Humanistisch orientieren -
sinnvoll leben!
Über Intelligenz, Weltanschauung und
Identität
Sinnvoll zu leben, das ist wohl das Wichtigste, was ein Mensch erstreben
kann. Und das ist es vermutlich auch, was die meisten Menschen - vielleicht
mehr unbewußt als bewußt - suchen: ein sinnvolles Leben. Dazu
müßte allerdings der Sinn des Lebens klar erkannt werden. Ist
das nicht der Fall, suchen viele eher nach Glück, nach Wohlbefinden,
und sie verfallen dann irgendeiner der vielen Süchte, und seien es auch
nur die harmloseren Formen wie Sammlerleidenschaft, Konsumrausch, Arbeitssucht
oder ein irrationaler Glaube.
Vielleicht ist auch eine Antwort auf diese uralte Frage nach dem Sinn des
Lebens, die sich aus der Naturerkenntnis ergibt, zu einfach, als daß
man sie anerkennen möchte entsprechend dem Motto "das kann doch nicht
alles sein!". - Schon die alten griechischen Philosophen fragten: "Wo kommen
wir her, wo gehen wir hin, wie sollen wir leben?", vermutlich weil sie den
Anspruch hatten, nicht nur irgendwie angenehm, sondern sinnvoll zu leben.
Und Goethe sagte: Ist denn so groß das Geheimnis,
was Gott und die Welt und der Mensch sei? Nein, doch niemand hört's
gerne - da bleibt es geheim. Was mag uns der Dichter damit gesagt
haben wollen? Vielleicht folgendes:
Das ist im Grunde alles was wir an existentiell Bedeutsamem erkennen
können, und deswegen hört's vermutlich niemand gerne. Denn wohl
niemand hört es gerne, daß er vergänglich ist, daß
er verhältnismäßig bedeutungslos ist, daß er den Sinn
des Ganzen nicht erkennen kann. - Hört es wirklich niemand gerne? Sicher
gibt es einige wenige, die lieber diese nüchterne Wahrheit hören,
als angenehmeren aber zweifelhaften Vorstellungen anzuhängen. Aber um
diese nüchterne Wirklichkeit zu ertragen, bedarf es einer gewissen inneren
Sicherheit. Und hier liegt das wesentliche Problem der Menschen.
Zwei grundsätzlich unterschiedliche Wege gibt es, um diese innere Sicherheit
zu erreichen:
1. Ich versuche, die Erkenntnis zu akzeptieren, daß ich sterblich
und verhältnismäßig unbedeutend bin, daß ich angewiesen
bin auf meine Mitmenschen und auf die Natur, und ich versuche, das Beste
daraus zu machen, indem ich an meiner Vervollkommnung arbeite, an der
menschlichen Gemeinschaft und an der Erhaltung der Natur.
2. Ich versuche, die Vorstellung zu haben, daß es das ewige
Leben gibt, daß ich von einem Gott auserwählt worden bin und mit
seiner Hilfe rechnen kann, und ich versuche, diese Wunschvorstellung zu festigen
und zu verwirklichen, indem ich nach Beweisen für die Richtigkeit meiner
Vorstellungen suche, auf Unterstützung derselben durch andere hoffe
und mich nach der von mir oder von anderen gestalteten Vorstellung von Gottes
Willen richte.
Der erste Weg ist der überwiegend realistische, er entspricht einem
erwachsenen, mündigen Menschen, der in der Lage und bereit ist,
Verantwortung für sich und für seine Mitwelt zu übernehmen.
Dieser erste Weg enthält sowohl die Arbeit an der eigenen Person als
auch die an der Mitwelt, bestehend aus menschlicher Gemeinschaft und Natur.
Er kann und muß zur menschenwürdigen Lebens-Orientierung auch
idealistische Gesichtspunkte wie ethische Ideale enthalten; die realistischen,
Mensch und Natur betreffenden Dinge stehen jedoch im Vordergrund.
Der zweite Weg ist der überwiegend idealistische, er entspricht eher
einem nicht erwachsenen, einem unmündigen Menschen, der vielleicht in
der Lage, jedoch nicht ganz bereit ist, die volle Verantwortung für
sich selbst und eine Mitverantwortung für seine Mitwelt zu übernehmen,
sondern zumindest einen Teil der Verantwortung für sich und seine Mitwelt
einem Gott überläßt. Dieser zweite Weg kann durchaus die
Gesichtspunkte des realistischen Weges enthalten, er läßt jedoch
erfahrungsgemäß leichter die Gefahr zu, sich selbst und andere
zu täuschen und die Realität zu vernachlässigen. Hier dominiert
meist Gott, das heißt, eine individuelle, menschliche Wunschvorstellung
über die Wirklichkeit von Mensch und Natur.
Während der erste, der direkte Weg klare und konkrete Vorgaben hat,
bestehen bei dem zweiten, dem indirekten, über Gott führenden Weg
sehr individuell verschieden auslegbare Möglichkeiten, z.B. der
persönlichen Auslegung des Willens Gottes.
Der direkte Weg beruht auf einer Erkennnis vom Sinn des Lebens, die sich
aus der realen, erkennbaren Natur ableitet: Der Mensch ist ein Teil der Natur
und der Sinn seines Lebens ist die Vervollkommnung seiner individuellen
Persönlichkeit. Genau so wie eine Blume sich gemäß ihren
vererbten Anlagen und den sie umgebenden geologischen und klimatischen
Bedingungen bestmöglich entfaltet, ist es die von der Natur aus vorgegebene
Aufgabe des Menschen, sich entsprechend seiner Anlagen und Mitweltbedingungen
zu entwickeln und zu entfalten. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.
In dieser natürlichen Auffassung vom Sinn des Lebens ist so viel an
Aufgaben enthalten, daß ein befriedigendes, menschenwürdiges und
erfülltes Leben gewährleistet ist, auch ohne die Möglichkeit
eines Lebens vorher oder nachher, mit einem oder mehreren Göttern. Hier
in Verbindung mit der konkreten Natur wird die Bildung tragfähiger
Identität ermöglicht, und nicht mit anzweifelbaren Wunschvorstellungen.
Warum lebt man nicht überwiegend nach dieser Sinnvorgabe?
Offensichtlich fehlt es an mündigen, wirklich erwachsenen Menschen,
die fähig und bereit sind, sich selbst zu hinterfragen. Noch immer werden
die meisten Kinder sehr früh zum Glauben an einen Gott erzogen und so
daran gehindert, auch religiös mündig zu werden.
Man sollte es sich zur heiligsten Pflicht machen,
dem Kinde nicht zu früh einen Begriff von Gott beibringen zu wollen.
Die Forderung muß von innen heraus geschehen, und jede Frage, die man
beantwortet, ehe sie aufgeworfen ist, ist verwerflich. Das Kind hat vielleicht
seine ganze Lebenszeit daran zu wenden, um jene irrigen Vorstellungen wieder
zu verlieren. (Friedrich von Schiller)
So ist es auch möglich, daß die überwiegende Zahl der Politiker,
ansonsten sehr realitätsbezogene Menschen, noch heute ihren Amtseid
mit dem Zusatz "...so wahr mir Gott helfe" ergänzen.
Sie sind innerlich gespalten und befinden sich damit - was die Religion betrifft
- noch in einer kindlichen Phase. Der Mensch echt
religiöser Kulturen könnte vielleicht mit einem Kind von acht Jahren
verglichen werden, das einen Vater als Retter braucht, das jedoch angefangen
hat, die Lehren und Prinzipien des Vaters in sein Leben zu übernehmen.
Der zeitgenössische Mensch ähnelt jedoch einem Kind von drei Jahren,
das nach dem Vater ruft, wenn es ihn braucht, und sonst zufrieden ist, wenn
es spielen kann. (Erich Fromm)
Diejenigen Verantwortung tragenden Intellektuellen, die sich zu keiner Konfession
bekennen, scheinen sich zumindest in einer pubertären Phase zu befinden,
was ihre Weltanschauung betrifft, denn sie haben oftmals überhaupt kein
konkretes Lebenskonzept, zu dem sie sich bekennen, und das ihnen zu einem
konstruktiven, sozialen Handeln oder zu gesellschaftlich integrativen Konzepten
verhelfen könnte.
Ähnlich pubertierenden Jugendlichen, die meist mehr von ihrem Elternhaus
fordern als sie diesem zu geben bereit und in der Lage sind, verhalten sich
viele Intellektuelle gegenüber der Gesellschaft, sie leben von der
gesellschaftlichen geistig-strukturellen Substanz, ohne über ihre
materiellen Leistungen in Form von Steuern hinaus etwas Konstruktives oder
Innovatives zu deren Erhalt oder Stabilisierung zu tun. Und sie wehren sich
- auch hier wieder mit pubertierenden Jugendlichen vergleichbar - gegen jegliche
einschränkenden Bindungen und Verpflichtungen.
Dies ist angesichts der von Kindheit an erhobenen ständigen Forderungen
in Elternhaus, Schule und Erwerbsleben durchaus verständlich. Im
Erwachsenenalter würde es jedoch der Mündigkeit entsprechen, sich
von anerzogenen Zwängen zu befreien, und sich aus Einsicht freiwillig
in sinnvolle, gesellschaftlich notwendige geistige Strukturen einzuordnen.
Es ist schon sehr erstaunlich, ja erschütternd, daß selbst
hochintelligente Menschen, die sich auf Teilgebieten mit großen Leistungen
hervorgetan haben, am Ende ihres Lebens öffentlich bekennen, nie über
den Sinn des Lebens nachgedacht zu haben. Sie
setzen ein individuelles Wohlbefinden und Freiheit als höchsten Wert
und wehren sich gegen ein Bekenntnis weltanschaulicher Art. Manche
verkünden sogar stolz, an nichts zu glauben. Auch äußern
sie sich mitunter enttäuscht von der Politik und den Politikern, anscheinend
ohne sich dabei klar zu sein, wie unrealistisch sie sich damit zeigen, denn
nur ein naiver Mensch kann in einer Demokratie von Politikern mehr erwarten
als es das gesellschaftliche Bewußtsein zuläßt.
Angesichts dieser weltanschaulichen Einstellungen von religiös bekennenden
einerseits und weltanschaulich indifferenten Intellektuellen andererseits
kann es also nicht verwundern, wenn selbst hochzivilisierte Gesellschaften,
so wie die Menschheit insgesamt, sich nach Jahrtausenden kultureller Entwicklung
noch immer unmündig verhalten, Konflikte gewaltsam austragen und ihre
Umwelt zerstören. Insgesamt gesehen verhält sich die Menschheit
wie ein Bakterienstamm, der sich so lange vermehrt bis seine Lebensgrundlagen
verbraucht sind. Dies mag vielleicht natürlich sein, denn der Mensch
ist ein Teil der Natur, menschenwürdig ist es ganz sicher nicht.
Deshalb sind die sich für mündig haltenden Menschen jetzt aufgefordert,
diesen Anspruch auf Mündigkeit unter Beweis zu stellen, indem sie sich
von bequemen aber unmündigen Glaubensvorstellungen beziehungsweise von
ihrer weltanschaulichen Unverbindlichkeit trennen und sich zum Humanismus
bekennen und kooperativ verhalten. Unsere Gesellschaft kann insgesamt nur
so mündig sein, wie es ihre führenden und mitgestaltenden
Intellektuellen sind. Diese sind allein schon durch ihre intellektuellen
Fähigkeiten aber auch im eigenen Interesse zur Übernahme von
Mitverantwortung verpflichtet und aufgerufen, sich ständig selbst am
Maßstab der Mündigkeit zu messen.
Mündigkeit bedeutet mehr als nur
Volljährigkeit. Mündigkeit heißt,
eine kritische
Distanz nicht nur zu seiner Mitwelt, sondern auch zu sich selbst zu haben,
für sich
selbst voll- und für seine Mitwelt mitverantwortlich sein zu können
und zu wollen.
Bekenntnisse zu einem religiösen Glauben, zur Toleranz, zur Freiheit,
zur Demokratie und zu den Menschenrechten reichen heute nicht mehr aus, wie
die Praxis zeigt. Es muß etwas Verbindendes, Vereinendes,
Zusammenführendes dazukommen, was die individualisierende,
friedensgefährdende Aufspaltung in religiöse, ethnische und
wirtschaftliche Interessengruppen übersteigt, um eine universelle geistige
Grundlage verantwortlicher Menschlichkeit zu schaffen.
Dies könnte mit einem Bekenntnis zum Humanismus
geschehen. Humanismus neuer Auslegung als Bekenntnis zum Menschentum verstanden,
wäre Weg und Ziel in einem, es enthält die Verbundenheit sowohl
zum Organismus der menschlichen Gemeinschaft, dessen Teil der einzelne Mensch
ist, als auch die Verbundenheit zum Organismus der Natur, deren Teil wiederum
die Menschheit ist.
Orientierung am Humanismus würde am ehesten
ein Ausweichen auf Gebiete, die außerhalb des Menschen liegen, erschweren
und eine Arbeit am Menschen zur Stabilisierung des schwächsten Gliedes
allen Lebens auf dieser Welt fördern. Da die Ursache fast aller Probleme
unserer Welt der instabile, in sich selbst unsichere Mensch ist, hat eine
ursächliche Lösung am ehesten bei der psychischen
Stabilisierung des Menschen eine Aussicht auf
Erfolg.
Humanismus, bisher lediglich als schulische Bildungsrichtung und geschichtliche
Epoche der Aufklärung verstanden, kann in einem neuen, umfassenden
Verständnis als ein Ideal vom Menschentum zu einer, Christentum, Judentum,
Deutschtum und andere abgrenzende Gruppierungen ablösenden,
übergeordneten, alle Menschen dieser einen Welt vereinenden Orientierung
werden.
Rudolf Kuhr
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43 wesentlichen Seiten dieser Homepage -
in dem Handbuch 'Wachstum an Menschlichkeit - Humanismus als Grundlage'
siehe Info.
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Gebrauchsanweisungen
Als mir auffiel
daß meine Eltern
mir zwar das Leben geschenkt hatten
dabei aber die Gebrauchsanweisungen
vergessen hatten
war ich echt sauer
ich geriet aber in Panik
als ich etwas später merkte
daß das Leben
das einzige Produkt ohne
Gebrauchsanweisungen ist!
Und seitdem drücke ich Knöpfe
drehe Knöpfe ziehe Knöpfe
und versuche
Leben zu spielen
soizic p. - 9.4.81
taz 26.06.81
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Die Bedeutung der Sinnfrage an einem
Beispiel aus dem realen Leben
Wie sehr auch junge Menschen der Hilfestellung bedürfen,
wurde mir schmerzlich erlebbar, als ich während der frühen sechziger
Jahre Abiturientenklassen auf die Reifeprüfung vorzubereiten hatte.
Unter anderem sprach ich mit ihnen über philosophische Fragen, insbesondere
über die Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens, also des Sinns des
gemeinschaftlichen Lebens der Menschheit in Wechselbeziehung mit der
individuellen Lebensgestaltung. Ein sich durch große Diskutierfreude
und kluge Fragestellungen auszeichnender Schüler stellte in diesen
Zusammenhängen, gewissermaßen für sich resümierend,
fest, und das kann ich auch heute noch beinahe wörtlich genau wiedergeben:
"Wissen Sie, die Masse der Menschen lebt glücklich dumm dahin. Wer aber
ein wenig tiefer eindringt in die Frage nach dem Sinn des Lebens, für
den gibt es eigentlich nur eine Alternative: entweder ein Leben in Genusssucht,
ein exzessives Leben also oder Selbstmord." Meine betroffen-spontane Gegenfrage,
wozu er sich angesichts dieser Erkenntnis entschieden habe, beantwortete
er mit dem Bemerken, er sei noch am Nachdenken. Einer seiner engsten Freunde
sekundierte ihm. Wir debattierten weiter, insbesondere darüber. Wenige
Wochen später hatte er sich in der elterlichen Wohnung mit Gas vergiftet.
Sein Grabstein trägt neben den persönlichen Daten die Inschrift:
"Wer denkt stirbt." Viele Einzelheiten sind mir inzwischen in Vergessenheit
geraten, das Ereignis selbst hat mich jedoch tief bewegt, es berührt
mich auch heute noch. Seither messe ich dieser Fragestellung nach dem Lebenssinn
große Bedeutung zu und bemühe mich stetig um klärendes Bedenken
und Sprechen.
Quelle: Wolfgang Kaul: 'Freies Denken als Inhalt weltlicher
Bestattungskultur' in KRISTALL 3/01
siehe
auch Abschiedsbrief eines 18jährigen
Amokschülers
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5/1995,5
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