Musik
Die Austreibung des Fleisches aus der Musik
des Abendlandes Alle Musikkulturen der Welt sind "einzigartig", keine Frage. Und viele (nicht nur die abendländische) haben sich bei Gelegenheit als etwas "ganz besonderes verstanden, das sich auf Kosten "der Anderen" breitmachen müsse. Mit oder ohne Feuer und Schwert, per Bildungswesen oder je historischer Kommunikationstechnik - so wie die Mächte, Religionen, Wert- und Wirtschaftsinteressen, die dahinter standen. Von einem welthistorischen Sonderweg der Musik soll hier die Rede sein, der in vielfacher Hinsicht "Schule gemacht" hat: Einzig im abendländischen Mittelalter ist, auf der Basis einer besonders ausgefeilten Notenschrift, die melodische Mehrstimmigkeit entwickelt worden: Vom zweistimmigen Organum der Klöster des 11. Jahrhunderts zur drei- und vierstimmigen Messe, vom Madrigal der Renaissance zu Kanon und Fuge des Barock, bis zur Symphonie der Klassik und Romantik und den polyphonen (mehrstimmigen) Werken der neuen Musik des 20. Jahrhunderts: "Lichte Gewebe" mehrerer Linien, "punctus contra punctum" (Note gegen Note) fein kalkuliert nach horizontalem Fluß (Melodik) und vertikalem Zusammenklang (Harmonie). Auffällig "unterentwickelt" blieb dabei - im Vergleich zu allen anderen (musikalischen) Kulturen - das Element des Rhythmus: Die - melodisch - einstimmigen Musiken beispielsweise der afrikanischen oder südostasiatischen Tradition zeigen dagegen eine solche, oft spontane rhythmische Vielfalt, daß noch die komplizierteste Symphonie Mozarts, Bruckners oder Sostakowitschs im Vergleich dazu "ärmlich" erscheint - ausschließlich, was die verwendeten Rhythmen betrifft, wie der Jazz-Musiker und -Professor Joe Viera bemerkte. Schneller! höher! neuer? Wann und wo sind die Weichen für diesen Sonderweg gestellt worden? Musik im Abendland ist sehr früh verwissenschaftlicht worden - zum Beispiel mit den Berechnungen von Pythagoras (600 v.Chr.) über die Schwingungsverhältnisse von Saiten und seiner mathematisch-philosophischen Theorie von der "Harmonie der Sphären". Und es gab in der Musik, wie in der Technik, Wirtschaft und Politik, jenen beispiellosen Drang, sich und die Natur (das "Material") abzuarbeiten auf ein Ziel hin - sei dieses historisch (Glückseligkeit, "Reich der Freiheit", Demokratie als Überwindung der Tyrannis) oder metaphysisch (Paradies). Dieses "lineare geschichtliche Denken" ist dem Judentum, der griechischen Antike und dem Christentum gemeinsam. Ihm ist "alles einmalig, unwiederholbar und damit von letztem Ernst" - in der Musik hält es sich kaum auf mit genußvoll-kumulativerAusschmückung des "Immergleichen", das die Heiterkeit und die unendlich vielen feinen Varianten etwa der afrikanischen Musik hervorgebracht hat." Entwicklung", "Bearbeitung", "Neuerung" und "Uberwindung der Bodenhaftung" sind Maximen der Musikauffassung hier - und man(n) setzt das Individuelle gegen das Kollektive, das Erneuern gegen das Erhalten, das Machen gegen das Lassen, das Wollen gegen das Erfahren, das Verbessern gegen das Pflegen, das Oben (Himmel, Licht, Luft, Gedanke, Wort) gegen das Unten (Erde, Dunkelheit, Schwere, Körper, Trieb, Gefühl, Ton) und das Morgen gegen das Heute, welches dazu noch immer verstellt wird vom Gestern: Aufgehäufter; in Musikkonserven "vergegenständlichter Arbeit" jahrhundertelanger Vergangenheit, die ihre "Einmaligkeit" zu verewigen trachtet. Soviel anwachsende Konkurrenz sich selbst gegenüber hat die Musik hierzulande immer Schneller werden lassen - genau wie die Fortbewegungsmittel und Informationsflüsse. Als ginge es auch in der Musik um Rekorde, wurde die europäische Kunstmusik der letzten Jahrhunderte auch zur Arena eines "Wettstreites" um das "Höchste" (auch ganz wörtlich um's "hohe C"), Brillanteste ("wer spielt schneller?"), "Größte" (auch: "Wer gebietet über mehr "musikalische Heerscharen"? - etwa in G. Mahlers "Symphonie der Tausend") oder "Kleinste" (die romantischen KlavierkomponistInnen, die erstmals im kürzest möglichen Stück größtmöglichen Gefühlsausdruck darstellten wurden "Miniaturisten" genannt!) Und auch der "Kammerton a" wurde seit er gemessen wurde, bis heute ständig erhöht: Die Stimmgabeln Bachs, Händels oder Mozarts liegen bei 415, 420 oder 421 Hz (Schwingungen pro Sekunde) - heute stimmen die Orchester "a" mit 444 Hz, die Berliner Philharmoniker wollen "die Nase vorn" haben: Ihr Kammerton liegt bereits bei 447 Hz. Wenn man genau hinsieht: Darin steckt auch wieder ein Schneller werden - denn höhere Töne schwingen schneller. "Geschwindigkeit ist das Wesen des Krieges" formulierte Paul Virilio - und Peter Sloterdijk bezeichnet die gesamtgesellschaftliche Beschleunigung, die das Körperliche immer rascher "abfertigt", als "Mobilmachung". Die Musik hat diesen abendländischen Tanz um das "goldene Kalb" der "Mobilität" auf besondere Weise mitgemacht und widergespiegelt: Als "Gedankenmusik" löste sie sich zunehmend von den körperlichen Tempi und Rhythmen des Gehens, des Laufens, des Springens, des Herz- und Pulsschlages, des Atems, der sexuellen Spannung und Entspannung und der periodischen Bedürfnisse nach Anstrengung und Ruhe. Daß diese "atemberaubende" Entwicklung hierzulande stattfand, ist von Musikern und Nichtmusikern immer wieder beklagt oder gefeiert worden. Musik, so schnell wie der Gedanke, nach der Erfindung der Notenschrift und dem (Wieder)Vordringen der Instrumentalmusik gespielt "mit geläufigen Fingern, die dem Gefühl, oft auch dem Verstand davonlaufen" (Beethoven) - oder mit mechanischen, elektr(on)ischen und digitalen Musikmaschinen. Die Musik im Abendland muß immer weiter - Fortschritt permanent. Das macht sie "interessant", auch anspruchsvoll: Seit tausend Jahren verlangt die "E-Musik" Bildung, ist relativ schwer zu hören (und zu spielen oder singen). Und selten ist es der "Hoch"-Musik hierzulande "passiert", daß sie "positiv auf der Stelle tritt", quasi "zum Augenblick sagen möchte: Verweile doch, Du bist so schön!" - das sind dann die "schönen Stellen", denen wir uns nicht allzu sehr hingeben sollten, folgen wir den Verdikten von Päpsten, Staatsphilosophen, (Musik)Wissenschaftlern und Lehrern, die sich das abendländisch Prinzip für ihre jeweiligen Zwecke zu eigen machten. Noch in unserem Jahrhundert äußerte sich ein - linker - "Musikpapst"' der Sozialphilosoph und Musiksoziologe Theodor W. Adorno, abfällig über den "Typen des emotionalen Hörers", der in der Musik auf die "schönen Stellen" wartet. Auf der Höhe der abendländischen Musik sei nur, wem die "sachgerechte Imagination" der gehörten musikalischen "Struktur" gelänge. Mit anderen Worten: Wenn's nach Adorno gegangen wäre, genügte schon das richtige Lesen und Verstehen der Noten für den Musikgenuß! (Was seine Studenten wörtlich nahmen, und ihm zum Geburtstag ein neues Chorwerk "uraufführten", indem sie ihm die Noten überreichten - aber der Festchor blieb nach dem Einsatz des Dirigenten konsequent stumm.) 'diesseits' 19/92
lesen Sie hierzu auch den Text 'Was ist Kunst?'
Das Jahr begann mit einer guten Nachricht: Am 10. Februar meldete die US-Firma Muzak Konkurs an. Muzak - das ist ein Synonym für das Gedudel, das in Fahrstühlen und Einkauszentren akustisch die Luft verschmutzt. Früher produzierte Muzak seine Klangtapeten selbst, zuletzt vertrieb die Firma nur noch bereits existierendes Material.
Nun haben wir ja in den vergangenen Monaten gelernt, dass ein Bankrott nicht
gleichbedeutend mit dem Tod ist, und so wird Muzak wohl ebenso weiterleben
wie manche Automarke. Die wirklich schlechte Meldung aber kommt aus Spanien:
Dort haben Forscher ein Computersystem entwickelt, das Hintergrundmusik
selbstständig komponiert - der Nutzer muss nur Stil und Stimmung eingeben,
und es ergießt sich eine wiederholungsfreie Klangsoße, für
die nicht einmal Lizensgebühren fällig sind. Solche Entwicklungen
sind es, die sogar die Wissen-Redaktion dieser Zeitung in die
Technikfeindlichkeit treiben können. * "Der zarte Klang von Frischkäse" "Sound Branding" boomt: mit Melodien, Klängen und Geräuschen schaffen es Psychologen, unsere Kauflust zu wecken. von Ekkehard Kern Berlin - ... Das "Sound Branding", der Aufbau einer Markenidentität mit akustischen Mitteln, werde wichtiger. ... ... Um das zu erreichen, ist Musik besonders gut geeignet. Denn sie kann die Aufmerksamkeit des Menschen aktivieren, selbst wenn dieser abgelenkt ist. Im Gegensatz zum Fernsehbild ist keine direkte Hinwendung zum Medium notwenig, denn das Ohr hört immer mit. ... ... Man kann hier also von einer manipulativen Kraft der Klänge sprechen, sagt Klaus Frieler. Paul Steiner (Autor des Buches "Sound Branding") schreibt, dass Soundlogos auf dem Prinzip der sogenannten Sonic Mnemonics basieren, die als Gedächtnisstütze dienen und Assoziationen hervorrufen können - ... ... 'Audi' hingegen hat mit seinem "Herzschlag" genannten Soundlogo jüngst den begehrten "red dot design award" gewonnen. "Unser Ziel war, dass unsere Kunden die Werbespots selbst mit verbundenen Augen erkennen", ... Teilabschrift aus der Berliner 'Morgenpost' vom 24. Februar 2011
Interessante Links zum Thema Musik: Deutsche Gesellschaft
für Musiktherapie: www.musiktherapie.de Artikel 'Kinder optimal fördern - mit Musik' von Hans Günther Bastian: www.coaching-kiste.de/musik.htm Mit freundlichen Empfehlungen Humanistische AKTION 6/1999 nach oben - Service - Menue - Texte-Verzeichnis - Stichwörter www.humanistische-aktion.de/musik.htm |
Aktualisiert am 20.10.11