Reformation oder Transformation
der Kirche?

Was würde Martin Luther heute fordern?   

Er würde heute sagen: "Re-Formierung, eine Rückformung der Kirche reicht heute nicht mehr aus, dazu hat sich die Menschheit inzwischen viel zu sehr weiterentwickelt. Wenn die Kirche zum Heil der Menschheit, zum Heil der Welt beitragen will, dann ist eine Transformation, eine Um-Formung vonnöten. Nach der grundlegenden Weiter-Entwicklung auf allen anderen Gebieten des menschlichen Lebens ist nun endlich auch eine grundlegende Wandlung des Glaubens zur Anpassung an die Erfordernisse der realen und zukünftigen Gesellschaft dringend nötig.

So wie die Menschheit sich heute insgesamt darstellt und verhält, kann sie sich aufgrund ihrer mangelnden religiösen Entwicklung nicht als mündig bezeichnen. Sie ist einerseits dabei, den Weltraum zu erobern und hält gleichzeitig zum großen Teil an alten Traditionen eines Glaubens fest, der den Vorstellungen eines Wissensstandes von vor 2000 Jahren entstammt. Diese Spaltung zwischen Wissen und Glauben entspricht einem erwachsenen Menschen, der wie ein Kind von drei Jahren noch an den Weihnachtsmann glaubt.

Albert Einstein sagte: "Was uns der Erfindergeist der Menschen in den letzten hundert Jahren geschenkt hat, vermöchte das Leben sorglos und glücklich zu gestalten, wenn die organisatorische Entwicklung mit der technischen hätte Schritt halten können. So aber nimmt sich das mühsam Errungene in der Hand unserer Generation aus wie ein Rasiermesser in der Hand eines dreijährigen Kindes. Der Besitz von wunderbaren Produktionsmitteln brachte nicht Freiheit, sondern Sorge und Hunger. ... Der Widerstand gegen den unbedingt notwendigen Fortschritt liegt in unglücklichen Traditionen der Völker, die durch den Erziehungsapparat wie eine Erbkrankheit von Generation zu Generation fortgeschleppt werden."

Nach Erich Fromm könnte der Mensch echt religiöser Kulturen vielleicht mit einem Kind von acht Jahren verglichen werden, das einen Vater als Retter braucht, das jedoch angefangen hat, die Lehren und Prinzipien des Vaters in sein Leben zu übernehmen. Der zeitgenössische Mensch jedoch würde einem Kind von drei Jahren ähneln, das nach dem Vater ruft, wenn es ihn braucht, und sonst zufrieden ist, wenn es spielen kann.

Nehmt Abschied von der kindlichen Vorstellung von einem gütigen Vater im Himmel, der euch erhört und hilft. Werdet euch bewußt, daß ihr selbst für das verantwortlich seid was ihr tut, und daß ihr nur auf die Natur und auf die Hilfe eurer Mitmenschen bauen könnt. Plappert nicht länger gedankenlos nach: 'Vater unser, der du bist im Himmel...' oder 'So wahr mir Gott helfe!'

Nehmt Abschied von der bequemen aber gefährlichen Selbsttäuschung, daß ihr euren Kindern mit Taufe und Indoktrination eines hoffnungslos veralteten Glaubens Sicherheit gebt. Das Gegenteil ist der Fall. Ihr zwingt sie damit zur Unwahrhaftigkeit, verhindert die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und verstoßt so gegen deren Menschenwürde. Eine Heilslehre, die zur Abhängigkeit von einer beliebig interpretierbaren, imaginären Autorität und zur psychischen und rechtlichen, oft lebenslangen Bindung an die Kirche führt, ist mit einer geistigen Einstiegs-Droge vergleichbar!

"Man sollte sich zur heiligsten Pflicht machen, dem Kinde nicht zu früh einen Begriff von Gott beibringen zu wollen. Die Forderung muß von innen heraus geschehen, und jede Frage, die man beantwortet, ehe sie aufgeworfen ist, ist verwerflich. Das Kind hat vielleicht seine ganze Lebenszeit daran zu wenden, um jene irrigen Vorstellungen wieder zu verlieren", hinterließ uns Friedrich von Schiller.

Hört auf mit jeglichem Fetischismus. Sprecht nicht länger von, zu und über Jesus, Maria, Heilige und Gott, sondern praktiziert statt dessen Menschlichkeit.

Laßt fahren dahin: kirchliche Ämter und Würden, Hierarchien und Vorrechte, heidnischen Götzenkult und fetischistische Zeremonien.

Seid Laien unter Laien, erfahrt das volle Leben, um Fachleute ganzheitlichen Lebens zu werden. Führt die Theologie weiter zur Psychologie.

Entrümpelt eure Gotteshäuser von allem sakralen Pomp, von religiösem und heidnischem Kitsch und macht aus ihnen Begegnungsstätten für den Menschendienst an allen Menschen.

Spaltet euch nicht weiterhin durch sektiererische Bezeichnungen von euren Mitmenschen anderer und ohne Bekenntnisse ab, sondern macht aus der christlichen eine humanistische Kirche."

Den ehemaligen Kirchen-Mitgliedern würde er sagen: "Verharrt nicht länger in einer pubertären Anti-Haltung, verlangt nicht länger nur nach Freiheit und Menschenrechten, sondern handelt integrativ und konstruktiv und bekennt euch zum Menschentum und seinen Pflichten.

Löst euch von allen religiösen, ethnischen und ideologischen be-grenzenden, ab-grenzenden und aus-grenzenden Bekenntnissen wie Christentum, Judentum, Deutschtum und Wirtschaftswachstum und bekennt euch stattdessen zum alle Menschen dieser einen Welt vereinenden Menschentum, bekennt euch zum universellen Humanismus! Strebt nach Mündigkeit, nach Identität aus euch selbst heraus, orientiert euch an Menschlichkeit und Natur, dann erfahrt ihr wahre Erlösung hier und jetzt.

Ein neuer, brauchbarer Glaube braucht im Grunde keinen Gott, keine Bibel, keine Priester, keine Kirche, sondern lediglich einen kritischen Verstand und ein einfühlsames Wahrnehmungs-Vermögen des Welt-Ganzen. Jeder einfache, normal gebildete Mensch unserer heutigen Gesellschaft, der unvoreingenommen versucht, die Welt in ihrer realen Funktion zu erkennen, ist in wenigen Stunden anhand des allgemein verbreiteten Wissens in der Lage, den erkennbaren Sinn zu erfassen, um sein Leben sinnvoll zu gestalten.

Bereits Goethe fragte: "Ist denn so groß das Geheimnis, was Gott und der Mensch und die Welt sei? Nein! Doch niemand hört's gerne; da bleibt es geheim."

Warum mag es niemand gerne hören? Weil das ganze Geheimnis im Grunde darin besteht, daß die Welt für den begrenzt erkenntnisfähigen Menschen trotz aller seiner Anstrengungen letztlich doch immer ein Rätsel bleiben muß; weil Gott lediglich aus der individuell auslegbaren Vorstellung des Hilfe suchenden Menschen besteht; weil der Mensch sich nicht mit seiner Endlichkeit abfinden möchte und lieber an der Veränderung seiner Mitwelt arbeitet als an sich selbst. Das ist das ganze Geheimnis.

Der Dalai Lama (XIV) sagte: "Für mich stellen Liebe und Mitgefühl eine allgemeine, eine universelle Religion dar. Man braucht dafür keine Tempel und keine Kirche, ja nicht einmal unbedingt einen Glauben, wenn man einfach nur versucht, ein menschliches Wesen zu sein mit einem warmen Herzen und einem Lächeln, das genügt."

Und Friedrich von Schiller empfahl: "Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren. Was sie willenlos ist, sei du es wollend; - das ist's."

Man kann es auch so sagen: Sinn unseres Lebens ist größtmögliche Entfaltung und Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit in größtmöglicher Harmonie und Verbundenheit zu unserer Mitwelt.

Eine wichtige Voraussetzung zur Vervollkommnung des Menschen ist seine Mündigkeit. Mündigkeit bedeutet mehr als nur Volljährigkeit. Mündigkeit heißt, eine kritische Distanz nicht nur zu seiner Mitwelt, sondern auch zu sich selbst zu haben, für sich selbst voll- und für seine Mitwelt mitverantwortlich sein zu können und zu wollen.

Ziel und Weg, also Aufgabe von uns Menschen ist demnach nicht mehr, aber auch nicht weniger als Menschlichkeit. Menschlichkeit braucht und bringt Verbundenheit, Verbundenheit braucht und bringt Frieden, Frieden braucht und bringt Gerechtigkeit, Gerechtigkeit braucht und bringt Demokratie, Demokratie braucht und bringt Mündigkeit, Mündigkeit braucht und bringt Aufklärung, Aufklärung braucht und bringt Freiheit, Freiheit braucht und bringt Menschlichkeit. In diesem Kreis von Grund-Werten sind genügend Ansatzpunkte für eine sinnvolle Lebensgestaltung enthalten.

Eine Kirche, die wirklich ehrlich dem Heil der Welt dienen will, nicht nur von denen, die ihr angehören oder von ihr leben, sondern dem Heil aller Menschen, der ganzen Menschheit, eine solche Kirche kann nicht länger festhalten an alten, überholten Vorstellungen, die kann nicht nur Reformen wollen, die muß sich radikal, von der Wurzel her umorientieren und umformen, die muß Transformation wollen. Eine solche wahrhaftige Kirche wird ehrlich gegenüber sich selbst sein und erkennen, daß auch in ihren eigenen Reihen der Mensch das Problem ist - und die Lösung.

"...einer der Wege, die zum  w a h r e n  Menschsein führen, besteht in dem Bemühen, aus der Anerkennung der Wahrheit Lust zu schöpfen anstatt aus dem Glauben an schöne, aber falsche Vorstellungen. Man muß sich von Vorurteilen, seien sie nun idealistischer oder religiöser Art, zu seinem eigenen Wohle, zum Wohle unserer Kinder und zum Wohle unserer Mitmenschen befreien", sagte der Naturwissenschaftler Herbert James Campbell.

Die Aufgabe jedes Christen guten Willens muß es von nun an sein, ein wahrhaftiger und universeller Mensch zu werden, der sich allein an der Menschlichkeit orientiert, und alles aufzugeben, was ihn daran hindert, angefangen bei den trennenden, von anderen Menschen abgrenzenden Bezeichnungen wie katholisch, evangelisch, orthodox, anglikanisch, apostolisch, griechisch, römisch, alt- und neu-, und schließlich auch christlich.

"Wahrhaftigkeit ist das Fundament des geistigen Lebens. Durch seine Geringschätzung des Denkens hat unser Geschlecht den Sinn für Wahrhaftigkeit und mit ihm auch den für Wahrheit verloren. Darum ist ihm nur dadurch zu helfen, daß man es wieder auf den Weg des Denkens bringt. Es wird unbegreiflich bleiben, daß unser durch Errungenschaften des Wissens und Könnens so groß gewordenes Geschlecht so herunterkommen konnte, auf das Denken zu verzichten.

Die Philosophie gab den Zusammenhang mit dem im Menschen natürlich vorhandenen Suchen nach Weltanschauung preis und wurde zu einer Wissenschaft von der Geschichte der Philosophie. Das geistige und materielle Elend, dem sich unsere Menschheit durch den Verzicht auf das Denken und die aus dem Denken kommenden Ideale ausliefert, stelle ich mir in seiner ganzen Größe vor. Als unverlierbaren Kinderglauben habe ich mir den an die Wahrheit bewahrt.

Ich bin der Zuversicht, daß der aus Wahrheit kommende Geist stärker ist als die Macht der Verhältnisse. Finde ich Menschen, die sich gegen den Geist der Gedankenlosigkeit auflehnen und als Persönlichkeiten lauter und tief genug sind, daß die Ideale ethischen Fortschritts als Kraft von ihnen ausgehen können, so hebt ein Wirken des Geistes an, das vermögend ist, eine neue Gesittung in der Menschheit hervorzubringen.

Weil ich auf die Kraft des Geistes und der Wahrheit vertraue, glaube ich an die Zukunft der Menschheit. - Jede tiefere Religiosität wird denkend, jedes wahrhaft tiefe Denken wird religiös," das sagte uns der Arzt und Theologe Albert Schweitzer.

Wenn es heute einen Glauben gibt, der uns Erlösung bringen kann, dann nicht zuerst an Gott oder an Wirtschaftswachstum, sondern vor allem an die Bildungsfähigkeit des Menschen zu einem sozial und ökologisch handelnden, mündigen Gemeinschaftswesen und daran, daß die Natur den Menschen nicht braucht, wohl aber der Mensch die Natur.

Nur eine Kirche, die sich nicht bereits durch ihre Bezeichnung 'christlich' in sektiererischer Weise von allen anderen Menschen selbst abspaltet, sondern die sich an der universellen Menschlichkeit, am Ideal vom verantwortlichen Menschentum orientiert, nur solch eine humanistische Kirche wird wirklich zum Heil der Welt beitragen können."

Das würde heute ein Martin Luther sehr wahrscheinlich sagen.

Rudolf Kuhr

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Humanistische AKTION
7/1996,2

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Aktualisiert am 25.10.11