von Papst Innozenz III. im 11. Jahrhundert wieder eingeführt und erlebte durch die heilige Inquisition ihre perfide Vollendung. Was waren die Leiden der Gefolterten gegenüber den in den Kirchen dargestellten? Wo immer realistischere Cruzifixe zum optischen Alltag der Städte gehörten, konnten Geräderte vor den Toren verenden, ohne zu irritieren. Es ist nicht bekannt, dass das Christentum führend war bei der Humanisierung der Strafjustiz; die letzte europäische Schauhinrichtung veranlasste Papst Leo XII. 1825.

Waren die Passionsgeschichte und die Märtyrerlegenden nicht außerdem die beste Einübung in die christliche Behandlung der Heiden und Ketzer? Immer noch sollen wir glauben, der Beitrag des Christentums zu unserer Kultur habe vor allem in der Humanisierung der heidnischen Menschen bestanden. Diese Fabel bestimmte auch über Jahrhunderte die Vorstellung christlicher Erziehung als einer Zähmung der als Sünder geborenen kleinen Wilden und musste überdies zur Rechtfertigung des Kolonialismus herhalten. In Wahrheit ist nicht bekannt, dass Kelten, Germanen oder Slaven Greuel vom Ausmaß des Massenmords Karls des Großen an den Sachsen, des Blutbads bei der Eroberung Jerusalems während der Kreuzzüge, des Strafgerichts über die Katharer oder der Untaten der südamerikanischen Eroberer begangen hätten; wenn das alles die Domestikation der "blonden Bestie" bezeugen soll, dann bezeugt es deren Misslingen. Tatsächlich stammt die Ritterlichkeit der Ritter aus der islamischen Welt und die Höflichkeit der Höflinge, das heißt des Adels und des aufsteigenden Bürgertums, aus der Wiederaneignung der Antike in der Renaissance. Hier liegen die Wurzeln des Humanismus, dem noch zu Beginn unseres Jahrhunderts alle katholischen Amtsträger im so genannten Anti-Modernismus-Eid abschwören mussten. Nicht nur den Menschenrechten ohne die Kautelen der Erbsünde, sondern auch der Menschlichkeit als Prinzip setzte das Christentum oft tödliche Widerstände entgegen; die Geschichte der Märtyrer des Humanismus ist wohl noch zu schreiben.

3. Der Missionsbefehl

Was im Christentum dem humanistischen Respekt vor dem natürlichen Menschen von allem Anfang an entgegenstand, war der Missionsbefehl. Im Matthäusevangelium heißt es: "Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker, indem ihr sie taufet im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe" (Matthäus 28, 19 f.). Hier werden die "Völker" nicht gefragt, ob sie getauft und zu Jüngern gemacht werden wollen, sondern die Taufenden dürfen sich als Vollstrecker "aller Gewalt im Himmel und auf Erden" verstehen; die Zwangstaufen sind dafür der Beleg.

Der Missionsbefehl ist ein Toleranzverbot, denn was anders ist als christlich, ist nur dazu da, getauft zu werden. Von Duldsamkeit gegenüber den anderen brauchte freilich so lange keine Rede sein, wie die Christen selbst eine verfolgte und geduldete Minderheit in einer heidnischen Umwelt waren; in der Perspektive einer Kultur hingegen, die sich längst als christliche etabliert hat, bedeutet das Missionsgebot den Auftrag zur Ausrottung des Heidentums weltweit, das heißt die theologische Ermächtigung zum christlichen Kulturimperialismus. Dass die Missionare selbst zunächst friedliche Mittel bevorzugten, kann man zugeben, aber sie hatten auch nichts dagegen, wenn nach ihnen die Händler und dann die Kanonenboote kamen. Und wie Beispiele aus Brasilien zeigen, kommen heute erst die dollargespickten Missionare der fundamentalistischen Sekten und dann die Ölmultis.

Das Judentum ist insofern tolerant, als es nicht missioniert, und der Islam hat trotz seines Missionsdranges immer die beiden Schriftreligionen Juden- und Christentum respektiert; so blühte die jüdische Kultur unter muslimischer Herrschaft, und die orthodoxen Völker konnten im Osmanischen Reich immerhin im kirchlichen Raum ihre kulturelle Identität bewahren. Religiöse Toleranz ist keine christliche Tugend, denn sie verstößt gegen den Missionsbefehl. Das kirchliche Misstrauen gegen Lessings Nathan war wohlbegründet, denn die Möglichkeit einzuräumen, dass die Juden oder die Muslime den echten Ring besitzen könnten und nicht die Christen, bedeutete den Einbruch der Skepsis in die kirchenoffizielle Glaubensgewissheit der einen und einzigen Wahrheit. Wo das Christentum tolerant wird, hat es sich in Wahrheit schon aufgegeben, auch wenn es dann noch als Privatangelegenheit fortlebt oder als eine moralische Grundhaltung, zu deren Begründung die Bibel entbehrlich ist.

4. Der christliche Antijudaismus

Die christliche Judenfeindschaft hat ihre Wurzel in den Evangelien, während im Umkreis von Paulus davon kaum die Rede ist. Sie ist ursprünglich eine innerjüdische Angelegenheit, denn die Evangelisten sammeln frühestens drei Jahrzehnte nach dem Tod Jesu judenchristliche Berichte über dessen Leben und Sterben, und die kommen darin überein, die Hohepriester und Schriftgelehrten sowie das von ihnen angestachelte "Volk" für die Kreuzigung verantwortlich zu machen. Es sind also zunächst getaufte Juden, die Juden anklagen, den wahren Messias verkannt zu haben.

Während es Markus und Lukas bei der Beschuldigung des orthodoxen Judentums belassen, geht Matthäus zum christlichen Antijudaismus über. Was heute noch jeden christlichen Hörer von Bachs Matthäuspassion erstarren lassen sollte, ist das, was das "ganze Volk" dem Pilatus antwortet, als der seine Hände in Unschuld wäscht und sagt: "Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten!" - "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" Geschrieben ist dies nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70, und dieses Ereignis gilt dem frommen Evangelisten als Erfüllung jenes unfrommen Wunsches; zuvor hatte er Jesus die Katastrophe des palästinensischen Judentums ausführlich prophezeien lassen (Matthäus 23 und 24). Es handelt sich hier um eine der zahlreichen Varianten des Schemas Verheißung-Erfüllung, mit denen das Matthäusevangelium seinen Judengenossen das Christentum nahe bringen wollte. Was den Juden in Jerusalem von den Römern geschah, erscheint als gerechte Folge der Selbstverfluchung eines ganzen Volkes, durch die es nach Matthäus die Schuld am Tode Jesu ausdrücklich auf sich genommen haben soll und fortwirkt in alle Ewigkeit. Also nicht bloß der Bericht aller Evangelien, dass Juden die Kreuzigung betrieben hätten - Johannes spricht an dieser Stelle nur noch von "den" Juden -, ist schon ein hinreichendes Motiv der christlichen Judenfeindschaft; erst die Behauptung, "die" Juden hätten doch selbst das Blut Jesu heraufbeschworen, verschaffte den christlichen Judenverfolgungen ein gutes Gewissen. So zieht sich von jener Blut-Stelle des Matthäus eine Blutspur über die ungezählten Judenpogrome im christlichen Europa bis hin zum rassistischen Antisemitismus als dem säkularen Erbe des religiösen Antijudaismus. Der Holocaust war ohne das Christentum nicht möglich, viele Christen haben sich daran ohne schlechtes Gewissen beteiligt, und die katholische Kirche hat dazu geschwiegen; zu diesem Schweigen schweigt der Papst bis heute.

5. Die christliche Eschatologie

Das wohl schrecklichste Erbe des Neuen Testaments ist die so genannte Offenbarung des Johannes, die alle Ansätze christlicher Eschatologie im Neuen Testament zusammenführt und dramatisiert. Nichts hat seit zwei Jahrtausenden die Menschen des Abendlandes so kontinuierlich in Angst und Schrecken versetzt wie dieses Buch. Fast jedes Kathedralportal und viele Tafelbilder bezeugen dies, vor allem aber das uralte Dies irae aus der Totenmesse, in dem die ausführliche Schilderung des Grauens der Apokalypse nur unterbrochen wird durch das wimmernde Flehen um Erbarmen. Jahrhundertelang haben die Menschen im Schatten dieser Panikvisionen gelebt. Die wissenschaftliche Auskunft, Apokalypsen seien um die Zeitenwende eine verbreitete Literaturgattung gewesen und schließlich habe auch eine jüdische Eschatologie existiert, vermag nichts gegen die katastrophale Wirkungsgeschichte des letzten Buches der Bibel.

Zwischen der jüdischen und der christlichen Eschatologie bestehen wichtige Unterschiede. Die Messiashoffnung der Propheten ist in ihrem Kern eine politische und bezieht sich bei Jesaja auf die Wiederaufrichtung des Reiches Davids. Trotz des Transports dieses Motivs ins Weltgeschichtliche bleibt es auch bei Daniel beim Ethnozentrismus: "... das Reich, Gewalt und Macht unter dem ganzen Himmel wird dem heiligen Volk des Höchsten gegeben werden, des Reich ewig ist, und alle Gewalt wird ihm dienen und gehorchen" (Daniel 7, 27). Zugleich fließt hier schon das altägyptische und platonische Motiv eines Totengerichts auf der Grundlage von "Büchern" mit ein, das sich aber auf ganze Völker bezieht (Daniel 7, 10 und 24 ff.). Genau dies greift die christliche Apokalypse auf (Offenbarung 20, 11 ff.), um es sofort zu individualisieren, das heißt, die ganze Bürde des "Jüngsten Gerichts" lastet jetzt auf jedem Einzelmenschen, der sich dabei dem "feurigen Pfuhl" (V. 15) als künftiger Alternative ausgesetzt sieht. Damit erzeugt die christliche Apokalypse einen ungeheuer verstärkten eschatologischen Druck. So hat sich hier das Christentum ein Instrumentarium unablässiger Verunsicherung und Disziplinierung der "eigenen Leute" geschaffen, durch das es ständig den Ausweg aus von ihm selbst erzeugten Ängsten verheißt, um sie im gleichen Atemzug erneut zu schüren; jede Feier des Requiems folgt diesem Mechanismus. Nur so ist zu erklären, warum sich so viele Menschen über so viele Jahrhunderte von der Offenbarung des Johannes terrorisieren ließen.

Die christliche Eschatologie hat auch politisch gewirkt - in der Gestalt eschatologischer Politik von Christen und Nichtchristen. Sektenführer versuchten, selbst die Apokalypse herbeizuzwingen und zu vollstrecken, und Tausende sind ihnen dabei in den Tod gefolgt; die Ahnenreihe reicht von mittelalterlichen Sektierern über Savonarola und die Täufer bis zu den religiös motivierten kollektiven Selbstmorden unserer Tage. Die Zahl der Opfer eschatologischer Politik unter Bedingungen der Profanität hingegen geht in die Millionen; dabei handelt es sich um Versuche, den endgültigen Sieg des Guten und die definitive Vernichtung des Bösen Gott aus der Hand zu nehmen und mit menschlichen Mitteln zu erreichen. Die unvermeidbare Konsequenz ist Terror.

Natürlich macht es keinen Sinn, den "Seher von Patmos" für die apokalyptischen Untaten Lenins, Stalins, Pol Pots oder Hitlers verantwortlich zu machen, aber die Christen sollten sich doch fragen, wie sie es mit der Eschatologie halten wollen. Liegt nicht in der Verheißung: "Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen" (Offenbarung 20, 4) eine ständige Versuchung, hier Gott durch einen modernen Götzen zu ersetzen - gemäß Blochs Diktum "Ubi Lenin ibi Jerusalem" - und dann die Preise zu verschweigen, die man zahlen muss? In der Bibel haben die in den "feurigen Pfuhl" geworfenen Gottlosen die Zeche zu zahlen; nach dem Abschied von der Religion waren die an der Reihe, die im Zeichen von "Endlösungen" die Hölle auf Erden durchleiden mussten. Wäre es nicht christlicher, die Eschatologie unter das biblische Bilderverbot zu stellen?

6. Der Import des Platonismus

Ein besonders folgenreicher Geburtsfehler des Christentums ist der Import des Platonismus, der durch die Anstrengungen der Kirchenväter erfolgte, ihren Glauben der hellenistischen Welt als die überlegene Philosophie zu präsentieren. Das Resultat war eine ontologische Aufspaltung der Wirklichkeit in Diesseits und Jenseits sowie der Leib-Seele-Dualismus. Beide Denkmodelle, die Platon in neuplatonischer Vermittlung repräsentieren, bestimmen das christliche Denken bis heute, obwohl sie in Wahrheit mit dem Kernbestand des Alten und Neuen Testaments unvereinbar sind.

Im jüdischen Denken gibt es zunächst nur das Diesseits, das heißt die Gegenwart und ihre Vorgeschichte; es kennt ursprünglich auch kein Leben nach dem Tod, denn die Verheißungen Gottes beziehen sich noch bei Hiob nur auf das irdische Leben und die Nachkommen. Durch die prophetische Eschatologie kommt dann ein Jenseits hinzu, aber das verhält sich zum Diesseits wie die Zukunft zur Gegenwart. Dem Christentum zufolge ist zwar dieses Zukünftige schon erschienen - als der paradoxe Messias am Kreuz -, aber es wird wiederkommen in der Parusie Christi als Weltenherrscher. Die Frage, wo sich Christus in der Zwischenzeit aufhält, wird mit dem Verweis auf den "Himmel", das heißt auf ein höheres Stockwerk der einen Wirklichkeit beantwortet, zu dem Jesus hinaufgefahren sei und von dem er wieder herabkommen werde; zuvor sei er "hinabgestiegen in das Reich der Toten", also ins Kellergeschoss. Im Zuge der Hellenisierung des Christentums aber wird aus jener Ebenendifferenz von Diesseits und Jenseits eine Artdifferenz, das heißt beide Sphären sollen sich wie Platons reale und ideale Welt zueinander verhalten. So entstanden auch im christlichen Platonismus die Ontologie der "Hinterwelt" und die Tendenz zur Verleumdung des Diesseits, die dann Nietzsches langen Zorn auf sich zog.

Beide Arten der Unterscheidung zwischen Diesseits und Jenseits, die topologische und die ontologische, haben im Christentum stets in einem niemals wirklich ausgetragenen Konflikt gelegen: Wenn das Nizänum Gott den "Schöpfer des Himmels und der Erde, alles Sichtbaren und Unsichtbaren" nennt, konnte man unter dem Unsichtbaren stets sowohl eine geografisch höhere und deswegen unseren Augen entzogene Sphäre der einen von Gott geschaffenen Wirklichkeit verstehen oder den platonischen kósmos noetós - die bloß denkbare Welt. Die Entwicklung der Kosmologie in der Neuzeit hat aber das topologische Modell vollends unglaubwürdig werden lassen, obwohl die Christen in aller Welt in der Deklamation des Credo immer noch an ihm festhalten; damit blieb nur der platonische Ausweg, das heißt die Spiritualisierung des Jenseits, wenn man an ihm festhalten wollte. Wo sollte man auch hin mit einer Utopie, die schon "erschienen" ist? Das Nirgendwo muss dann doch irgendwo sein, und wenn es nicht "oben" ist, dann kann es nur "im Geiste" existieren. Damit aber wurde die geistige Welt zur angeblich einzig wahren "umgelogen" (Nietzsche).

Das Unheil der christlich-platonischen Diesseits-Jenseits-Unterscheidung besteht darin, dass durch sie die reale Welt zum bloßen Schein herabgesetzt und normativ entwertet wurde. Die neuzeitliche Aufklärung war wesentlich bestimmt durch die Idee der Rehabilitierung der wirklichen Wirklichkeit. Die kirchlichen Anwälte des Jenseits sollten nicht länger das, was es wirklich gibt, für ihre Machtzwecke instrumentalisieren dürfen; mit der Zwei-Reiche-Lehre und dem "Es wird euch im Himmel wohl belohnt werden" als Herrschaftslegitimation sollte Schluss sein. Am Ende dieses Prozesses zeichnet Nietzsche nach, "wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde", und triumphiert: "... mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft."

Der Import des Platonismus führte im Christentum aber nicht nur zur Denunziation der Realität, sondern zu einer dualistischen Anthropologie mit fatalen Konsequenzen. Das "Menschenbild" des Judentums und der frühen Christen ist monistisch; was Luther mit "Seele" übersetzt, ist die Lebendigkeit des Geschöpfs "Mensch", von Gott gemacht "aus einem Erdenkloß" und verlebendigt durch das Einblasen des "lebendigen Odem" in seine Nase (1. Mose 2, 7). In diesem Sinne lehren die Apostel die "Auferstehung des Fleisches", also des ganzen Menschen; selbst im Credo ist nur (wie schon bei Daniel) von der Auferstehung der Toten die Rede, aber nicht von der Unsterblichkeit der Seele, die den platonischen Leib-Seele-Dualismus voraussetzt. Gleichwohl wurde diese unbiblische Gedankenfigur im Christentum zu einer kulturellen Selbstverständlichkeit: Der christliche Platonismus bedeutete nicht nur im Kosmos, sondern auch im Menschen die normative Herabsetzung der Wirklichkeit, das heißt seiner Leiblichkeit. Das Ergebnis ist die systematische Leibfeindlichkeit der christlichen Tradition, wie sie sich besonders in der repressiven Sexualmoral der Kirchen forterbte.

Natürlich predigt schon Paulus asketische Ideale, aber die stehen bei ihm noch ganz im Kontext der Naherwartung der Wiederkehr Christi (1. Korinther 7); sonst hätten sie dem Juden Paulus ganz fern gelegen. Das Judentum kennt keine Leibfeindschaft; gutes Leben und erfüllte Sexualität sind da gute Gaben Gottes, für die Gott freilich auch eine gute Ordnung erlassen hat. Erst der Import des Platonismus hat im Christentum die menschliche Leiblichkeit vergiftet. Diese Lebensform lebt im Zölibat fort, in dessen Geschichte die kirchenpolitische Verhinderung priesterlicher Dynastiebildung allmählich zu einem besonderen geistlichen Gut umfunktioniert wurde. Es wird immer wieder behauptet, die Frauen seien durch das Christentum aufgewertet worden, und das ist wohl wahr, was den Umgang von Jesus mit ihnen betrifft in einer Welt, in der Religion Männersache war. Aber welche Verachtung der Weiblichkeit liegt im Mythos der Jungfrauengeburt und im Ausdruck "unbefleckte Empfängnis", so als seien Empfängnis, Geburt und überhaupt weibliche Sexualität etwas Schmutziges und des "reinen" Gottessohnes Unwürdiges. In diesem Sinne hat das Christentum das Weibliche nur als das Jungfräuliche und deswegen "Reine" zu schätzen gelehrt. Neben der katholischen Sexualmoral, die in der Frage der Geburtenregelung längst in blanken Zynismus übergegangen ist, sollten wir aber die pietistische nicht vergessen, die sich ohne Außenstützen wie Beichte und Absolution ungleich effektiver ins Innere der Menschen einbohrte und viele zu psychischen Krüppeln machte. Die platonische Leib-Seele-Schizophrenie ging in manifeste Krankheit über.

7. Der Umgang mit der historischen Wahrheit

Oben war von der besonderen Bedeutung des Matthäusevangeliums für den christlichen Antijudaismus die Rede; es ist überdies ein bemerkenswertes Beispiel für den Umgang der frühen Christenheit mit der historischen Wahrheit, denn der Bericht von der Selbstverwünschung der Juden ist ja nicht die einzige strategische Erfindung, die sich im Neuen Testament findet. Unter den Evangelien tut sich dabei das Matthäusevangelium besonders hervor; ihm ist fast jedes Mittel recht, den Judengenossen Jesus als den wahren Messias vor Augen zu stellen. Zu diesem Zweck wird das Alte Testament geplündert, und was sich dort in irgendeiner Weise als messianische Verheißung auffassen lässt, wird dann in der Biografie Jesu als erfüllt behauptet - nach dem Schema: "Auf daß erfüllet werde die Schrift ...". So wurde Jesus wegen Micha 5, 1 in Bethlehem geboren, wegen 4. Mose 24, 17 musste da ein Stern aufgehen, wegen Psalm 72, 10 und 15 und Jesaja 60, 6 mussten die Weisen aus dem Morgenland kommen, und wegen Hosea 11, 1 musste die Heilige Familie nach Ägypten geflohen sein. Jeremia 31, 15 ist die Raison d'Être des Bethlemitischen Kindermordes - eines unfassbaren Ereignisses, dessen sich nach zwei Generationen die Zeitgenossen bestimmt noch erinnert hätten, handelte es sich dabei nicht um eine dreiste Fiktion. Dass der sterbende Jesus Worte des Alten Testaments zitiert habe, könnte wahr sein, aber dass in seiner Sterbestunde der Vorhang im Tempel zerrissen sei, die Erde gebebt habe und Tote den Lebenden erschienen seien (Matthäus 27, 51 ff.), dafür gäbe es ganz sicher unabhängige Zeugen, wäre dies nicht auch eine Legende. Das Ganze verliert dort aber endgültig seine Unschuld: "... sondern der Kriegsknechte einer öffnete seine Seite mit einem Speer, und alsbald ging Blut und Wasser heraus. Und der das gesehen hat, der hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr; und dieser weiß, daß er die Wahrheit sagt, auf daß ihr glaubet" (Johannes 19, 34 f.). Hier wird absichtlich und zweckrational gelogen: Es wird etwas berichtet als eine weitere Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen mit der ausdrücklichen Beteuerung der Wahrheit, die im Fall der schlichten Wahrheit entbehrlich wäre.

Bestimmte Neutestamentler werfen einem an dieser Stelle Naivität und unhistorisches Denken vor; wir sollen also so unnaiv sein zu glauben, die Evangelisten hätten eben ein naives Verhältnis zur historischen Wahrheit gehabt. Darauf sei es ihnen gar nicht angekommen, sondern sie hätten überlieferte Jesusworte aufgenommen und daran Wundergeschichten angelagert - und Wunder seien damals nichts Besonderes gewesen; was hätten sie denn sonst predigen sollen als Worte des Alten Testaments? Nun, gerade das Lukasevangelium bemüht sich um eine Lokalisierung des Jesus-Geschehens in der profanen Geschichte, und es widerspricht der Lehre von der Fleischwerdung Gottes, das Fleischgewordene in lauter Fiktionen aufzulösen. Jesus muss darum eine historische Figur gewesen sein, und denen, die über ihn berichteten, war der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge bekannt. Wie konnten sie dann glauben, historische Unwahrheiten taugten besonders zur Verbreitung der christlichen Wahrheit.

Der strategische Umgang mit der historischen Wahrheit um einer höheren Wahrheit willen ist ein Erbübel des verfassten Christentums. Da haben die Evangelisten Tatsachen erfunden, und bis in unsere Tage war es Christen streng verboten, sie auch nur zu bezweifeln. Die Geschichte der rationalen Bibelkritik seit der frühen Neuzeit zeigt, wie das starre Festhalten an den biblischen Tatsachenwahrheiten die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft insgesamt beschädigte. Noch heute versuchen die Amtskirchen, die theologische Aufklärung des Kirchenvolkes zu verhindern. Das ist sogar verständlich, denn was bleibt vom "Kern" des Christentums übrig, wenn man seine fiktiven Schalen entfernt? Was bleibt von der Auferstehung, wenn man das leere Grab auf sich beruhen lässt? Paulus sagt: "Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich. Wir würden aber auch erfunden als falsche Zeugen Gottes, daß wir wider Gott gezeugt hätten, er hätte Christum nicht auferweckt ..." (1. Korinther 15, 14 f.). Predigt und Glaube dürfen aber nicht vergeblich und das Zeugnis darf nicht falsch gewesen sein, also war das Grab leer.

8. Christentum heute?

Wenn das Christentum einmal seine sieben Geburtsfehler hinter sich gelassen haben sollte, wird von ihm fast nichts übrig geblieben sein; vor allem wird es sich dann kaum noch von einem aufgeklärten Judentum unterscheiden lassen. Was im Christentum etwas taugt, ist ohnehin jüdisch. Jesus war ein frommer und radikaler Jude; wie wäre es, wenn die Christen wieder "jesuanisch" würden? Die Kirchen predigen die Erbsünde ohnehin nur noch in spiritualistischer Verdünnung; da ist zum Judentum, das die angeborene Schwäche des Menschen sehr wohl kennt, kein Unterschied mehr. Die Rechtfertigung durch den Glauben kann man auch ohne den blutigen Rechtshandel Gottes mit sich selbst allein auf der Grundlage des Alten Testaments predigen, denn schon Paulus zitiert immer wieder den Propheten Habakuk: "Der Gerechte wird seines Glaubens leben" (Römer 1, 17). Den Missionsbefehl könnten die Christen abschwächen zur Aufforderung, die Welt im Geiste der Toleranz mit dem eigenen Glauben bekannt zu machen; genau dies haben die jüdischen Gelehrten stets getan. Damit wäre auch der Antijudaismus erledigt. Was die Eschatologie betrifft, so könnten Juden wie Christen es Gott überlassen, was am Jüngsten Tag geschieht; Hoffen ist freilich eine jüdische und eine christliche Tugend. Auch sollte das Christentum von seinen platonisierenden Ausflügen endlich zurückkehren und seine Dualismen ersetzen durch eine Philosophie der einen Welt und des ganzen Menschen, die uns das Judentum vorzeichnet.

Fraglich ist, ob es das Christentum überleben kann, sein Verhältnis zur historischen Wahrheit im modernen Sinne wirklich zu ordnen. Die bloß allegorischen oder gar symbolischen Deutungen der biblischen Berichte haben sich längst als Sackgassen erwiesen. Die Nachgeschichte des Bultmannschen Entmythologisierungsprogrammes zeigt überdies, welche Leere sich auftut, wenn man Kernaussagen des Christentums nur noch "existenziell" interpretiert. Was soll man denn noch glauben, wenn man in der Schriftreligion "Christentum" nichts mehr wörtlich nehmen kann? Adorno meinte einmal, die Bitte um das tägliche Brot mache Sinn in einer bäuerlichen Welt, aber nicht angesichts von Brotfabriken. Wenn in unseren Gesangbüchern Gebete um Regen stehen, machen sie damit nicht den christlichen Gott zu einem heidnischen Wetterdämon? Ein Kirchenlied behauptet: "Es kostet viel, ein Christ zu sein." Das ist wahr, wenn man die unausgesetzten Forderungen und Vorschriften bedenkt, mit denen die Kirchen ihre Glieder traktieren. Aber was wäre der Gewinn, der Mehrwert solcher Kosten? Was kann uns das Christentum versprechen? Nachdem wir uns nicht mehr mit dem "feurigen Pfuhl" Angst machen lassen, wollen wir uns auch nicht auf die ewige Seligkeit vertrösten lassen; ein glückliches Leben in dieser Welt genügt uns. Wie sagt Heine? "... den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen."

Ich habe den Eindruck, dass das verfasste Christentum in der modernen Welt sein tatsächliches Ende längst hinter sich hat, aber ohne dies bemerkt zu haben. Kirche als moralische Anstalt und als soziale Veranstaltung - das verdient Respekt und Unterstützung. Die Kirchen sind nicht zufällig leer, denn wer versteht schon die Predigten, Bibel- und Liedertexte? In Wahrheit haben die Kirchen nichts spezifisch Christliches mehr zu sagen. Das Christentum hat unsere Kultur auch positiv geprägt, das ist wahr, wenn auch seine kulturelle Gesamtbilanz insgesamt verheerend ausfällt; seine positiv prägenden Kräfte haben sich erschöpft oder sind übergegangen in die Energien eines profanen Humanismus. Der neuzeitliche Aufklärungsprozess folgte dabei selbst einem christlichen Gebot - dem der Wahrhaftigkeit - und damit einer "zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet" (Nietzsche). Erst in seinem Verlöschen könnte sich der Fluch des Christentums doch noch in Segen verwandeln.

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Herbert Schnädelbach lehrt als Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vor wenigen Wochen ist von ihm im Frankfurter Suhrkamp Verlag die Vortrags- und Aufsatzsammlung "Philosophie in der modernen Kultur" erschienen.

© beim Autor/DIE ZEIT 2000 Nr. 20

Anmerkung

Der größte Fehler des Christentums ist, daß es bereits mit seinem Namen den Menschen dazu verführt, die Lehre als solche für seine vielfältigen Zwecke zu instrumentalisieren, anstatt ihn zur universellen, verantwortlichen Menschlichkeit zu führen. Der wesentliche, ethische Gehalt des Christentums sowie aller anderen Religionen stellt sich für den aufgeklärten Menschen im Humanismus dar. Humanismus ist ein Denken und Handeln, das sich an der Würde des Menschen orientiert und dem Ziel menschenwürdiger Lebensverhältnisse dient. Im Sinne von Wahrhaftigkeit und Verantwortung würde die Kirche handeln, wenn sie sich von einer christlichen zu einer humanistischen Kirche wandelte. R.K.

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6/2000 
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Aktualisiert am 11.11.11