Einladung zu verantwortlicher Menschlichkeit

von Rudolf Kuhr       

Nachdem das Christentum und andere Heilslehren oder Ideologien unserer Welt bisher nicht das Heil - eher das Gegenteil - gebracht haben, wäre es da nicht höchste Zeit für eine neue Orientierung? Was fehlt denn unserer Welt? Fehlt es an Wissen? Fehlt es an Geld? - Es fehlt wohl vor allem an verantwortlicher Menschlichkeit!

Auf den Gebieten der Naturwissenschaften, der Medizin, der Technik, der Wirtschaft sind enorme Fortschritte erzielt worden. Im menschlichen Bereich dagegen scheinen wir stehengeblieben zu sein oder gar zurückzufallen. Wir zerstören unaufhaltsam unsere Natur und damit die Lebensgrundlagen unserer Kinder. Die Kluft zwischen Arm und Reich nimmt zu, entsprechend die Gewalt, bereits unter Kindern. Die Menschheit scheint trotz aller Fortschritte immer unmenschlicher zu werden.

Wäre es da nicht logisch und sinnvoll, sich direkt an dem, was fehlt und was für ein sinnvolles Leben am wichtigsten ist, nämlich an verantwortlicher Menschlichkeit zu orientieren, anstatt an fragwürdigen religiösen oder ideologischen Wegen, die immer wieder in Sackgassen und zum Verlust an Menschlichkeit führen?

Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln möchte, für den ist kein Wind ein günstiger.
Seneca, Philosoph (um 4 v.-65 n.u.Z.)

Seit Jahrtausenden sind die verschiedensten Segelboote in Form von sogenannten Religionen und Ideologien mit den schönsten Namen unterwegs. Sie fahren emsig umher, offenbar ohne den Hafen zu kennen. Sie dienen nicht dem Heil der Menschheit, wie sie vorgeben, sondern der Mensch dient ihnen, er instrumentalisiert sie und macht sie zum Selbstzweck. Sie konkurrieren miteinander oder bekämpfen sich gar. Und die Gefahr der Zerstörung unserer Welt wird immer größer.

Ist denn so groß das Geheimnis, was Gott und die Welt und der Mensch sei? Nein, doch niemand hört's gerne - da bleibt es geheim, sagte Goethe. Warum hört's niemand gerne? Wahrscheinlich weil es unbequem ist. Weil es den Menschen auf sich selbst zurückverweisen, weil es zur Arbeit an der eigenen Person führen würde. Darum machte man das Boot und den Weg zum Ziel, zum Fetisch und zur Droge, an die man beispielsweise durch die Kindes-Taufe bereits Säuglinge gewöhnt. Darum reduzierte die Kirche den Begriff Religion, der ja im Grunde Achtsamkeit und eher ein Hinterfragen als ein Glauben, gar an etwas Zweifelhaftes bedeutet, bequemerweise zur Konfession. Solch grundlegende Verfälschungen, die Gewöhnung an sie und deren Weitergabe sind Ursache für Selbsttäuschung, innere Unsicherheit, Zwiespältigkeit, Unwahrhaftigkeit und nicht selten auch für psychische und physische Gewalt. Der Mensch echt religiöser Kulturen könnte vielleicht mit einem Kind von acht Jahren verglichen werden, das einen Vater als Retter braucht, das jedoch angefangen hat, die Lehren und Prinzipien des Vaters in sein Leben zu übernehmen. Der zeitgenössische Mensch ähnelt jedoch einem Kind von drei Jahren, das nach dem Vater ruft, wenn es ihn braucht, und sonst zufrieden ist, wenn es spielen kann, sagte Erich Fromm. Wenn wir die Zukunft unserer Kinder und der Welt nicht weiter aufs Spiel setzen wollen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als uns erwachsener, mündiger als bisher zu verhalten. So wie sich manche Verantwortlichen, manche Menschengruppen und die Menschheit insgesamt verhalten, kann man sie kaum als mündig bezeichnen. Die meisten Politiker fügen ihrem Amts-Eid noch immer die Formel "so wahr mir Gott helfe" hinzu! Sie und viele Intellektuelle sind oft nicht fähig, ihr eigenes Verhalten zu beobachten, sie verhalten sich mitunter kindlich, pubertär, narzißtisch und nicht selten fast autistisch.

Mündigkeit bedeutet mehr als nur Volljährigkeit. Mündigkeit heißt, eine kritische
Distanz nicht nur zu seiner Mitwelt sondern auch zu sich selbst zu haben, für sich
selbst voll- und für seine Mitwelt mitverantwortlich sein zu können und zu wollen.

Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren. Was sie willenlos ist, sei du es wollend; - das ist's, sagte Friedrich Schiller. Die Pflanze kommt je nach Anlage und Umweltbedingungen zu größtmöglicher Entfaltung. Und für den Mensch gilt im Grunde auch nicht mehr, sondern im Prinzip dasselbe. Der Mensch ist ein vergängliches Lebewesen wie die Pflanze und entfaltet sich je nach Fähigkeit und Umweltbedingungen zu größtmöglicher Vollkommenheit. Das Mindeste ist im Normalfall Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Mündigkeit in aktiver Verbundenheit zu seiner Mitwelt, deren Teil er ist.

In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
 
Johann Wolfgang von Goethe

Wer sich wie ein erwachsener, mündiger, verantwortungsbewußter, redlicher Mensch guten Willens verhalten will, der kommt nicht daran vorbei, Abschied zu nehmen von bequemen aber unrealistischen Wunschvorstellungen wie einer Vorrangstellung gegenüber anderen Lebewesen, einer außerirdischen Hilfe oder gar einer Unsterblichkeit. Der muß sich verantwortliche Menschlichkeit zu seiner übergeordneten Orientierung wählen, sich öffentlich dazu bekennen und über die Gefahren geistiger Drogen aufklären. Orientierung am Humanismus oder Menschentum führt den Menschen zu sich selbst als Teil seiner Mitwelt und gibt ihm Sinn und Aufgabe, so daß man sagen kann:

Humanismus - die neue frohe Botschaft!      

Humanismus, bisher allgemein lediglich als schulische Bildungsrichtung oder als geschichtliche Epoche der Aufklärung bekannt, kann uns heute als ein Ideal vom universellen Menschentum zur allem anderen übergeordneten ethischen Orientierung dienen, die alle Menschen dieser einen Welt vereint. Das geringste, was ein mündiger Mensch konkret zur Verbesserung der Menschlichkeit beitragen kann und sollte, wenn er diese Bezeichnung für sich in Anspruch nehmen will, ist, mit der eigenen, geistigen Auseinandersetzung mit diesem Ideal des neu und ganzheitlich verstandenen Humanismus zu beginnen, soweit noch nicht geschehen. Weitere mögliche Schritte sind:
 

  • Sich selbst in seinem Denken und Handeln an diesem Ideal zu orientieren und von kindlichen, unrealistischen Wunschvorstellungen zu verabschieden.

  • Sich öffentlich bei allen passenden Gelegenheiten persönlich zu diesem Ideal mündlich und schriftlich zu bekennen, (man kann beispielsweise, nach der weltanschaulichen Orientierung gefragt, anstatt Christentum, Atheismus, Liberalismus usw. den Humanismus nennen).

  • Verbreiten von Informationen über dieses Ideal vom Humanismus (z.B. durch Beilegen entsprechender Schriften zur Korrespondenz, durch Schreiben eigener Beiträge zu diesem Thema, durch Leser-, Hörer- und Zuschauerbriefe an Multiplikatoren in den Medien, durch Denkanstöße an Politiker, Schriftsteller, Künstler und andere Persönlichkeiten.

  • Förderung humanistischer Bestrebungen durch Mitarbeit und finanzielle Unterstützung.

  • Gründung eigener Initiativen.

Und obwohl uns Goethe gemahnt: Alles opponierende Wirken geht auf das Negative hinaus und das Negative ist nichts. Wenn ich das Schlechte nenne, was ist da viel gewonnen? Nenne ich aber das Gute schlecht, so ist viel geschadet. Wer recht wirken will, muß nie schelten, sich um das Verkehrte gar nicht kümmern, sondern nur immer das Gute tun. Denn es kommt nicht darauf an, daß eingerissen, sondern daß etwas aufgebaut werde, obwohl uns Goethe also damit mahnt, so ist es doch nötig, über das Aufbauende hinaus Aufklärung und auch Kritik da zu betreiben, wo man sich andernfalls einer unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen würde. Zum Beispiel, wenn Kinder an der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit gehindert werden, wie dies durch Kirchen und auch Schulen geschieht. Oder wenn Medien wie das Fernsehen die Zuschauer durch anspruchslose Unterhaltung und Gewinnspiele zur Abhängigkeit verführen.

Menschen, die sich mündig, und Regierungen, die sich demokratisch nennen, sollten Einmischung nicht nur erdulden, sondern sich wünschen. Ein Glaube wird ja nicht dadurch gefestigt, daß man den Zweifel verhindert, sondern dadurch, daß man ihn zuläßt. Der Zweifel ist kein angenehmer Zustand. Gewißheit jedoch ist ein lächerlicher Zustand, und Es gibt ein Recht auf Blasphemie, sonst gibt es keine Freiheit, sagte Voltaire. Aber Es ist nicht genug, zu wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muß auch tun, sagte Goethe. Denn: Ich habe Leute gekannt von schwerer Gelehrsamkeit, in deren Kopf die wichtigsten Sätze zu Tausenden selbst in guter Ordnung beysammen lagen, aber ich weiß nicht, wie es zuging, ob die Begriffe lauter Männchen oder lauter Weibchen waren, es kam nichts heraus. In einem Winkel ihres Kopfes lag Schwefel, im anderen Kohlenstaub, im dritten Salpeter genug, aber das Pulver hatten sie nicht erfunden, so Georg Christoph Lichtenberg.

Darum: Wer weiterlebt wie bisher, hat nicht begriffen, was droht; es nur intellektuell zu denken, bedeutet nicht, es auch in die Wirklichkeit seines Lebens aufzunehmen, so Karl Jaspers. Und Voltaire: Ich werde mich solange wiederholen, bis man mich verstanden hat. Diese Gedanken sollten wir beherzigen, wenn es um die Verbreitung des Ideals vom Humanismus als ganzheitliche Orientierung geht.

Wenn es heute einen Glauben gibt, der vertretbar ist, dann ist es
der Glaube an die Bildungsfähigkeit des Menschen zu einem sozial
und ökologisch handelnden, mündigen Gemeinschaftswesen und daran,
daß die Natur den Menschen nicht braucht, wohl aber der Mensch die Natur.
 

Unser grundlegendes Problem und seine Lösung ist der Mensch. Nicht Ausbildung, sondern Menschenbildung ist vorrangig erforderlich. Dazu braucht es eine entsprechende Orientierung.

Humanismus - ethische Orientierung mündiger Menschen!

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11/1995,4
 
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Aktualisiert am 25.04.09