Alles Globale hat lokale Wurzeln
Dr. Vandana Shiva
Geseko von Lüpke im Gespräch mit der indischen Physikerin
Dr. Vandana Shiva, Trägerin des Alternativen Nobelpreises 1993, ist
eine der wichtigsten Aktivistinnen im weltweiten Kampf gegen Globalisierung.
Sie studierte Physik und arbeitete als Quantenphysikerin, bevor sie ihre
Research Foundation for Science Technology and Ecology gründete. Mit
verschiedenen von ihr mitbegründeten Massenbewegungen konzentrierte
sich ihr Engagement besonders auf den Kampf gegen die Monopolisierung und
gentechnische Manipulation des Saatgutes. In dem hier folgenden Gespräch
liest sie den Globalisierern ebenso deutlich wie fundiert die Leviten, sieht
aber in dem Prozess auch enorme Möglichkeiten, gerade weil das System
schon sehr destabilisiert ist. Denn "die Wut darüber wächst, dass
jede produktive Handlung irgendwo auf dem Planeten in das globale
Wirtschaftssystem hineinpassen soll." Und dagegen protestieren ebenso global
immer mehr empörte Menschen. Der einzige Weg aus dem Dilemma führe
über weltweite lokale Lösungen, "weil es eigentlich überhaupt
nichts gibt, was ausschließlich global wäre." Die folgende Abschrift
wurde von der Redaktion gekürzt.
Vandana Shiva, wie lautet die Kritik am industriellen Wachstumssystem
aus der Sicht der Dritten Welt?
Zuallererst sollte die westliche Welt anerkennen, wo ihr Reichtum herstammt
und sich nicht länger selbst belügen. Aus der Sicht der ersten
Welt ist ihr Reichtum das Produkt einer fast magischen Technologie und hoher
Intelligenz. Für uns in der Dritten Welt ist der Reichtum des Westens
die Folge der Kolonisierung, der Kontrolle über unsere Wirtschaft und
der Sklaverei, bei der man die Bevölkerung eines halben Kontinents einfing,
um sie auf Baumwollfeldern in Amerika arbeiten zu lassen. Das sind die Wurzeln
dieses "magischen Erfolgs". Wir zahlen heute noch die wirtschaftliche,
menschliche, soziale, ökologische Zeche.
Welche wirtschaftliche Alternative schlagen Sie vor?
Der größte Fehler im westlichen Konzept sowohl des Wirtschaftens
als auch in Wissenschaft und Technologie ist die Fragmentierung und
Zersplitterung, bei der immer nur ein Teil des Gesamtbildes gesehen wird.
Was von uns in Indien und von der gesamten globalisierungskritischen Bewegung
heute abgelehnt wird, ist ein Wachstum, dass auf Zerstörung baut. Wir
wollen ein Wachstum, bei dem man sich zuallererst einmal darüber klar
wird, was es zerstört. Und wenn es dann ein wirkliches Wachstum sein
soll, wird es so wenig wie möglich zerstören, weil es auf das baut,
was existiert und nicht auf den Ruinen dessen, was einmal war.
Heißt das, unser westliches kulturelles Verständnis von Wachstum
beruht auf einem Irrtum?
Es gibt zwei Ebenen der Definition des Wachstumsbegriffes. Und beide sind
aus einem sehr patriarchalen Verständnis von Kapital entstanden.
Zunächst einmal werden alle Tätigkeiten, die Menschen für
ihre Selbstversorgung tun, vom Wachstumsbegriff ausgeschlossen. Das hat
wesentlich zur Zerstörung sozialer Gemeinschaften beigetragen, denn
es bedeutet, dass der größte Teil der außerordentlich
produktiven Frauenarbeit einfach für unproduktiv erklärt wurde.
[!!!] Das gleiche gilt für all die Kleinbauern, die frei von irgendwelchen
staatlichen Fördermitteln und ohne große Unternehmen im Rücken
Subsistenzwirtschaft betreiben sie tauchen in den Wachstumsstatistiken einfach
nicht auf. Mit der Globalisierung ist eine Ebene entstanden, in der diese
Sichtweise noch ausgeweitet wird. Denn nun will man uns glauben machen, dass
Gesellschaften, deren Wirtschaftssysteme vorwiegend für die
Bedürfnisse der eigenen Nation produzieren, nicht produktiv genug sind.
Wachstum findet nach dieser Definition dann statt, wenn wir unsere Produkte
auf dem internationalen Markt verkaufen und alles, was wir brauchen, aus
anderen Nationen importieren. Damit wird letztlich das Gesetz des Marktes
über das Gesetz des Lebens gestellt.
Welche Absicht steckt hinter dieser Mischung aus weltanschaulicher
Fragmentierung und wirtschaftlicher Globalisierung, von der Sie
sprechen?
Kontrolle! Die Absicht, alles zu kontrollieren, ist zugleich das, was am
meisten zerstört. Das ist umso absurder, weil wirkliche Kontrolle
völlig unmöglich ist. Man kann durch Manipulation keine Kontrolle
erlangen. Die Ökologie hat uns lernen lassen, dass der einzige Weg zur
Kontrolle über die Selbstkontrolle führt. Das heißt, dass
die Gesellschaften in die Lage versetzt werden müssen, ihre
Lebensbedingungen zu kontrollieren. Wenn man ihnen diese Möglichkeiten
nimmt, verändert sich die ganze demokratische Struktur. Ein gutes Beispiel
ist die Geburtenkontrolle: Da ist Selbstkontrolle und individuelle
Entscheidungsfreiheit der einzige Weg. Aber sie ist nicht möglich, solange
die Menschen nicht die freie Verfügungsgewalt über ihr Land und
ihre Lebensbedingungen haben. Man kann den Menschen keine Selbstkontrolle
über die Fortpflanzung geben, wenn man sie ihnen auf dem Gebiet ihrer
lokalen Ökonomie und der Warenproduktion verweigert, denn was in einem
Gesellschaftssystem reproduziert wird, sind ja nicht nur biologische Organismen,
sondern soziale Strukturen, die ganze Gesellschaft wird reproduziert. Und
wenn ein großer Teil einer Gesellschaft in unsicheren Verhältnissen
lebt, dann entstehen automatisch alle möglichen demographischen Probleme.
In den Ländern des Nordens haben wir zu wenig Kinder für die
gesellschaftliche Produktion, in den Ländern des Südens zu viele.
Gäbe es Sicherheit, würde sich das in der Mitte einpendeln. Deshalb
bin ich mir ganz sicher, dass die bisherige Politik der Geburtenkontrolle
zu nichts führt. All die Millionen Dollar, die man dafür ausgibt,
werden in den Sand gesetzt werden, weil sie das zentrale Problem übersehen.
Und das ist die Freiheit der Individuen, Gesellschaften und sozialen Gruppen,
sich selbst zu organisieren.
Auf welchen Mythos baut das gegenwärtige System?
Ich glaube, der grundlegende Mythos ist immer der Schöpfungsmythos.
Der Schöpfungsmythos, dem wir heute folgen, erkennt nicht an, dass
Schöpfung eine Eigenschaft der Natur ist und dass sie sich im Rahmen
einer viel größeren Ordnung als der menschlichen vollzieht. Er
verneint letztlich auch, dass es die Frauen sind, die das Leben geben. Er
hat zutiefst patriarchale Wurzeln und behauptet, dass es sich bei allen
zerstörerischen Handlungen dieser patriarchalen Gesellschaft um kreative,
schöpferische Akte handelt. Sei es die Bombardierung anderer Länder,
das Versprühen von Insektiziden, die Erfindung neuer Pestizide oder
die Erschaffung neuer genmanipulierter Organismen, die letztlich die biologische
Vielfalt gefährden. All diese zerstörerischen Akte werden als
schöpferische Taten gefeiert. Das ist eine zutiefst partiarchale
Verhaltensweise, die im sozialen Alltag in dieser Form kaum gelebt werden
kann. Aber im Zusammenhang mit der Kontrolle über Geldströme und
Kapital wird sie möglich. Deshalb geht sie Hand in Hand mit dem
Kapitalismus. Der partiarchale Kapitalismus ist aus meiner Sicht der grundlegende
Mythos der Gegenwart. Mit seiner Hilfe wird nicht nur die Natur kontrolliert,
sondern auch das weibliche Geschlecht und der menschliche Geist.
Wenn Sie von der Kontrolle durch einen patriarchalen Kapitalismus reden,
klingt das nach einem
durch und durch kolonialistischen Prinzip. Haben wir den Kolonialismus noch
nicht überwunden?
Der Kolonialismus ist alles andere als überwunden. Wir sind heute Zeugen
einer neuen Kolonialisierung durch die Globalisierung. Nur die Begriffe haben
sich geändert. Denn die Grundmuster der Dominanz westlicher Mächte
über nichtwestliche Mächte sind die gleichen. Was hinzu kam, ist
die Kolonisierung des Lebens selbst. Das konnte der alte Kolonialismus noch
nicht, weil er noch nicht über die Technologie der modernen genetischen
Manipulation des Lebens verfügte. Was damit heute kolonisiert wird,
sind die inneren Räume aller Lebewesen der Menschen, der Tiere, der
Pflanzen. Neben all den Methoden des alten Kolonialismus handelt es sich
bei dieser neuen Form zusätzlich noch um die Kolonisierung der
evolutionären Zukunft. Diese Kolonialisierung verwehrt uns Zukunft!
Auf welchen Ebenen muss der Wandel stattfinden?
Aus meiner Sicht geht es um die Auseinandersetzung mit drei Formen der
Kolonisierung. Das ist zunächst die Kolonisierung der Natur, die zur
ökologischen Krise geführt hat. Das ist zweitens die Kolonisierung
der Frauen, die zum Geschlechterkrieg und der Unterdrückung der Frauen
geführt hat. Und drittens geht es natürlich um die Überwindung
der fortgesetzten Kolonisierung nicht-westlicher Kulturen, die zum
"Dritte-Welt-Problem" geführt haben. Diese drei Probleme können
nur gemeinsam gelöst werden. Wir müssen begreifen, dass wir Teil
einer größeren evolutionären Familie sind und keine privilegierte
Spezies. Wenn wir aufhören, die Natur zu kolonisieren, beenden wir auch
die ökologische Krise. Das gleiche gilt für die Kolonisierung der
Frauen. Wenn Männer in Industriesystemen die Werte vorgeben und Frauen
zum untergeordneten Geschlecht erklären, wird jede kreative Form weiblicher
Produktivität und Selbstversorgung für unproduktiv erklärt.
Dieses Muster wendet man dann genauso auf ländliche Gesellschaften an.
Selbst wenn Frauen auf dem Land zwanzig Stunden am Tag arbeiten, wird ihre
Leistung für die Gemeinschaft nicht ins Sozialprodukt einbezogen und
gilt als unproduktiv, einfach weil sie nicht den Kriterien des Kapitals
genügt. Und all das basiert auf den traditionellen Formen der
Kolonialisierung über ganze Kulturen, Land, Bodenschätze und
biologischen Ressourcen, die wir nach wie vor haben.
Diese Verbindung von feministischen und ökologischen Ansätzen
hat Sie zu einer der
wichtigsten Vertreterinnen des "Ökofeminismus" gemacht. Was bedeutet
das für Sie?
In der ökologischen Bewegung geht es darum, die Natur und ihre Rechte
ernst zu nehmen und ihre Bedeutung nicht mehr länger daran zu bemessen,
welchen finanziellen Wert sie für ein paar industrialisierte Männer
hat. Diese Einsichten sind Teil meiner persönlichen Geschichte, sie
sind die Basis dessen, was ich heute bin und tue. Deshalb nehme ich es auch
sehr ernst, dass eine große Zahl ökologischer Aktivisten Frauen
sind, während die Führungspositionen der Bewegung primär von
Männern besetzt sind. Da stimmt etwas nicht, ebenso wie in der
Frauenbewegung: Ein Feminismus, der nicht ökologisch ist, reicht mir
genauso wenig wie eine Ökologie, die nicht radikal genug ist, die Strukturen
der menschlichen Beziehungen zu verändern. Da muss beides Hand in Hand
gehen.
Heißt das, das Engagement für den Wandel muss gleichermaßen
auf der
persönlichen wie der politisch-gesellschaftlichen Ebene erbracht
werden?
Wir können nur erschaffen, was wir selber sind. Was in dieser globalen
Widerstandsbewegung aber bereits zu erkennen ist, das ist ein ganz anderes
Verständnis von Macht und Kraft. Die alte Definition vom Macht nenne
ich patriarchale Macht. Das heißt nicht, dass jeder Mann sie in sich
trägt, sondern dass sich die Gesellschaftsstruktur an einem bestimmten
Männerbild orientiert hat, dessen zentrale Werte Überlegenheit
und Dominanz sind und daraus das Recht ableitet, alle zu unterwerfen, die
nicht aggressiv, zerstörerisch und dominierend sein wollen. Wir müssen
den Begriff der Macht also kulturell neu definieren: Wirkliche Macht kommt
von innen. Wirkliche Macht wendet sich gegen jede Form von Unterdrückung.
Wirkliche Macht stärkt den anderen und stärkt einen selbst, anstatt
auf die Vernichtung anderer zu bauen. Bäume entstehen aus Samen und
erneuern sich selbst. Gras wächst jedes Jahr neu. Flüsse füllen
sich immer wieder neu. Und der Wasserkreislauf funktioniert ohne jedes
menschliche Zutun von allein. Diese enorme Aktivität ist die kreative
Kraft der Natur. In Indien gilt es als das feminine Prinzip des Lebens. Wir
finden es aber nicht nur irgendwo da draußen in der Natur. Denn die
Natur ist nicht nur dort draußen, wir selbst sind auch Natur. Also
findet es sich in Männern wie in Frauen. Es ist da, es entsteht nicht
erst, indem wir es anerkennen. Aber eine Menge moderner Kulturen leugnen
diese ursprüngliche kreative Kraft. Die Anerkennung dieses weiblichen
kosmischen Prinzips ist gleich bedeutend mit der Anerkennung des Wunders
des Lebensatems, der uns erst zu Menschen macht. Es macht uns dem Leben
gegenüber demütig und lässt uns erkennen, dass wir nicht sein
Meister sind.
Wie könnte die Vision einer Gesellschaft aussehen, die sich von
einer
patriarchalen Struktur abwendet und dem femininen Prinzip zuwendet?
Wenn das weibliche Prinzip wieder zum Tragen käme, würden wir zu
einem neuen Verständnis von Wachstum kommen. Es würde den Wäldern
die Möglichkeit geben, zu wachsen. Es würde die Rückkehr der
biologische Vielfalt auf die Bauernhöfe ermöglichen. Es würde
dafür sorgen, dass Selbstversorgung, Selbstvertrauen und Selbstbestimmung
ganz oben auf der politischen Tagesordnung ständen. Und daraus würde
ein reales Wachstum entstehen, denn mit der Natur würden auch die Menschen
und Gesellschaften aufblühen. Das wäre etwas ganz anderes als diese
völlig fiktiven Zahlenreihen in den Geschäftsberichten der
multinationalen Konzerne, die heute täglich virtuelle drei Billionen
US-Dollar durch die Welt bewegen.
Das heißt, alte Mythen und Traditionen wie die des femininen Prinzips
'Shakti'
können uns bei der Suche nach einer neuen Ethik durchaus
unterstützen?
Wir müssen das Rad der Ethik nicht neu erfinden. Wir müssen lediglich
anerkennen, dass Menschlichkeit viele Gesichter und Geschichten hat und schon
viel Gutes, Verantwortliches und Nachhaltiges hervorgebracht hat. Natürlich
hat es auch viel Zerstörerisches und Gewalttätiges hervorgebracht.
Aber es liegt an uns, zu entscheiden, welchen Teil dieses Erbes des menschlichen
Geistes wir übernehmen wollen. Und die zweite Vorbedingung für
eine neue Ethik besteht darin, dass ihre Theorie und Praxis sich Hand in
Hand entwickeln müssen. Für mich liegt die Hoffnung in der
Kontinuität des Lebens und seiner Prozesse. Und eben nicht in einem
theoretischen Idealbild, das irgendwo da draußen im intellektuellen
Raum ist und mich anzieht. Diese Lebensprozesse, die wir sehen und von denen
wir ein Teil sind, verpflichten uns dazu, sie und ihren Reichtum zu verteidigen.
In ihnen liegen alle Möglichkeiten, unseren persönlichen
Handlungsspielraum zu vergrößern und positive Werte zu entwickeln:
Werte des Teilens, des Gebens, der Pflege. Die westliche Zivilisation kann
sich wandeln. Sie kann es schaffen, wenn sie als Ganzes ihren Sinn für
Demut wiederentdeckt.
All diese Werte scheinen im Zeitalter der Globalisierung auf dem Rückzug
zu sein ...
Im Prozess der Globalisierung liegen gleichzeitig aber enorme
Möglichkeiten, gerade weil sie das System so enorm destabilisiert. Die
Wut darüber, dass jede produktive Handlung irgendwo auf dem Planeten
in das globale Wirtschaftssystem hereinpassen soll, um einen Wert zu bekommen,
wächst. Denn diese Politik macht so viele Menschen überflüssig
im Norden wie im Süden. Deshalb müssen wir Wege finden, auf lokaler
Ebene wieder die Kontrolle über unsere Entscheidungen und unser Wirtschaften
zu gewinnen. Die lokale Kontrolle über Entscheidungsprozesse also die
freie Entscheidung über Jobs, Lebensbedingungen und die natürlichen
Ressourcen ist zum Imperativ für das Überleben geworden. Das ist
längst kein Luxus mehr. Früher war es nur im Süden eine Frage
des Überlebens. Deshalb haben die Menschen in der Dritten Welt ja im
Kampf auch immer wieder ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Wenn in Indien gegen
ein Staudammprojekt gekämpft wird, dann heißt es oft: Ich sterbe
lieber, als dass ich diesen Staudamm zulasse. Als die Chipko-Bewegung die
Rodungen im Himalaya stoppen wollte, haben die Frauen die Bäume umarmt
und gesagt: Köpft mich, bevor ihr den Baum köpft. Hier also war
es immer eine Frage des Überlebens. Mit der Globalisierung und der
Deregulierung des Handels wird das aber ein globales Phänomen.
Welche Folgen hat die Deregulierung für die lokale Autonomie?
Die Deregulierung des Handels heißt eigentlich etwas sehr simples.
Sie bedeutet einfach das Ende jeglicher Verantwortung einer Regierung oder
eines Unternehmens, Sorge für ihre Leute zu tragen. Und es bedeutet
das Ende der Kontrolle über die eigene Gesellschaft. Wenn große
Teile der Gesellschaft in eine machtlose Position gedrängt werden, dann
haben sie nur die Möglichkeit, ihre Lebensbedingungen nach ihren eigenen
Maßstäben neu zu gestalten und dafür zu kämpfen. Sonst
haben sie keine Chance.
Können denn aber lokale Lösungen globale Probleme
lösen?
Der einzige Weg zur Lösung eines globalen Problems sind weltweite lokale
Lösungen. Ich glaube, es gibt eigentlich überhaupt nichts, was
ausschließlich global wäre. Alles Globale hat vielmehr lokale
Wurzeln. Die globale Umweltverschmutzung entsteht im Lokalen. Und selbst
die internationalen Manager, die den GATT-Vertrag und die Weltbank schufen,
haben im Endeffekt alle Merkmale einer kleine lokalen Gruppe. Diese "Elite"
ist ein machtvoller Männerverein europäischer Herkunft. Wenn man
sich das mal unter ethnologischen Kriterien ansieht, dann ist das ein sehr
kleiner Stamm, der sich so verhält, als sei er der globale Stamm, der
jeden anderen Stamm als lokal abwerten darf. Es wird Zeit, dass die Menschen
begreifen, dass es sich bei diesen machtvollen Managern auch nur um eine
kleine lokale Gruppe handelt, die nur im weltweiten Maßstab aktiv ist.
Eine kleine Gruppe mit bürokratischer Mentalität, sehr begrenzten
Interessen und Visionen, die gar nicht in der Lage sind, eine nachhaltige
Zukunft für den Planeten und seine Lebewesen zu garantieren. Die
Lösungen müssen deshalb notwendigerweise lokal sein.
Ist diese Regionalisierung primär in der so genannten "Dritten Welt"
nötig oder ein globaler Imperativ fürs Überleben?
Sicherlich sind durch die Globalisierung besonders die ehemaligen Kolonialgebiete
gefährdet, neu und noch tiefer kolonialisiert und abhängig zu werden.
Aber heute sind wir soweit, dass auch die privilegierte westliche Welt ihre
Zukunft und ihre kommenden Generationen gefährdet mit Arbeitslosigkeit,
Hoffnungslosigkeit und wenig Perspektiven für ein Leben jenseits von
Geld und Profit. Damit ist ein Großteil der Menschen
überflüssig und erkennt keinen Sinn in seinem Leben. Was also die
erste Welt und da kann sie von der dritten Welt lernen dringend braucht,
ist ein neues Denken: Es kann nicht länger darum gehen, darauf zu warten,
dass die Konzerne Arbeitsplätze schaffen. Wir müssen vielmehr in
Selbsthilfe und gegenseitiger Unterstützung eigenständig unsere
sozialen Gemeinschaften wiederaufbauen und selbst für unseren
Lebensunterhalt sorgen. Und dabei allen Gesetzen und Vereinbarungen widerstehen,
mit denen die Konzerne heute versuchen, Selbsthilfe, Selbstversorgung und
Kooperation für illegal zu erklären.
Welche Schritte sind dafür nötig?
Ich glaube ein wesentlicher Teil des Wandels kann erreicht werden, indem
wir lernen, die Wirklichkeit anders wahrzunehmen. Wir bräuchten zum
Beispiel lediglich lernen wahrzunehmen, dass wirkliches Wachstum eigentlich
nur dort geschieht, wo Menschen aus Naturprodukten handfeste Produkte erschaffen
wirkliche Dinge, Nahrungsmittel, gute Materialien, stabile Häuser. Und
zwar in all der Vielfalt. Dann würden wir erkennen, dass die Menschen,
die von unserem Wirtschaftssystem für "arm" erklärt werden, in
Wirklichkeit gar nicht arm sind. Und dann würden wir vielleicht damit
aufhören, ihnen im Namen der "Entwicklung" alle möglichen Dinge
anzudrehen, die ihre Kultur zerstören und ihr Überleben in Frage
stellen. Wir würden dann möglicherweise auch begreifen, dass
tatsächlich drei Viertel der menschlichen Bevölkerung wirtschaftlich
"wachsen", während ein Viertel damit beschäftigt ist, sich selbst
und den Rest zu zerstören. Und es könnte uns ermutigen zu erkennen,
dass diese produktiven drei Viertel der Menschheit durchaus in der Lage sind,
für sich selbst zu sorgen und dass die eigentliche Herausforderung darin
liegt, dass der zerstörerische Rest der Menschheit sich verändern
muss. Diese Veränderung muss primär in den Ländern des Westens
geschehen. Denn die Gehirne der Menschen im Westen sind es, die am
stärksten und längsten kolonisiert wurden. Sie werden seit
fünfhundert Jahren zu diesem Verhalten erzogen, lernen es aus ihren
Schulbüchern und erleben diese Verhalten in ihrem Alltag. Deshalb sind
es besonders die jungen Menschen der westlichen Welt, die in dem Mythos des
patriarchalen Kapitalismus leben und ihn fortsetzen.
Muss das eine revolutionäre Veränderung sein, oder kann sie
sich auch evolutionär vollziehen?
Ich glaube, die Unterscheidung zwischen "evolutionär" und
"revolutionär" ist das Ergebnis einer Spaltung im europäischen
Denken. Revolution bedeutet immer drastischen, dramatischen und oft
gewalttätigen Wandel, während Evolution für langsame
Veränderungen in kleinen Schritten stand. Wenn es um die Geschwindigkeit
des notwendigen Wandels geht, glaube ich nicht, dass wir uns einen langsamen,
evolutionären Prozess leisten können. Es muss sich um eine radikale
Transformation handeln. In diesem Sinn muss sie revolutionär sein. Wenn
die Zerstörungen so revolutionär, so radikal und schnell sind,
dann muss jede Eindämmung der Zerstörung ebenso schnell sein, sonst
greift sie nicht. Wenn es aber um die Frage der Gewaltlosigkeit und der
politischen Methoden geht, dann müssen sie einerseits sehr dramatisch
und dringend sein, aber zugleich absolut friedlich und evolutionär,
so dass es zu keiner direkten Gewalt gegen irgendeinen anderen Menschen kommt.
Sie haben lange als Quantenphysikerin in der Wissenschaft gearbeitet,
bevor sie zur ökologischen Aktivistin wurden. Kann uns die neue Wissenschaft
Konzepte an die Hand geben, die einen solchen Wandel möglich erscheinen
lassen?
Einiges von dem, was ich meiner Karriere als Quantenphysikerin gelernt habe,
kommt mir bei der Entwicklung eines neuen ökologischen Welt- und
Menschenbilds sehr zugute. Denn die beiden Hauptbotschaften der Quantentheorie
bestehen darin, dass die mechanistische Weltsicht einerseits falsch ist,
weil die Welt nicht aus einander identischen Atomen zusammengesetzt ist und
weil sie andererseits keine Erklärung anbieten kann für die
nachweisbaren Zusammenhänge im Universum. Die fundamentalen Erkenntnisse
der Quantentheorie sind auch die Grundannahmen der modernen Ökologie:
Dass nämlich alle Dinge mit einander in Beziehung stehen und dass alles,
was man dem Netz des Lebens antut, sich der Mensch letztlich selber antut.
Deshalb war es für mich auch immer sehr einfach, zwischen den Denksystemen
der Quantentheorie und der Ökologie zu wechseln. Wenn man von den
gemeinsamen Prinzipien ausgeht, kann man die jeweiligen Details je nach Bedarf
daraus entwickeln. Die meisten Wissenschaftler tun das nicht. Sie betreiben
ihre Profession wie ein isoliertes Ritual des Macht- und Geldgewinns, sie
sehen nur das Detail und eben nicht das größere Prinzip.
Brauchen wir das Verständnis dieser komplexen Theorien für den
kulturellen Wandel?
Ich glaube, es ist absolut entscheidend, dass wir die mechanistische Sichtweise
hinter uns lassen. Dafür brauchen wir aber nicht notwendigerweise die
Quantentheorie. Wir müssen nur sensibler werden für die Welt, die
uns tagtäglich umgibt. Wir müssen sehen, dass unsere bisherige
reduktionistische Sichtweise der Fragmentierung, Zersplitterung eine
ökologische Schweinerei und Zerstörung zur Folge hatte. Wenn uns
diese Einsicht verunsichert, dann können wir auf die neuen Wissenschaften
zurückgreifen, die uns genau das bestätigen und deutlich machen,
nämlich dass wir nicht spinnen. Aber wenn wir genug Vertrauen in unsere
Wahrnehmung und unseren gesunden Menschenverstand haben, dann brauchen wir
die Absicherung durch die Quantentheorie oder neue Biologie überhaupt
nicht.
Wo in diesem Prozess des kulturellen Wandels stehen wir heute?
Wir haben fünfhundert Jahre Kolonialismus hinter uns, in denen man an
die Überlegenheit weißer Männer glaubte, damit Diebstahl
und Gewalt legitimierte und alle anderen Rassen die Zeche zahlen ließ.
Dann hatten wir ein halbes Jahrhundert "Entwicklungspolitik", in denen uns
die Länder des Westens Technik und Fortschritt versprachen und statt
dessen eine Plastik- und Rohöl-Kultur brachten, die den Planeten
zerstört. Ich glaube, heute stehen wir an der Schwelle zu einem neuen
Denken, bei dem "Entwicklung" nicht mehr länger verstanden wird als
die Globalisierung von nicht nachhaltigen Produktionsmethoden und Konsummustern.
Wir beginnen zu begreifen, dass wirkliches Wachstum pluralistisch ist: Es
handelt sich um eine Interaktion einerseits zwischen unterschiedlichen
Gesellschaften und andererseits zwischen Gesellschaften und der Natur auf
der Basis gegenseitigen Respekts. Und dieser gegenseitige Respekt gilt sowohl
der unterschiedlichen Spezies im Ökosystem als auch für die
unterschiedlichen menschlichen Kulturen. Wenn wir von neuer Ethik, neuen
Werten, neuen Weltbildern sprechen, dann berührt das auch die tiefste
Ebene im Menschen, seine Religiosität.
Brauchen wir an der Basis des Wandels auch eine neue
Spiritualität?
Wenn wir realisieren, dass es in der Natur und in uns so etwas gibt wie eine
innere Selbstorganisation und eigene Entwicklungsdynamik, dann gewinnen wir
die Fähigkeit, die Propaganda des Wirtschaftswachstums, die Regeln der
Kontrolle durch Staat und Wirtschaft in Frage zu stellen und über die
Dummheit der Werbestrategien, die unsere Hirne kolonisieren wollen, zu lachen.
Und das ist dann tatsächlich auch eine "spirituelle Revolution". Denn
was ist Spiritualität? Sie bezeichnet nichts anderes als unsere
Fähigkeit, innere Ressourcen zu entwickeln und uns seelisch gegen alle
Formen von Gewalt und Einschränkungen zu stärken, die sonst zu
Apathie, Lähmung und Angst führen. Spiritualität war in vielen
Gesellschaften immer schon ein Werkzeug, um das zu erreichen.
aus 'HUMONDE - Zeitschrift für eine humane Welt und
Wirtschaft' 1/2004 - www.humonde.de
Wir selbst müssen die Veränderung sein,
die wir in der Welt sehen wollen.
Mahatma Gandhi, ind. Politiker 1869-1948
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