G A N Z H E I T L I C H H E I L E N Wandlungs-RitualeÜbergang in neue Lebensabschnitte Alles in der Natur unterliegt einem Wandel die Raupe, die zum Schmetterling wird, die Schlange, die ihre Haut abwirft... Heute noch wird in bestimmten Kulturen ganz bewußt der Übergang vom Kind zum Erwachsenen im Rahmen eines Wandlungsrituals gefeiert, während bei uns Rituale wie Pubertäts- und Todesriten in Vergessenheit geraten sind. Wie wichtig für unsere Reifung die Durchführung von Ritualen ist, die uns über die Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt helfen, zeigt Paul Rebillot auf, Leiter einer Schule für Gestaltarbeit und Erfahrungslehre. Ich habe einmal von einem Ritual gehört, das bei den Aborigines (Ureinwohner Australiens) durchgeführt wird, wenn die Jungen zum Mannesalter heranwachsen. Bei diesen Stämmen leben Frauen und Männer getrennt voneinander in verschiedenen Teilen ihre Dorfes. Die Jungen leben mit den Müttern bis zu dem Alter zusammen, in dem es Zeit ist, in den Dorfteil der Männer umzusiedeln. So wird der Übergang ins Erwachsenensein durch den Umzug von dem einen in den anderen Dorfteil ganz deutlich. Von früher Kindheit an werden den Kindern Geschichten von Göttern und Göttinnen erzählt, die den Stamm mit Nahrung und Unterkunft versorgen und das Leben spenden. Es wird ihnen aber auch erzählt, daß die Götter beim Heranwachsen zum Mann ein Opfer verlangen: Sie äßen das Fleisch der Kinder und ließen nur noch die Knochen übrig, aus denen dann - wie ein Phönix - der Mann geboren würde. Die Jungen glauben also fest daran, daß dies unweigerlich geschehen wird, wenn sie in die Pubertät kommen. Wenn die Zeit des Rituals naht, vergewissert sich die Mutter daß ihr Sohn alles lernt, was sie ihm für das Erwachsenenalter ans Herz legen möchte: Auf Körperhygiene zu achten und darauf, wie er gesund und stark bleibt, kurzum ihre ganze Lebensphilosophie. Andererseits bringt sie während dieser Zeit auch ihre Gefühle über den bevorstehenden Verlust zum Ausdruck, sie beginnt, sich zu verabschieden. Wenn schließlich der lang erwartete Tag erreicht ist, wird dem Jungen eine Kappe übergezogen, damit er nicht sieht, was vor sich geht, und er wartet ängstlich in seiner Hütte. Plötzlich hört er Lärm, die Tore des Frauendorfes werden aufgebrochen, Männer dringen schreiend und lärmend ein; sie schnappen sich den Jungen, werfen ihn über die Schulter und rennen mit ihm davon. Die Frauen jagen ihnen schreiend nach, sie stampfen mit den Füßen, schlagen mit den Fäusten, raufen sich wehklagend ihre Haare und weinen: "O mein Kind, mein kleiner Junge ist weg, ich werde ihn nie wiedersehen!" Sie können sich nicht beruhigen, denn sie wissen, ihr Kind hat das Heim für immer verlassen. In diesen Momenten der Katharsis (Läuterung) setzen sie alle ihre Gefühle frei, die viele Eltern unserer Gesellschaft bis weit ins spätere Leben mit sich herumtragen. Alle Trauer und aller Schmerz kommen explosionsartig an den Toren des Dorfes zum Ausbruch und es ist richtig, denn für diese Mutter ist das Kind wirklich "gestorben". Inzwischen schleppen die Männer die Kinder in den Wald hinaus zu einem besonderen Kultplatz. Den Kindern werden Schaufeln gegeben, und jeder der kleinen Jungen muß sein eigenes Grab graben. Dieses Ritual wird gewöhnlich in einer dunklen, mondlosen Nacht durchgeführt. Bei Einbruch der Dämmerung verabschieden sich die Erwachsenen von den Jungen: "Wir dürfen nicht hierbleiben. Wenn die Götter kommen, wollen sie ihr Opfer holen und euch auffressen. Der kleine Junge muß sterben. Ihr werdet sie an ihrem Geheule erkennen." So liegen die kleinen Jungen in ihren Gräbern und lauschen den Geräuschen in der anbrechenden Nacht, bis es vollkommen dunkel ist. Inzwischen haben sich die Männer im weiten Umkreis um die Gräber versammelt. Sie haben Heulkreisel mitgenommen, das sind Bambus- oder Elfenbeinrohre, die, an Stäben befestigt, beim Herumwirbeln furchterregendes Geheul erzeugen. Auf ein Zeichen hin wirbeln alle Männer mit ihren Instrumenten los und ziehen langsam den Kreis um die Gräber der Jungen immer enger. Immer näher und näher kommen sie mit ihrem Geheule. Die Jungen zittern vor Angst und Erwartung in ihren Gräbern. Endlich, wenn die Männer fast über ihnen angelangt sind, springt einer von ihnen in die Mitte des Kreises und entfacht ein Feuer... Und was die Kinder in der Helligkeit des Feuers erkennen, sind erwachsene Männer, die ihnen die Hände reichen und sie ans Licht hinausziehen und ihnen sagen: "Seht, das sind eure heulenden Götter: Stäbe mit Bambusrohren daran, mit denen man Krach machen kann! Es gibt gar keine Götter, die euch fressen wollen. Es gibt keine Götter, die uns mit Fleisch versorgen und auch keine, die Wohnungen für uns bauen. Das ist nicht Aufgabe der Götter, wir Männer müssen das tun! Die Götter haben uns erschaffen, das ist alles! Wir müssen uns um alles andere kümmern. Und jetzt, da ihr das wißt, seid ihr keine Kinder mehr, ihr seid jetzt Erwachsene!" Danach bleiben sie eine Zeitlang zusammen in der Wildnis, lehren die Jungen Fischen und Jagen und die Aufgaben zu tun, die die Männer dieser Gesellschaft zu erfüllen haben. Nach dieser Zeit legen die jungen Erwachsenen ihre schönen, neuen Kleider an und ziehen freudestrahlend, begleitet von Trommeln und Zimbeln, wieder in das Dorf ein. Die Frauen begrüßen sie, und ein großes Fest mit Gesang und Tanz wird gefeiert, denn schließlich hat das Dorf jetzt mehr erwachsene Männer als zuvor. Das ist ein Wandlungsritual, das den Übergang in neue Lebensabschnitte feiert. Übergang von einem Zustand des Seins zum anderen Wie fanden wir heraus, daß es keinen Nikolaus gibt? Wurde das ähnlich rituell gefeiert oder haben wir es heimlich durch das Schlüsselloch herausgefunden? Leider besitzen wir heutzutage keine echten Rituale mehr, die uns über die verschiedenen Schwellen helfen können. Wozu braucht man ein solches Wandlungsritual? Es hat verschiedene Aufgaben: Erstens dient es dazu, den Übergang über eine Schwelle zu inszenieren, den Wechsel von einer Lebensphase in die nächste als wunderschönes Drama zu gestalten. Ein schönes Beispiel dafür ist die Wandlung der Raupe, die auf den Baum kriecht, sich sehr sorgfältig in einen Kokon einspinnt und dann langsam verändert, bis sie als vollständig neues Wesen entschlüpft. Jede Schwelle im Leben hat mehr oder weniger die gleiche Kraft der Wandlung. Auf der einen Seite der Schwelle sind wir eine bestimmte Art von Wesen und auf der anderen ein vollkommen anderes. Ein Wandlungsritual versinnbildlicht diesen Vorgang. Ein Wandlungsritual verbindet all die Veränderungen, die wir in unserem Lebensprozeß durchlaufen, mit den universellen Gesetzmäßigkeiten: Mit der Tatsache, daß sich eine Raupe in einen Schmetterling verwandelt; daß ein Vogel aus dem Nest geworfen wird, um ein fliegendes Wesen zu werden; daß der Tag dämmert, die Nacht hereinbricht - all das sind Schwellen, Wandlungen. Alles Leben, alles Erschaffene unterliegt diesem Wandel. Rituale erinnern uns daran, daß wir eins sind mit der universellen Lebenskraft. Meistens glauben wir, daß wir mit unseren Problemen allein sind, so als ob niemandem vor uns solche Schwierigkeiten widerfahren wären und kein anderer jemals in dieser Situation gewesen wäre. Wir erkennen sie nicht als Wandlungsprozeß, sondern halten es für unser besonderes, persönliches Problem. Ein Ritual dient dazu, die persönliche Erfahrung zu verallgemeinern und ihr einen Platz in der kosmischen Ordnung zuzuweisen. Jeder macht die gleichen Erfahrungen Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Frau, die mit Jugendlichen arbeitet und Rituale mit ihnen entwickelte. Sie stellte fest, daß es für die jungen Menschen das Wichtigste gewesen wäre zu erkennen, daß ein jeder die gleichen Erfahrungen machte. Sie sind nicht allein mit ihrem Pickel auf der Nase. Es liegt eine Universalität in diesen Lebensveränderungen und ein Ritual macht uns diesen Vorgang bewußt und verbindet uns so mit der dahinter wirkenden spirituellen Kraft. Wenn wir ein Ritual bewußt durchführen, es durch unsere kreative Kraft gestalten, werden wir zu Mitschöpfern des Schöpfers - wir nehmen aktiv an unserem eigenen Werden teil. Anstatt also wie Kinder durch Wandlungen hindurchgewirbelt zu werden, verbinden wir uns mit dem Prozeß und gehen bewußt mit unserem Lebensstrom mit. Und weil wir uns durch unser Ritual in Beziehung zum universellen Lebensgesetz bringen, nehmen wir bewußt an der menschlichen Evolution teil. Ein anderer, wichtiger Aspekt besteht darin, daß unsere Rolle innerhalb eines Rituals bezeugt wird. Wir können Rituale auch alleine durchführen, ein Wandlungsritual wird jedoch gemeinsam mit anderen Menschen vollzogen. Die Gemeinschaft wird aufgerufen, den durchlaufenden Wandel zu bezeugen und anzuerkennen, was auch einer Art Segnung entspricht. Wenn ein Wandlungsritual ein Überschreiten einer Schwelle darstellt, was ist dann die "Schwelle"? Eine Schwelle ist der Übergang zwischen zwei Welten oder zwei Zuständen. Sie ist die Trennungslinie, die das eine vom anderen unterscheiden läßt. Wenn ich von einem Raum in den anderen gehe, überschreite ich beim Durchgang die Türschwelle. Eine Schwelle kann als Grenze, Trennungslinie oder als zeitlicher Wandlungsprozeß, als Metamorphose wie die Verpuppung im Leben einer Raupe verstanden werden. Fehlende Wandlungsrituale und die Folgen In unserer heutigen Zeit, in der Menschen nicht beim Überschreiten von Lebensschwellen geholfen wird, wenden sie sich Drogen, Jugendbanden und Gewalttätigkeit zu, erleiden psychotische Zustände und erleben in der Lebensmitte Scheidung und Wiederheirat. Ein besonderes Beispiel habe ich einmal in einer Schauspielerkommune erlebt. Eine der Mitbewohnerinnen wollte sie verlassen und ich beobachtete, daß sie das auf sehr merkwürdige Art und Weise tat. Obwohl sie mit fast allen Mitgliedern der Kommune befreundet war, konnte es ihr plötzlich keiner mehr recht machen. Jeden erklärte sie für egoistisch, streitsüchtig und gräßlich. Ist das nicht auch so bei Jugendlichen, wenn sie ihr Elternhaus verlassen wollen? Plötzlich ist alles falsch, was die Eltern tun, wie sie sich kleiden, was sie denken und welche Vorstellungen sie haben. Die Jugendlichen müssen Monster erschaffen, um genug Mut aufzubringen, das bequeme Nest zu verlassen. Die Geschichte der Aborigines ist nur eine andere Form, das Elternhaus zu verlassen. Ich bin der Ansicht, daß die Probleme, die wir zur Zeit mit Jugendlichen haben, auf den Mangel an Wandlungsritualen zurückzuführen sind. Ebenso wie die Raupe stirbt, damit der Schmetterling zum Leben erwacht, muß der Jugendliche sterben, um als Erwachsener geboren werden zu können. In vielen Fällen greifen Jugendliche zu Drogen, um ihren Tod und die Auferstehung zu inszenieren, oder sie versuchen andere zu zerstören. Das Tragische dabei ist jedoch, daß so viele dabei nicht überleben. Wachsendes Bedürfnis nach neuen Formen von Ritualen Seit der Zeit der "Aufklärung" haben wir in unserem Bestreben, alles in rationelle Begriffe zu zwängen, die Verbindung zum Heiligen verloren, zu der Magie, die im Ritual stattfindet. Wir haben es als primitiv abgewertet und beseitigt. Viele haben sich durch religiöse und militärische Rituale beleidigt, gelangweilt oder zutiefst verletzt und in ihrer persönlichen Freiheit beschnitten gefühlt. Jedoch immer mehr Menschen erkennen, daß der Intellekt allein, so großartig er auch sein mag, nicht Erfüllung bringt. Er befriedigt nicht das Herz und viele leiden an den unvollendeten Übergängen. In der letzten Zeit suchen die Menschen ständig nach neuen Formen von Ritualen. Das, was heutzutage dem alten Ritual am ehesten gleicht, finden wir in der Therapie-Szene. Die Menschen erleben erneut ihre unbewältigten Erfahrungen, das Verlassen des Elternhauses, den Wechsel eines Partners und arbeiten diejenigen Ereignisse auf, die sie in ihrem jetzigen Leben als schwierig empfinden. Sie tun dies, um sich zu heilen - es kann viel erreicht werden, wenn Menschen sich gestatten, ihre Gefühle, die sich bei Lebensveränderungen angestaut haben, zuzulassen und dabei zu Ende bringen, was unbearbeitet geblieben war. Und auch viele Therapeuten möchten das rituelle Wissen nutzen, um ihren Klienten bei der Bewältigung ihrer Lebensveränderungen behilflich sein zu können. Die inneren Fesseln sprengen Das Ziel von Seminaren über Wandlungsrituale besteht darin, den Menschen eine Grundform als Hilfe zur Entwicklung eigener Rituale zu geben - nicht für Rituale, die Macht oder Kontrolle über andere ausüben, sondern für solche, die die Begrenzungen der eigenen Seele aufrütteln, so daß sie wieder frei fliegen möge. Die Menschen entdecken selbst die Schwellen, an denen sie noch arbeiten müssen, entwerfen ihr eigenes Ritual und bitten die Gruppe, aktiv und bezeugend mitzumachen und so mitzuhelfen, das Überschreiten der Schwelle in Szene zu setzen. Als Ergebnis dieses gemeinsam zelebrierten Rituals fühlt sich der Betreffende befreit, gestärkt und erfüllt. Paul Rebillot _____________ Paul Rebillot ist einer der Gründerväter der Gestaltarbeit. Er war Schauspieler, Regisseur und Lehrer für klassisches und zeitgenössisches Drama und leitet seit über 20 Jahren Gruppen am Esalen Institut und verschiedenen Zentren in Europa. Seit Juli 1988 leitet er dreijährige Ausbildungsprogramme in seiner Schule für Gestalt und Erfahrungslehre in der Schweiz und in Frankreich. Weitere Informationen über ihn und seine Seminare erhalten sie bei: Frankfurter Ring e.V., Kobbachstraße 12, D-60433 Frankfurt/Main. Tel. 069 511555. Quelle: NATUR & HEILEN 11/ 94 weitere Texte zum Thema Rituale Texte zum Thema Jugend-Seminare Mit freundlichen Empfehlungen 7/1999 nach oben - Service - Menue - Texte-Verzeichnis - Stichworte www.humanistische-aktion.de/rituale.htm |
Aktualisiert am 12.11.11