Credo eines Humanistenvon Erich Fromm
Zweites, zuletzt verfaßtes Glaubens-Bekenntnis (1965) Ich glaube, daß sich die Einheit des Menschen aus der Tatsache ergibt, daß der Mensch ein sich seiner selbst bewußtes Lebewesen ist. Darin unterscheidet er sich von anderen Lebewesen. Der Mensch ist sich seiner selbst bewußt: seiner Zukunft (das heißt der Tasache, daß er sterben muß), seiner Kleinheit und seiner Ohnmacht; er nimmt die anderen als andere wahr; er lebt in der Natur und ist ihren Gesetzen unterworfen, auch wenn er sie mit seinem Denken übersteigt. Ich glaube, daß der Mensch das Ergebnis einer natürlichen Evolution ist, die aus dem Konflikt entspringt, daß er in der Natur gefangen und gleichzeitig von ihr getrennt ist, und aus dem Bedürfnis, Einheit und Harmonie mit der Natur zu finden. Ich glaube, daß die Natur des Menschen in einem Widerspruch zu fassen ist, der in den Bedingungen der menschlichen Existenz wurzelt und eine Suche nach Lösungen notwendig macht, die ihrerseits neue Widersprüche und das Bedürfnis nach neuen Antworten erzeugen. Ich glaube, daß jede Antwort, die auf diese Widersprüche gegeben wird, die Voraussetzung erfüllt und dem Menschen hilft, sein Gefühl des Abgetrenntseins zu überwinden und ein Gespür der Zustimmung, der Einheit und der Zugehörigkeit zu erlangen. Ich glaube, daß der Mensch bei jeder Antwort, die er auf diese Widersprüche gibt, nur die Möglichkeit der Wahl hat, entweder vorwärts oder rückwärts zu gehen. Diese Wahlmöglichkeiten, die sich in bestimmten Handlungen manifestieren, sind die Wege, auf denen wir in unserem Menschsein regredieren oder progredieren. Ich glaube, daß der Mensch grundsätzlich die Wahl hat zwischen Leben und Tod, zwischen Kreativität und destruktiver Gewalt, zwischen Wirklichkeitssinn und Illusion, zwischen Objektivität und Intoleranz, zwischen brüderlicher Unabhängigkeit und einer Bezogenheit auf Grund von Über- und Unterordnung. Ich glaube, daß man dem Leben die Bedeutung andauernder Geburt und beständiger Entwicklung zuschreiben kann. Ich glaube, daß man dem Tod die Bedeutung des Endes von Wachstum beziehungsweise ständige Wiederholung zuschreiben kann. Ich glaube, daß der Mensch, der die regressive Antwort gibt, dadurch Einheit zu finden versucht, daß er sich von der unerträglichen Angst vor Einsamkeit und Unsicherheit zu befreien versucht, indem er das, was ihn menschlich macht und zum Problem wird, entstellt. Die regressive Orientierung entwickelt sich in drei Erscheinungsweisen, die getrennt oder im Verbund auftreten: in der Nekrophilie, im Narzißmus und in der inzesthaften Symbiose. Mit Nekrophilie meine ich die Liebe zu allem, was mit Gewaltanwendung und Destruktivität zu tun hat; den Wunsch zu töten; die Bewunderung von Macht; das Angezogensein vom Toten, vom Selbstmord, vom Sadismus; den Wunsch, Organisches mit Hilfe von "Ordnungschaffen" in Anorganisches zu verwandeln. Da dem Nekrophilen die erforderlichen Eigenschaften für Kreatives abgehen, ist es ihm in seiner Unfähigkeit ein leichtes, zu zerstören, denn für ihn dreht sich alles nur um Gewalt. Mit Narzißmus meine ich, daß der Mensch aufhört, ein lebendiges Interesse an der Außenwelt zu zeigen, und eine starke Bindung an sich selbst, an seine eigene Gruppe, an den eigenen Klan, die eigene Religion, Nation, Rasse usw. entwickelt. Dabei kommt es zu gravierenden Verzerrungen in seinem rationalen Urteilsvermögen. Ganz allgemein entsteht das Bedürfnis nach narzißtischer Befriedigung, wenn materielle und kulturelle Armut kompensiert werden muß. Mit inzesthafter Symbiose meine ich die Tendenz, an die Mutter und ihre Ersatzfiguren - das Blut, die Familie, den Stamm - gebunden zu bleiben, der unerträglichen Bürde der Verantwortung, der Freiheit und des Bewußtseins zu entfliehen und in einem Hort von Sicherheit und Abhängigkeit Schutz und Liebe zu bekommen. Dafür bezahlt der einzelne mit dem Ende seiner eigenen menschlichen Entwicklung. Ich glaube, daß der Mensch, der sich für das Vorwärtsgehen entscheidet, eine neue Einheit finden kann, indem er alle seine menschliche Kräfte zur vollen Entfaltung bringt. Diese können sich in drei Weisen entfalten und allein oder im Verbund in Erscheinung treten: in der Biophilie, in der Liebe zur Menschheit und zur Natur und in Unabhängigkeit und Freiheit. Ich glaube, daß die Liebe sozusagen der "Hauptschlüssel" ist, mit dem sich die Tore zum Wachstum des Menschen öffnen lassen. Ich meine damit Liebe zu und Einssein mit jemand anderem oder etwas außerhalb von mir selbst, wobei das Einssein besagt, daß man sich auf andere bezieht und sich mit anderen eins fühlt, ohne damit sein Gespür für die eigene Integrität und Unabhängigkeit einschränken zu müssen. Liebe ist eine produktive Orientierung, zu deren Wesen es gehört, daß folgende Merkmale gleichzeitig vorhanden sind: Man muß sich für das, womit man eins werden will, interessieren, sich für es verantwortlich fühlen, es achten und es verstehen. Ich glaube, daß die Praxis der Liebe das menschlichste Tun ist, das den Menschen ganz zum Menschen macht und ihm zur Freude am Leben gegeben ist. Für diese Praxis der Liebe gilt aber - wie für die Vernunftfähigkeit: Sie ist sinnlos, wenn sie nur halbherzig vollzogen wird. Ich glaube, daß man erst "frei von" seinen inneren und/oder äußeren Bindungen sein muß, wenn man die Fähigkeit erlangen möchte, auch "frei zu" etwas zu sein: zu schöpferischem, gestaltendem Tun, zu mehr Erkenntnis usw. Erst dann ist man fähig, ein freies, tätiges, verantwortliches Wesen zu sein. Ich glaube, daß Freiheit die Fähigkeit ist, der Stimme der Vernunft und des Wissens zu folgen und den Stimmen irrationaler Leidenschaften zu widerstehen. Sie ist die Befreiung, die den Menschen freispricht und ihm den Weg ebnet, seine eigenen vernünftigen Fähigkeiten zu gebrauchen, die Welt in ihrer Objektivität zu verstehen und den Platz, den der Mensch darin einnimmt, zu erkennen. Ich glaube, daß der "Kampf für die Freiheit" im allgemeinen ausschließlich die Bedeutung hatte, gegen jene Autorität zu kämpfen, die einem aufgedrängt wurde und deren Ziel es war, den Willen des einzelnen zu brechen. Heute sollte der "Kampf für die Freiheit" bedeuten, daß wir uns einzeln und gemeinsam von jener "Autorität" befreien, der wir uns "freiwillig" unterworfen haben. Wir sollten uns von jenen inneren Mächten befreien, die uns zu dieser Unterwerfung zwingen, weil wir unfähig sind, die Freiheit zu ertragen. Ich glaube, daß Freiheit keine konstante Wesenseigenschaft ist, die wir haben oder auch nicht haben. Vermutlich gibt sie es in Wirklichkeit nur als Akt unserer Selbstbefreiung, wenn wir von unserer Freiheit, wählen zu können, Gebrauch machen. Jeder Schritt im Leben, der den Grad der Reife des Menschen erhöht, erhöht auch seine Fähigkeit, die freimachende Alternative zu wählen. Ich glaube, daß die Wahlfreiheit nicht für alle Menschen in jedem Augenblick in gleicher Weise gegeben ist. Wer ausschließlich nekrophil, narzißtisch oder symbiotisch-inzestiös orientiert ist, hat nur die "Wahl", sich regressiv zu entscheiden. Der freie Mensch, der von irrationalen Bindungen befreit ist, kann keine regressive Wahl mehr treffen. Ich glaube, daß es das Problem der Wahlfreiheit nur bei Menschen mit gegenläufigen Orientierungen gibt und daß diese Freiheit immer stark von unbewußten Wünschen und von beschwichtigenden Rationalisierungen bedingt wird. Ich glaube, daß niemand seinen Nächsten dadurch "retten" kann, daß er für ihn eine Entscheidung trifft. Die einzige Hilfe besteht darin, daß er ihn in aller Aufrichtigkeit und Liebe sowie ohne Sentimentalität und Illusion auf mögliche Alternativen hinweisen kann. Das erkennbare Bewußtwerden befreiender Alternativen kann in einem Menschen alle seine verborgenen Energien wachrufen und ihn auf den Weg bringen, auf dem er das Leben statt den Tod wählt. Ich glaube, daß der Mensch die Gleichheit aller Menschen spüren kann, wenn er sich ganz und gar zu erkennen versucht und dabei merkt, daß er den anderen gleicht und er sich mit ihnen identifiziert. Jeder einzelne Mensch trägt die Menschheit in sich. Die conditio humana ist eine und dieselbe für alle Menschen, trotz der unübersehbaren Unterschiede bezüglich Intelligenz, Begabung, Körpergröße, Hautfarbe usw. Ich glaube, daß man an die Gleichheit der Menschen gerade deshalb erinnern muß, weil damit ein Ende gemacht werden muß, daß der Mensch ein Instrument des anderen wird. Ich glaube, daß Brüderlichkeit die auf den Nächsten gerichtete Liebe ist. Sie bleibt freilich eine Worthülse, solange nicht alle inzesthaften Bindungen ausgemerzt sind, die den Menschen daran hindern, über den "Bruder" in objektiver Weise zu urteilen. Ich glaube, daß der einzelne so lange nicht mit seiner Menschheit in sich in engen Kontakt kommen kann, solange er sich nicht anschickt, seine Gesellschaft zu transzendieren und zu erkennen, in welcher Weise diese die Entwicklung seiner menschlichen Potentiale fördert oder hemmt. Kommen ihm die Tabus, Restriktionen, entstellten Werte ganz "natürlich" vor, dann ist dies ein deutlicher Hinweis darauf, daß er keine wirkliche Kenntnis der menschlichen Natur hat. Ich glaube, daß die Gesellschaft in ihrer stimulierenden und zugleich hemmenden Funktion schon immer in Konflikt mit dem Menschsein ist. Erst wenn der Zweck der Gesellschaft mit der des Menschseins identisch ist, wird die Gesellschaft aufhören, den Menschen zu lähmen und sein Streben nach Herrschaft zu beflügeln. Ich glaube, daß man auf eine gesunde und vernünftige Gesellschaft hoffen kann und muß. Eine solche Gesellschaft fördert die Fähigkeit des Menschen zur Nächstenliebe, zur Arbeit und zum Gestalten, zur Entwicklung seiner Vernunft und zu einer objektiv richtigen Selbstwahrnehmung, die in der Erfahrung seiner produktiven Energie gründet. Ich glaube, daß man für die breite Bevölkerung auf die Wiedergewinnung psychischer Gesundheit hoffen kann und muß. Diese zeichnet sich durch die Fähigkeit zur Liebe und zu schöpferischem Tun aus, durch die Befreiung von inzesthaften Bindungen an den Klan und an den Boden, durch ein Identitätserleben, bei dem der einzelne sich als das Subjekt und den Vollzieher seiner eigenen Kräfte erfährt, durch die Fähigkeit, sich von der Wirklichkeit innerhalb und außerhalb von einem selbst berühren zu lassen und die Entwicklung von Objektivität und Vernunft zu verwirklichen. Ich glaube, daß in dem Maße, in dem unsere Welt verrückt und unmenschlich zu werden scheint, eine immer größere Zahl von Menschen die Notwendigkeit spürt, sich zusammenzutun, und mit Menschen zusammenzuarbeiten, die ihre Sorgen teilen. Ich glaube, daß diese Menschen guten Willens nicht nur zu einer menschlichen Deutung der Welt kommen sollten, sondern auch auf den Weg hierzu verweisen und für eine mögliche Veränderung arbeiten müssen. Eine Deutung ohne den Wunsch nach Veränderung ist nutzlos. Eine Veränderung ohne vorausgehende Deutung ist blind. Ich glaube, daß die Verwirklichung einer Welt möglich ist, in der der Mensch viel sein kann, selbst wenn er wenig hat; in der der vorherrschende Beweggrund seines Lebens nicht das Konsumieren ist; in der der Mensch das erste und das letzte Ziel ist; in der der Mensch den Weg finden kann, seinem Leben einen Sinn zu geben, und die Stärke, frei und illusionslos zu leben. * Dieses Glaubens-Bekenntnis von Erich Fromm wurde dem Buch 'Humanismus als reale Utopie - Der Glaube an den Menschen' (1992) mit freundlicher Genehmigung des Beltz-Verlages, Weinheim und des Literary Estate of Erich-Fromm, Tübingen, entnommen. 1996 ist das Buch bei Heyne als Taschenbuch-Ausgabe erschienen.
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Glaubensbekenntnis
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Feuerbach ist der Philosoph des Menschen. Er ist der philosophische Anthropologe par excellence. In diesem weiteren Sinne des Wortes "religiös", d. h. in der Behandlung der Frage nach der Bestimmung des Menschen, konnte er behaupten, daß seine Philosophie insgesamt Religion sei. Und genau von diesem Punkt aus ist auch seine eindringliche und beständige Kritik an dem zu verstehen, was er Abweichung von der "Religion" nennt, nämlich Theologie und Religion im engeren Sinne. Manfred H. Vogel, 1966 |
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Aktualisiert am 18.11.09