Wissenschaft oder Menschlichkeit?Über die Bedeutung der Zielvorgabe Selbstverständlich soll der Titel nicht etwa andeuten, daß Wissenschaft Menschlichkeit ausschließt, sondern nachdenklich machen. Er soll die Bedeutung bereits der Begriffe und deren Anwendung am Beispiel einer neu gegründeten Organisation verdeutlichen. Wissenschaft ist eine Arbeitsform, ein Hilfsmittel zum (besseren) Leben des Menschen. Wissenschaft selbst ist nicht generell zielorientiert. Auch eine 'Internationale Gesellschaft für interdisziplinäre Wissenschaften', die 1998 gegründet wurde, ist dies von ihrem Namen her nicht, sie müßte sonst zumindest den Zusatz "zur Vereinigung" oder "zur Verbindung" anstatt des "für" in ihrem Namen tragen. Aber auch dann bliebe noch offen, wofür die Verbindung hergestellt werden soll zwischen verschiedenen Wissenschaften, oder richtiger Wissenschaftsbereichen. Im Grunde ist bereits der Name nicht gerade wissenschaftlich, das sollte erkannt werden, und das sollte zu denken geben. Genaugenommen ist die 'Interdis' eine Vereinigung zum Zweck der Verbindung von Aufgaben bzw. Ergebnissen wissenschaftlicher Arbeit aus Teilbereichen des Lebens. Aber wozu? Wahrscheinlich um die Ergebnisse effektiver und sinnvoller für den Menschen nutzbar zu machen. Was aber nützt dem Menschen? Was braucht er wirklich? Was ist überhaupt der Sinn, der Zweck menschlichen Lebens? Hier könnte echte, ganzheitliche wissenschaftliche Arbeit beginnen, und zwar in der Frage: Welche persönlichen Antworten haben die einzelnen Mitglieder darauf? Worin sehen sie den Sinn des und ihres Lebens? Auch in der Wissenschaft ist ja der Wissenschaftler als Mensch in seiner inneren Verfassung ein wesentlich mitbestimmender Faktor für den Ansatz und für die Zielvorstellung seiner wissenschaftlichen Arbeit. Wenn nach der hervorragenden Arbeitsordnung der 'Interdis' vorgegangen werden soll, dann müßten die Grundeinstellungen und Motivationen der Mitglieder in ganzheitlicher Weise in die Arbeit mit einbezogen werden. Ganzheitlichkeit soll angestrebt werden: Dies erfordert ein Einbeziehen des letztlichen, allem übergeordneten Zieles und der inneren Beschaffenheit der beteiligten Menschen, da wissenschaftliche Arbeit immer auch individuelle persönliche, bewußte und unbewußte Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen enthält, die das Ergebnis der Arbeit beeinflussen. Dies gilt auch für die Menschen, die sich um Verbindung verschiedener Wissenschaftsgebiete bemühen. Auch hier ist es wichtig, zu wissen, welche ganz persönlichen Motive einerseits, und welche übergeordneten Orientierungen andererseits vorhanden sind. Wenn auch hier wissenschaftlich vorgegangen werden soll, dann wird unbedingte Offenheit sich selbst und den anderen gegenüber nötig sein. Das kann für manch einen vielleicht unbequem werden, gleichzeitig aber wird es immer auch mit einem persönlichen Gewinn verbunden sein.
Bisher ist diese Ganzheitlichkeit in dem Einbeziehen aller Beteiligten in ihrer individuellen. persönlichen Grundeinstellung zum Leben in die wissenschaftliche Arbeit noch kaum gegeben. Es ist ja bekannt, daß sowohl bei zielorientierter, als auch bei freier Forschung stets die persönlichen Motive der Forschenden eine große Rolle spielen. Einerseits ist eine bestimmte Zielvorstellung, andererseits ist lediglich eine Erwartung von effektvollen Veränderungen vorhanden. Was zwangsläufig bei jeder menschlichen Handlung immer vorhanden ist, das ist ein egoistischer Anteil wie z.B. das Bedürfnis nach Befriedigung durch Aktivität, nach Bestätigung, Anerkennung, Bewunderung, Honorierung usw. Was meist fehlt, das ist eine übergeordnete Orientierung an Verantwortung dem Ganzen gegenüber und der Sinnhaftigkeit im Gesamtzusammenhang. Diese übergeordnete Orientierung zu erkennen, zu benennen, zu überprüfen, zu aktualisieren und lebendig präsent zu erhalten, das wäre eine wichtige Aufgabe einer Vereinigung für interdisziplinäre Wissenschaften, wenn sie nicht zum Selbstzweck oder zur Spielwiese der Unterhaltung ihrer Betreiber werden soll. Es besteht bei solch einem Vorhaben die große Chance, in wirklich ganzheitlicher Weise wissenschaftlich zu arbeiten, das heißt, die menschlichen Werkzeuge in die Arbeit mit einzubeziehen, was bisher allgemein zu wenig geschehen ist. Dies ist das allgemeine Problem der Menschheit. Ein bekannter Denker unserer Zeit sagte sinngemäß: Das Problem des Menschen ist der Mensch. Dem wäre hinzuzufügen: ... und die Lösung. Der Mensch ist das geistige Werkzeug seiner Handlungen. Seine Motive, auch die unbewußten sind mitbestimmend. Hier ist einerseits wissenschaftliche Forschung nötig, und andererseits die ehrliche, ganzheitliche Vorstellung seiner Ziele. Sein Antrieb zum Handeln wird primär von Lust- und Unlustgefühlen bestimmt, ähnlich wie beim binären Prinzip des Computers. Gut zu wissen wäre, was bewirken Lust- und was bewirken Unlustgefühle und warum, wodurch entstehen sie und wie können diese beeinflußt werden.
Konkret: Der Begriff Wissenschaft bewirkt bei den Mitgliedern mehr Lust- als Unlustgefühle. Darum wurde dieser für den Namen der Gesellschaft gewählt. Bei dem Begriff Menschlichkeit wird es eher umgekehrt sein. Deshalb wurde der Vorschlag 'Wissen für Menschlichkeit' für den Namen der Gesellschaft (September 1996) auch nicht berücksichtigt. Obwohl es ja letztlich nicht um Wissenschaft an sich geht, sondern um die Anwendung deren Ergebnisse. Warum wurde trotzdem so entschieden? Meine These: der Begriff Wissenschaft verspricht Sicherheit und verursacht eher Lustgefühle, der Begriff Menschlichkeit verunsichert eher und verursacht Unlustgefühle. Warum? Wo ist das Risiko beim Thema Menschlichkeit? Ist dieses größer als der zu erwartende Gewinn? Ist das Risiko kalkulierbar? Eigentlich ja. Demnach wäre es möglich, daß das Unlustgefühl nach solchen Überlegungen bald einem Gefühl der Neugier, also einem Lustgefühl weichen könnte. Die Mitglieder der 'Interdis' dürften vermutlich in der Lage sein, auch ohne ihr diesbezügliches Engagement ein befriedigendes Leben zu führen. Aber irgend etwas treibt sie, mehr als das zu tun. Hierüber Klarheit zu gewinnen wäre eine interessante und wichtige wissenschaftliche Aufgabe und das Einbeziehen der eigenen Person gewissermaßen als Selbstversuch wie in der Medizin am glaubwürdigsten. Wirklich echte Wissenschaft müßte eigentlich der Wahrhaftigkeit verpflichtet sein und den Wissenschaftler dazu veranlassen, sich selbst dahingehend immer wieder zu überprüfen, wie weit er diesem Anspruch nach Wahrhaftigkeit auch wirklich gerecht wird, denn er ist das grundlegende Werkzeug der Wissenschaft und mit ungenauen Werkzeugen lassen sich schlecht genaue Werke erzeugen. Er müßte sich in ganzheitlicher Weise fragen, ob beispielsweise seine religiöse Rückbindung wissenschaftlicher Prüfung standhält, oder ob er hier bereits eine Unwahrhaftigkeit sich selbst gegenüber begeht, indem er gefühlsmäßig an einer anerzogenen Glaubensrichtung festhält, die vom Verstand her nicht mehr akzeptabel ist.
Hier an diesem Punkt liegt meines Erachtens die Wurzel allen Übels unserer Gesellschaft und der Menschheit überhaupt. Hier in der individuellen Rückbindung an das Ganze. Wenn hier die nüchterne ganze Wahrheit mit der individuellen Endlichkeit bzw. Unwissenheit nicht anerkannt wird oder nur mit dem Verstand, dann entsteht eine Spaltung, die sich auf alles weitere verunsichernd auswirkt. Eine Identität, die auf irrealen Glaubensvorstellungen aufbaut, die ständig im Widerspruch mit einem kritischen Verstand stehen und nicht dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit untergeordnet werden, kann keine eigenständige Stabilität erreichen und kann zu Abhängigkeit, Krankheit und Gewalt führen. Andererseits kann bei einer realistischen individuellen Rückbindung so etwas wie ein Grundvertrauen oder Heil und eine ethische Orientierung entstehen, die für eine individuelle und gesellschaftliche Stabilität und Weiterentwicklung not-wendig sind. Eine sinnvolle, dringend not-wendige und interessante Aufgabe wäre das Darstellen geistiger Strukturen des allgemeinen, universellen Menschlichen unter Einbeziehung der persönlichen Gegebenheiten der beteiligten Personen. Wissenschaftlichkeit muß auch für das Menschliche gelten, denn das Problem des Menschen ist der Mensch. Das gilt selbst bei sogenannten Naturkatastrophen, die eigentlich gar keine sind. In der Natur gibt es nur Veränderungen, die für den Menschen meist dann zur Katastrophe werden, wenn er sich leichtsinnig verhält. Der Mensch braucht Wissenschaft nicht nur von der Beschaffenheit des menschlichen Körpers und seiner vielfältigen Krankheiten und Bedürfnisse, sondern von der körperlich-geistigen Ganzheit, von der Mensch-lichkeit mit ihren Problemen, Möglichkeiten, Voraussetzungen und Erfordernissen. Dann wird deutlich, daß Menschsein aufgrund seiner artgemäßen Bestimmung - zumindest aber Möglichkeit - Mündigkeit als wesentliches Ziel erfordert. Und Mündigkeit bedeutet kritische Distanz nicht nur zur Mitwelt, sondern vor allem auch zu sich selbst und das unbedingte Streben nach Wahrhaftigkeit, das bedeutet Erkennen und Anerkennen der eigenen Schwächen. Erkenne dich selbst! Das ist Voraussetzung zur Akzeptanz des Anderen und Vorbeugung gegen Selbstüberschätzung. Dazu bedarf es der Bereitschaft zur offenen aber konstruktiven Auseinandersetzung und zur Entgegennahme von Kritik.
Kritik nicht nur ertragen lernen, sondern wünschen (Feedback oder Rückmeldung). Die inneren Antriebe erforschen, die innere Einstellung überprüfen, denn die letzten Entscheidungen werden vom Gefühl bestimmt und dieses hängt von der verinnerlichten geistigen Einstellung zum Leben ab, vom Weltbild, vom Menschenbild, von der Rückbindung an das Ganze (Religion). Hier wurde bisher wissenschaftlich kaum etwas getan. Religionswissenschaft ist Wissenschaft von den Konfessionen, nicht aber von wissenschaftlich haltbarer Rückbindung. Philosophie ist Wissenschaft von ihrer Geschichte, nicht aber von angewandter Weisheit. Deshalb bestehen die allgemeinen Probleme. Die Motivationen zum Leben und zum Handeln müssen erkannt werden, um sich selbst und die Mit-Menschen, z.B. Partner, Kinder, Eltern, Vorgesetzte, Mitarbeiter, Politiker und schließlich auch politische, religiöse, ethnische Extremisten besser verstehen und einschätzen zu können. Ein bekannter Psychologe sagte: Wir brauchen eine Revolution, die den Einzelmenschen ernst nimmt. Es handelt sich um eine bisher unbekannte Art von Revolution - die Geschichte kennt kein Beispiel dafür. Wir brauchen einen Aufbruch, der mit der Ausbreitung des Christentums vor zweitausend Jahren verglichen werden könnte. Die neue Revolution muß in den Herzen und Seelen der Menschen stattfinden. Die Menschheit hat keinen so langen Atem mehr, den Messias zu kreuzigen und danach eine neue Kirche aufzubauen. ... Unsere Zeit ist knapp geworden. ... Fernweh ist unnötig. Auf das Nahweh kommt es an. Die Bereitschaft zum Forschen, zu Abenteuern und zur Grenzerfahrung sind bei vielen Menschen vorhanden, leider meist nicht die zum eigenen Inneren. Die eingangs erwähnte neu gegründete Gesellschaft für interdisziplinäre Wissenschaften hat eine hervorragende Arbeitsordnung geschaffen, diese wäre zunächst einmal anzuwenden auf die religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen ihrer Mitglieder als Beispiel für unsere Gesellschaft einer neuen, ganzheitlichen wissenschaftlichen Arbeitsweise und Aufgabe. Wissenschaftlichkeit erfordert ganzheitliche Orientierung und ganzheitlich orientiertes Arbeiten. Rudolf Kuhr
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Aktualisiert am 28.11.11