Alte und neue Orientierungen

Christentum - Atheismus - Agnostizismus - Humanismus  
 
Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe,
mit denen man die Dinge bewegen kann.  
Bertolt Brecht, Dichter (1898-1956). 

Unser Bewußtsein wird bis zu einem gewissen Grad der Entwicklung zunächst überwiegend vom Sein bestimmt, später bestimmt je nach Bildungsstand das Bewußtsein das Sein, zumindest mit. Im Gegensatz zum Tier, das, nach allem was bisher erkennbar ist, wohl ausschließlich von Instinkt gesteuert wird und so in einem heilen, ganzheitlichen Verhältnis mit der Natur lebt, wird der Mensch, außer von seinen natürlichen Urtrieben, hauptsächlich von seinem Geist gesteuert, der ihn naturgegeben von dieser Natur trennt und überwiegend aus dem kollektiven Bewußtsein gespeist wird.

Mit sogenannten Religionen oder richtiger, Konfessionen, das heißt Bekenntnissen zu Ideen- oder Heilslehren, wird versucht, zu einer ethischen Orientierung zu gelangen, die den Menschen zu sinnvoller Lebensgestaltung und zum Heil verhilft, was immer auch darunter zu verstehen sein mag. Unsere Gesellschaft ist seit Jahrhunderten vom Christentum geprägt. Seine einseitige gesellschaftliche Vormachtstellung, seine zwangsweise Verbreitung, seine jenseitige Orientierung, seine individuell beliebig auslegbaren und anwendbaren, teilweise überalterten, lebensfremden Formen und Inhalte sowie seine Widersprüchlichkeiten lassen seinen Einfluß zunehmend schwinden.

Christentum orientiert sich vom Begriff her an Christus. Orientierung am Christentum entsteht überwiegend durch frühzeitiges Gewöhnen daran und aus dem dadurch entstehenden - meist unbewußten - Wunsch nach einer äußeren Führung und nach Identität durch das Abgrenzen von Menschen anderen Glaubens. In seiner Anwendung führt das Christentum zunächst hin zur Person des Jesus als Christus, dem Messias, dem Gesalbten, König, Herrn, Erlöser, Heiland, Hirten, Retter oder Führer, es führt zur Beschäftigung mit Christus, mit seiner Geschichte und seinen Vorstellungen, zu seiner Erforschung, Interpretation, Verehrung, Anbetung, seltener zur Befolgung seiner Empfehlungen, wie das beispielsweise bei den Verboten des Schwörens und öffentlichen Betens deutlich wird.

Zum Heil führt das Christentum in der Praxis nur bei sehr wenigen. Bei den meisten Menschen führt es hingegen zu einer verhängnisvollen, weil entmündigenden Abhängigkeit und Selbsttäuschung, es vertieft und verfestigt eine innere Spaltung zwischen kindlichem Wunsch nach göttlicher Hilfe und erwachsener Wirklichkeit und schafft durch diese seelische Gespaltenheit die Gewöhnung an Verdrängung und Unwahrhaftigkeit, es legt so den Keim zum Unfrieden bis hin zur Gewalt gegen sich und andere. Das christliche Glaubensfundament erweist sich in der Praxis leider als Luftschloß, das für eine demokratisch verfaßte Gesellschaft, in der selbst- und mitverantwortliche, mündige Menschen gebraucht werden, keine sichere Grundlage bietet.

Atheismus orientiert sich vom Begriff her an der Ablehnung Gottes. Orientierung am Atheismus entsteht meist durch den - ebenso meist unbewußten - Wunsch nach Befreiung von Zwängen durch reale und imaginäre Autoritäten, denen man sich noch unterlegen fühlt. In der Anwendung bedeutet der Atheismus nicht nur ein persönliches Bekenntnis zum Nichtglauben an einen Gott, sondern er führt leider meist auch zur Ablehnung der Menschen, die noch in irgendeiner Weise an einer Gottesvorstellung festhalten, er führt sogar sehr oft zur Verinnerlichung einer allgemeinen Anti-Haltung und behindert so konstruktives und integratives Verhalten gegenüber der Gesellschaft. Nicht selten besteht eine generelle Ablehnung des eigenen Staates und seiner Organe. Oft wird der Atheismus an Stelle eines positiven Bekenntnisses genannt. Bei vielen, die sich als Atheisten bezeichnen, beschränkt sich die ethische Orientierung lediglich auf Menschrechte, was für eine sinnvolle Lebensgestaltung nicht ausreichen kann. Dem entsprechend gering ist aus diesen Kreisen der Beitrag zu einer, über die Forderung an den (Vater) Staat nach Bewahrung der Rechtssicherheit hinausgehenden, humanisierenden Mitgestaltung und Weiterentwicklung der Gesellschaft.

Agnostizismus orientiert sich vom Begriff her an der Begrenztheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit. Die Orientierung am Agnostizismus entsteht meist durch vorbehaltlose Suche nach Erkenntnis der Wahrheit. Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann. (Immanuel Kant, 1724 - 1804). In der Anwendung dient der Agnostizismus zur Vorbeugung gegen Überheblichkeit, er führt zur Bescheidenheit und zur Beschränkung auf das Reale, auf das Wesentliche und ist so eine wichtige Voraussetzung zur Wahrhaftigkeit. Im Vergleich zum Atheismus kann er allenfalls zur Bequemlichkeit führen, weniger jedoch zum fanatischen Extremismus als dieser; er steht deshalb dem Humanismus näher, auch weil er nichts beweisen muß und offen sein kann für mögliche neue Erkenntnisse. Der Agnostizismus reicht für eine ethische Orientierung nicht aus, eher verlangt er danach.

Humanismus orientiert sich vom Begriff her am Ideal vom verantwortlichen Menschentum. Orientierung am Humanismus entsteht meist durch den Wunsch nach Kenntnis vom Sinn des Lebens und nach Einbindung in das Ganze. In der Anwendung führt der Humanismus zur Beschäftigung mit dem Sinn menschlichen Lebens in seiner Verbundenheit mit der Natur, bei vermehrter Anwendung führt er über die individuelle Menschenbildung zu mehr Menschlichkeit in der Gesellschaft, und bei konsequenter Anwendung über die individuelle Heilung des Menschen zur Heilung der Welt.

Nachdem bisher wohl am meisten das Christentum sowie andere sogenannte Religionen oder richtiger, Glaubenslehren, Konfessionen, mit ihren individuell beliebig interpretierbaren Gottesvorstellungen und andererseits der Atheismus mit seinen individuellen, beliebig anderweitigen, meist materialistischen Orientierungen die Menschen ethisch geleitet und beide offensichtlich dem Heil der Welt letztlich eher geschadet als genützt haben, wäre es doch eigentlich an der Zeit, sich näher mit Agnostizismus und Humanismus zu befassen und diese beiden Begriffe verstärkt in die öffentliche Diskussion zu bringen.

Vielleicht lassen sich mit diesen bisher noch wenig verwendeten wörtlichen (Be-)Griffen die Dinge hin zu einem Besseren bewegen. Vielleicht lassen sich damit die eigentlichen humanistischen Inhalte aller sogenannten Religionen, ohne die abgrenzenden, konfessionellen Bezeichnungen besser anwenden. Vielleicht wird es dann in absehbarer Zeit statt den römisch-katholischen, evangelischen, neuapostolischen, alt-römischen, orthodoxen, griechisch-orthodoxen, anglikanischen, methodistischen, adventistischen und anderen Kirchen eine humanistische Kirche geben, die sich nicht mehr vor allem durch begriffliche Abgrenzung, sondern durch gelebtes Menschentum kennzeichnet, so daß sich dort auch Menschen anderer oder ohne Bekenntnisse wohlfühlen können.

Was wäre beim Verzicht auf trennende und stattdessen der Verwendung verbindender Bezeichnungen neben den äußerlichen Abgrenzungen und liebgewordenen Gewohnheiten (und vielleicht auch Bequemlichkeiten) zu verlieren? Wären ein solcher Verzicht und eine Neuorientierung auf den eigentlichen, den humanistischen Inhalt aller Religion für verantwortliche, mündige Menschen wirklich guten Willens nicht eine not-wendige Pflicht?

Rudolf Kuhr

 

Den Inhalt dieser Seite gibt es jetzt - zusammen mit weiteren 43 wesentlichen Seiten dieser Homepage -
in dem Handbuch 'Wachstum an Menschlichkeit - Humanismus als Grundlage' siehe Info.

Bekenntnis

Ich bin bekennender Humanist und Mitglied im Humanistischen Verband Deutschland (HVD), also nicht konfessionslos. Ich bin auch kein Atheist, sondern ehrlicherweise Agnostiker und lasse somit offen, was ich nicht erkennen kann. Auch bin ich nicht unreligiös und kein Ungläubiger, denn ich sehe in dem Begriff Religion lediglich die Bedeutung Rückbindung als Sammelbegriff für unterschiedliche Heils- und Glaubenslehren, Konfessionen und deren verschiedene Organisationen. Ich binde mich zurück an den Humanismus als ethische Orientierung und glaube an die Bildungsfähigkeit des Menschen zu einem sozial und ökologisch handelnden, mündigen Gemeinschaftswesen und daran, daß die Natur den Menschen nicht braucht, wohl aber der Mensch die Natur. Ich glaube, der Sinn unseres Lebens ist größtmögliche Entfaltung und Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit in größtmöglicher Harmonie und Verbundenheit zu unserer Mitwelt. Mein höchster Wert ist Menschenwürde als verantwortliche Menschlichkeit.

Rudolf Kuhr

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Humanistische AKTION
8/1996,3

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Aktualisiert am 02.03.09