Schutz vor Amokläufen durch Menschenbildung

Gedanken eines Bürgers 

Bei seinem Amoklauf am 11.03.09 an einer Realschule in Winnenden und seiner anschließenden Flucht nach Wendlingen hatte der 17jährige Tim K. 15 Menschen getötet, darunter neun Schüler und drei Lehrerinnen an seiner ehemaligen Schule. Danach tötete er sich selbst.

"... Warum haben wir seine Verzweiflung und seinen Hass nicht bemerkt? Bis zu den furchtbaren Geschehen waren auch wir eine ganz normale Familie. Wir hätten Tim so etwas nie zugetraut und kannten ihn anders ..." so ist im offenen Brief der Eltern des Amok-Schülers an die Angehörigen und Freunde der Opfer zu lesen.

Was ist heute eine ganz normale Familie? Die Familie als kulturelle Keimzelle der Gesellschaft ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr in dem erforderlichen Ausmaß gegeben, selbst in den maßgebenden Gesellschafts-Schichten nicht. Diese Aufgabe wird zunehmend von der Schule wahrgenommen werden müssen, wenn unsere permanente Kulturkrise als eigentliche Ursache der übrigen Krisen überwunden werden soll.
 

In den Herzen
der folgsamen
Kinder
nistet
knisternd
und raschelnd
die Rache.

H.C. Flemming

EmpfehlenswertAbschiedsbrief des Amokschülers von Emsdetten

Beitrag aus einem Forum zum Amoklauf:

Die Auseinandersetzung mit unseren Gefühlen lernen wir nirgends. Wir lernen die Klassiker deutscher "Kultur" kennen (Schillers Ode: "Siegreich wie ein Held zu sein"), aber niemand sagt den Kindern mal: Setzt euch mal hin mit Papier und Bleistift, und schreibt auf was ihr fühlt, wovor ihr Angst habt, was euch ärgert, was ihr gerne machen würdet. Redet mit anderen darüber. Und schaut euch das ganze mit etwas zeitlichem Abstand mal an. Macht dann das selbe nochmal.
 

Etliche Probleme, die wir zur Zeit mit Jugendlichen haben, sind auf den Mangel an Wandlungsritualen zurückzuführen. Ebenso wie die Raupe stirbt, damit der Schmetterling zum Leben erwacht, muß der Jugendliche sterben, um als Erwachsener geboren werden zu können. In vielen Fällen greifen Jugendliche zu Drogen, um ihren Tod und die Auferstehung zu inszenieren, oder sie versuchen andere zu zerstören. Das Tragische dabei ist jedoch, daß so viele dabei nicht überleben.  Paul Rebillot - Mehr:

Was tun?

Nachhaltiger Schutz vor Amokläufen in Schulen ist nicht allein durch noch so nötige diverse Kontrollen, Beschränkungen bzw. Verbote von Waffen und Spielen zu erreichen, sondern vor allem durch Menschenbildung. Ein Unterrichtsfach 'Persönlichkeitsbildung' mindestens eine Stunde pro Woche und Klasse müßte baldmöglichst eingerichtet werden. Der Erfolg wird allerdings - stärker als in anderen Fächern - von der Qualität des Unterrichts mit geeignetem Personal abhängen. Vorbildliche Ansätze in dieser Richtung gibt es bereits, beispielsweise unter dem Namen Schulfach 'Glück' in Deutschland, England und USA, bei denen es nicht um Glück als Zufall, sondern vor allem um Persönlichkeitsbildung geht. Erwähnt sei hier auch das 'Philosophieren mit Kindern', was Kindern keine Philosophiegeschichte, sondern freies fragen, genaues zuhören, hinterfragen und verstehen wollen vermittelt.

Außerdem sollte in allen Schulen jedes Jahr für alle 14jährigen ein mehrtägiges Jugendseminar außerhalb des Wohnortes stattfinden, in welchem mit Gesprächen, Rollenspielen und Erlebnis-Projekten Selbstwahrnehmung, -findung, -bewußtsein, -vertrauen, -sicherheit, Kritik- und Konfliktfähigkeit sowie Lebensorientierung und Identitätsstärkung eingeübt werden. Mit einer abschließenden Feier würde gewissermaßen ein Initiationsritual den Übergang vom Kind zum Jugendlichen nachdrücklich bekunden. Auch hier gibt es seit vielen Jahren von verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften entsprechende Veranstaltungen, deren Bildungs-Inhalte jedoch sehr von der jeweiligen ideologischen Ausrichtung abhängig sind, die auch kaum nach außen dringen und so einer öffentlichen Diskussion, einer gegenseitigen Abstimmung und Weiterentwicklung entzogen werden. Von daher wäre eine konfessions- und vereinsunabhängige universale Veranstaltung mit pädagogisch und psychologisch ausgearbeiteten und begleiteten Bildungsangeboten an allen staatlich anerkannten Schulen besonders wichtig um eine Chancengleichheit zu gewährleisten.

Später kann mit 18 Jahren auch die Volljährigkeit öffentlich gewürdigt werden, um den Jugendlichen ihre neue Identität als gleichberechtigte Staatsbürger erlebbar werden zu lassen. Entsprechende Angebote gibt es schon länger z.B. in verschiedenen Stadtbezirken Münchens.

In diesen drei Bereichen, Persönlichkeitsbildung im regelmäßigen Schulunterricht, Jugendseminar im 14. Lebensjahr und Volljährigkeits-Feier könnten die ethischen Merkmale einer gebildeten Persönlichkeit erarbeitet und verinnerlicht werden, die zu einer verantwortlichen Menschlichkeit befähigen, wie sie in einer menschenwürdigen Kultur, in einer demokratischen Gesellschaft und in einer dem Menschen dienenden Wirtschaft gebraucht wird.

Es wäre wünschenswert, daß sich möglichst viele Bürger, jung und alt, an der Entwicklung entsprechender Konzepte und deren Diskussion beteiligen.

Rudolf Kuhr

Starke Bindungen,
Orientierung und Kontrolle,
Lustgewinn,
Selbstwerterhöhung.

vier Grundbedürfnisse von Schülern

 
weitere Texte zum Thema Jugend

Philosophieren mit Kindern

Erfolg des Schulfachs 'Glück' wissenschaftlich belegt

Buchempfehlung: Ernst Fritz-Schubert, Schulfach Glück - Wie ein neues Fach die Schule verändert. Verlag: Herder ISBN 978-3-451-29849-3

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Leitgedanken zur Persönlichkeitsbildung

Freund, der Mensch ist gut, und will das Gute, er will nur dabei auch wohl sein, wenn er es tut und wenn er böse ist, so hat man ihm sicher den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte. Heinrich Pestalozzi, Pädagoge (1746-1827)

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Ethik ist eine bis ins Unendliche erweiterte Verantwortung.
Albert Schweitzer, Arzt und Philosoph (1875-1965)

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Sinn unseres Lebens ist größtmögliche Entfaltung und Vervollkommnung der eigenen
Persönlichkeit in größtmöglicher Harmonie und Verbundenheit zu unserer Mitwelt.

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Wenn es heute einen Glauben gibt, der vertretbar ist, dann ist es der Glaube an die Bildungsfähigkeit des Menschen zu einem sozial und ökologisch handelnden, mündigen Gemeinschaftswesen und daran, daß die Natur den Menschen nicht braucht, wohl aber der Mensch die Natur.

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Mündigkeit bedeutet mehr als nur Volljährigkeit. Mündigkeit heißt, eine kritische Distanz nicht nur zu seiner Mitwelt, sondern auch zu sich selbst zu haben, für sich selbst voll- und für seine Mitwelt mitverantwortlich sein zu können und zu wollen.

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Einer der Wege, die zum  w a h r e n  Menschsein führen, besteht in dem Bemühen, aus der Anerkennung der Wahrheit Lust zu schöpfen, anstatt aus dem Glauben an schöne, aber falsche Vorstellungen. Man muß sich von Vorurteilen, seien sie nun idealistischer oder religiöser Art, zu seinem eigenen Wohle, zum Wohle unserer Kinder und zum Wohle unserer Mitmenschen befreien. (Herbert James Campbell, Neurologe)

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Jeder Mensch hat grundsätzlich von der Natur die Anlage, einen hohen Grad an Weisheit zu erlangen. Die bisherigen Kulturen lassen jedoch eine solche Entwicklung nur in Ausnahmefällen zu. Die Menschheit insgesamt zeigt keine Weisheit, sie gleicht einem Bakterienstamm, der sich ungehemmt solange vermehrt, bis seine Lebensgrundlagen verbraucht sind. Mag sein, daß dies der Sinn der Schöpfung oder der Natur ist, menschenwürdig ist es nicht. - Kultur braucht deshalb Erneuerung: eine humanistische Orientierung zur verstärkten Bildung von verantwortlicher Menschlichkeit!

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Wenn der Mensch fähig sein soll zu lieben,
muß seine Entfaltung das höchste Ziel
der Gesellschaft sein.

Erich Fromm, Psychoanalytiker (1900-1980)



3/2009  Humanistische AKTION
 
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Aktualisiert am 01.12.11