Ästhetik im Westen

Sprachkultur herrscht, Kunst ergänzt leider nur...
 
Von Dieter Dieterich

Der Begriff Ästhetik klingt meinen Ohren zu geistesgeschichtlich, zu philosophisch, zu abgehoben. Meyers Gr. Taschenlexikon definiert: Ästhetik [griechisch "Wahrnehmung"] die, Wissenschaft, die im weiteren Sinn allgemeine Probleme der Kunst (Kunst-, Literatur-, Musiktheorie), im engeren Sinn Grundkategorien sinnlicher Erfahrung (das Schöne, Erhabene, Hässliche, Tragische, Komische usw.) behandelt. ....

Ich verbinde Ästhetik gerade nicht mit Wissenschaft; vielmehr mit sinnlicher Wahrnehmung, also mit Bild- und Toneindrücken, aber auch mit solchen des Geruchs und des Geschmacks, sogar des Tastsinns. Wahrnehmend sind also die Sinnesorgane, die ihre Eindrücke vor allem an das Limbische System und wohl auch an die rechte Großhirnhälfte weiterleiten. Ästhetik ist primär nonverbal, besteht im unmittelbaren Eindruck, auch wenn anschließend auf einer Metaebene sprachlich darüber reflektiert werden kann. Ästhetik kommt meines Wissens in sogenannten Intelligenz-Tests nicht vor. Das spricht allerdings nur für die Lebensferne dieser Tests - womöglich sogar gegen das Verständnis von Intelligenz - keinesfalls gegen die Bedeutung der Ästhetik. Mit Sprachinhalten hat Ästhetik nicht zu tun - die Sprachzentren im Gehirn (Broca- und Wernicke-Zentrum) dürften an der nonverbalen Verarbeitung des Ästhetischen nicht beteiligt sein. Sprachformen, also Lautung, Rede, Schrift, Didaktik, Darstellungsform eines Vortrags oder von Literatur weisen dagegen durchaus ästhetische Qualität auf.

Als menschliches Eindrucks- und Ausdrucksvermögen, sei es einfach Äußerungsbedürfnis oder auch Kommunikationswunsch im weitesten Sinne, ist der Bereich des Ästhetischen nicht weniger fundamental als der durch Sprache gegebene. Dies war vermutlich in Antike und Mittelalter noch unreflektiert selbstverständlich.

Im Gefolge neuzeitlicher Aufklärung und insbesondere moderner Naturwissenschaft trat Sprache in Wort und Schrift ihre Herrschaft an. Mit der Einführung und Durchsetzung allgemeiner Schulpflicht und der Herausbildung einer verbindlichen deutschen Sprache wurde sprachliche Aufklärungskultur ein Massenphänomen. Als "gebildet" galt nur, wer aktiv und passiv mit Sprache umgehen konnte. Der Zeitungsleser war informiert und damit auf der Höhe der Zeit Was es in der Welt an Neuem gab, konnte man lesen. So entwickelte sich eine Vorliebe, inzwischen sogar eine Sucht für die Neuigkeit, für das Unerhörte, das nie selbst Gesehene. Das Ästhetische wurde übertönt, verdrängt durch einen Ozean von Worten und Sätzen und selbst in der Kunst spielte die unmittelbare Wirkung des Ästhetischen auf Betrachter gegenüber verbaler Interpretation eine eher untergeordnete Rolle. Der Horizont erweiterte sich, die Welt wurde größer und vielfältiger, aber auch abstrakter. Sie wurde gewußt, auch von denen, die wenig unmittelbare Erfahrungsmöglichkeiten hatten.

Ein Mißgriff der Moderne

Die ästhetische Qualität ist demgegenüber unmittelbar. Interpretation und entsprechendes Verständnis ist bereits eine sekundäre Umformung auf eine sprachliche, deutende und wertende Metaebene, auf der Maßstäbe angelegt werden. Wiewohl auch das sogenannte "Unästhetische" der Ästhetik zugehört, hat im allgemeinen Sprachgebrauch das Ästhetische eine positive Konnotation.

Schönheit, Harmonie, Stimmigkeit, "Gekonntheit" rufen in den Betrachtenden Wohlbefinden, Freude, Glücksgefühle, "Erhebung", Bereicherung hervor. Dies sind Gefühlsqualitäten und so ist einleuchtend, daß mit der vermeintlichen Unterordnung der Gefühle unter den herrschenden Intellekt, das "bewußte Ich", auch die ästhetische Kultur der sprachlichen unterworfen wurde. Das ist ein schwerwiegender kultureller Mißgriff der Moderne!

Sprache gilt so sehr als der Inbegriff des spezifisch Menschlichen und seiner umfassendsten Ausdrucksmöglichkeit, daß Ästhetik zum zwar möglichen, aber durchaus nicht notwendigen Luxusgut für diejenigen, die es sich leisten können, verkommen ist. Zugleich wurde Ästhetik mit professioneller Kunst identifiziert. So spielte sie eigentlich nur noch im Kulturbetrieb eine wichtige Rolle. Ansonsten hatte Ästhetik im Alltag der Rationalität, der Zweckmäßigkeit, der Wirtschaftlichkeit, der Funktionalität und dem die Interessen ausgleichenden Diskurs zu weichen. Im Städtebau zu Ende des vorigen Jahrhunderts finden sich Resultate in Gestalt abstoßender Beispiele zuhauf. Ästhetik schien entbehrlich wie Zuckerguß und Sahnehäubchen; sie entsprach nicht dem reduktionistisch-wissenschaftlichen Aufklärungsideal. Ganz besonders war die Pädagogik davon betroffen.

Das Bildungsergebnis der insbesondere in den vergangenen 40 Jahren forciert und einseitig betriebenen Diskurskultur ist in meinen Augen mager, denn die Folgen einer ästhetischen und somit emotionalen Unterernährung sind erschreckend sichtbar: intellektuelle Überforderung, "soziale Kälte", mangelndes Selbstbewußtsein, Süchte, psychosomatische Erkrankungen. Zugleich die Entdeckung "menschlichen Versagens" als großen Übels im Raum der funktionalen Abläufe in Technik, Wirtschaft und Organisation mit der Folge, nunmehr eine dem Menschen überlegene künstlichen Intelligenz (KI) zu fordern und mit den technisch gegebenen Möglichkeiten auch zu erschaffen. Sie entsteht geradezu zwangsläufig aus einem funktionalistischen Menschenbild, dem der konkrete lebendige Mensch nicht entsprechen kann - und in humanistischer Perspektive ja auch gar nicht entsprechen soll.

Ungestillte menschliche Bedürfnisse suchen sich Surrogate als Ersatz. So ist es kein Wunder, daß - in Ermanglung besserer Alternativen - eine Spaß-, Bilder-. Video- und Eventkultur sich herausbildete, als deren Motor derzeit Computer und Internet fungieren. Die wachsenden Ansprüche an die interaktiv zu steuernde Video-Welt halten den Computer-Markt in Schwung und sorgen sowohl für den raschen Absatz der jeweils neuesten Generation als auch für Ansprüche an eine kommende: mehr Bites, mehr Pixel, schneller, farbiger, räumlicher, technisch anspruchsvoller. . .

Das Phänomen des Pendelschlags in die nonverbale Gegenrichtung ist aber noch umfassender. Dies wurde kürzlich anläßlich des katholischen Weltjugendtags in Köln deutlich. Zur Verwunderung vor allem der wortgläubigen Protestanten, jubelte die Jugend einem Papst zu, der doch als Hüter katholischer Glaubenslehre vor allem durch seine kompromisslos harten Worte zu Ehe, Sexualmoral, Empfängnisverhütung, Abtreibung, zum Kirchenverständnis, zur Wunsch-Ökumene und der Ablehnung eucharistischer Gemeinschaft mit Nicht - Katholiken bekannt geworden war. Aber das schien kaum jemand unter den Jugendlichen zu stören. Als Erklärung hörte man: die Jugend ist desinteressiert an Theologie, am nüchternen Diskurs überhaupt; sie will Symbole und das Ereignis. Dem wurde eindrucksvoll entsprochen in der ästhetischen Schönheit der "Vigil" (liturgische Feier am Vortag eines Festes, hier des Abschlußgottesdienstes) zwischen Taghelle und effektvoll erleuchteter dunkler Nacht und der dazu passenden Geschichte der Heiligen Drei Könige als Sucher des Sterns von Bethlehem. Die dann unter freiem Himmel gemeinsam verbrachte Nacht ergänzte das Erlebnis. Mit dieser zu Herzen gehenden Einstimmung konnte der Papst es dann am Sonntag sogar wagen, das heikle und theologisch schwer befrachtete Thema der Eucharistie - kirchenkatholisch interpretiert - ins Zentrum seiner Predigt zu stellen. Und die Jugend hörte andächtig zu! Eigentlich konnte man als kritisch Außenstehender darüber nur staunen. Umfangen von der Ästhetik des Ereignisses wurde sogar dogmatische und umstrittene Theologie aufmerksam und ohne hörbaren Widerspruch aufgenommen.

Freilich erinnert sich der in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts Aufgewachsene unweigerlich an die dunkle Seite der Ästhetik derartig inszenierter Ereignisse. Auch Reichsparteitage der NSDAP wurden glänzend inszeniert und beleuchtet und sie beeindruckten Kinder und Jugendliche tief. Der Verführung durch das nachfolgende Wort waren Tür und Tor geöffnet. Gerade auch vor diesem Hintergrund hatte man dann im demokratischen Nachkriegsdeutschland die nüchterne und kritische Kultur des Wortes gepflegt - wenn auch gar zu einseitig.

Die wunderbaren Welten des Ästhetischen

Es liegt mir fern, eine erwünschte Ästhetik gegen die herrschende Wortkultur und ihren aufklärerischen Anspruch ausspielen zu wollen. Dies nicht nur deshalb, weil ich selbst ein sogenannter Intellektueller bin, einer der gern mit Sprache umgeht. Ich weiß allerdings inzwischen, daß das nicht reicht. Umgang mit Sprache ist das eine wunderbare Können des Menschen. Aber nicht weniger wunderbar ist das in seinem weitesten Sinn ästhetische Vermögen des Menschen: Musik, Architektur, Handwerk, Handarbeit, Kunst, Pantomimik, Tanz. Jeder dieser Begriffe bezeichnet Welten des Ästhetischen. Schließlich sind die "Brückenkünste" zwischen Sprache und Ästhetik zu nennen: Theater, Gesang, Chor, Oper, Operette, Musical, Poesie. Nicht zu vergessen im Zeitalter der Naturwissenschaften und der Technik sind deren ästhetische Qualitäten, die sich zunächst in der Anschauung, erweitert durch die optischen Möglichkeiten in Astronomie, Mikroskopie und Nanotechnologie offenbaren. Aber auch in der wissenschaftlichen Forschung, Beschreibung und Darstellung der Welt, etwa in Physik, Chemie und Biologie tut sich vor dem Auge der mit dieser Sphäre Vertrauten eine wunderbare Ästhetik auf. In der Physik ist es vor allem eine mathematische Ästhetik, wie sie etwa in den Maxwell-Gleichungen der Elektrodynamik zum Ausdruck kommt, aber auch in der berühmten Einstein-Formel, welche Masse, Energie und Lichtgeschwindigkeit verknüpft: E = mc².

Es war von der grundlegend zweifachen Fähigkeit des Menschen, sowohl Sprache als auch Ästhetik zu verstehen, die Rede. Solche Fähigkeit, solches Potential zu Gestaltung und Verstehen ist nicht einfach eine Option der geistigen Sphäre, kein Freiraum, den man wahlweise betreten kann oder auch nicht. Dieses "Vermögen" schließt eine organismische, biologische, neuronale Basis mit ein und damit auch einen Verwirklichungsdrang, ein Bedürfnis nach Realisierung. Das Auge möchte sehen, die Nase riechen, die Zunge schmecken, die Ohren wollen hören, die Hände gestalten und die Beine gehen, laufen und tanzen. Dem Bedürfnis, mit Sprache umzugehen, andere zu verstehen und selbst sich sprachlich auszudrücken, kommt unser Bildungssystem entgegen. Das ästhetische Bedürfnis zu erkunden, zu wecken und zu pflegen haben unsere aufgeklärten Pädagogen jahrzehntelang den privaten anthroposophisch orientierten Waldorf-Schulen überlassen. Die Anforderungen des Lebens und des Berufs erschienen zu ernst, um jenseits des Kindergartens noch zu "spielen". Vergessen war das Wort des Aufklärers Schiller vom Spielen als dem Inbegriff des Menschseins; Spielen wurde zum Inbegriff des Kleinkindseins. Wie schön und wie menschlich wäre es, wenn das spielerische Element auch im Erwachsenenleben, in Beruf, Erziehung und vor allem in der Politik ein wenig mitspielen dürfte. Nicht überall gefährdet es die Sicherheit (jedoch katastrophal in der Kommandozentrale des Atomkraftwerks von Tschernobyl); es kann auch Sicherheit schaffen als Gegenspieler von Ehrgeiz, Macht, Verbissenheit, Haß und Terror.

Ich selbst bin glücklich und dankbar, daß in meinem Berufsleben als Forscher das spielerische Element notwendig dazu gehörte, weil es im kreativen Prozeß unverzichtbar ist. Der mittelfristige Erfolgsdruck und sein Risiko, die auf dem Forscher, der das noch Unbekannte erschließen will, immer lasten, wird durch dieses spielerische Element menschlich und somit erträglich. Ich brauchte darunter nie zu leiden, zumal solches Spielen immer wieder auch im Sinne der Aufgabenstellung Früchte trug.

Ebenso wie sprachliche Mitteilung hat auch Ästhetisches (= Wahrgenommenes bzw. Wahrzunehmendes) keineswegs immer mit Schönheit, gar Harmonie, mit Bedürfnis, mit einem "Wert" zu tun. Es gibt Ästhetik des Belanglosen, welche mir derzeit zu überborden scheint, wie auch die Ästhetik des Schrecklichen, des Grauens und der Unmenschlichkeit. Es ist eine zwar formale "Ästhetik", die ich dennoch in Anführungszeichen setzen will, weil Ästhetik für mich unvermeidlich von positiv emotionaler Atmosphäre begleitet wird. Demgegenüber ist die "Ästhetik" des Schrecklichen negativ. Ich halte sie für höchst gefährlich, wenn sie in die öffentliche Darstellung drängt und individuell zur Gier wird. Negative, abstoßende Ästhetik ist (leider) natürlich, d.h. sie liegt in der Natur des Menschen, sie ist ein Aspekt der Realität. Deshalb kann ich vor ihr die Augen nicht verschließen. Sie darf nicht versteckt und nicht tabuisiert werden, nur weil sie schwer erträglich ist und Gefühle verletzt oder auch in eine verordnete Weltanschauung (z.B. Nationalsozialismus, sozialistischer Realismus) nicht paßt. Aber negative Ästhetik, abstoßende Bilder wurden ebenso wie verbale Horrorszenarien stets auch zu politischen Zwecken eingesetzt, dienten der Polarisierung, der Schuldzuweisung, der Anklage, Erzeugung von Feindbildern, der Saat von Haß und Gewalt oder wenigstens von Schuldgefühlen. In diesem Zusammenhang sind z.B. Darstellungen, insbesondere auch Karikaturen von Juden, Plutokraten, Kapitalisten zu nennen; aber auch die penetrante Instrumentalisierung des "Holocausts", gegen die sich Martin Walser zurecht zur Wehr gesetzt hat. Ich möchte nicht mißverstanden werden: Ich war im ehemaligen KZ Buchenwald, und ich habe die authentischen Bilder des Schreckens aufmerksam und erschüttert angeschaut. Es gibt keinen Anlaß, irgend etwas zu verdrängen, zu beschönigen oder gar besserwisserisch zu verleugnen. Aber ich sehe auch keinen Grund, mir diese Scheußlichkeiten immer wieder anzusehen und mich damit zu beschäftigen. Das hat für mich mit seelischer Hygiene, d.h. mit Selbstschutz zu tun. Ich weiß, wie solche Bilder wirken können und ich möchte nicht, daß sie von mir Besitz ergreifen. Ich halte mich deshalb auch von Horrorfilmen fern.

Die Crux mit dem Kreuz

Aus demselben Grund halte ich übrigens auch die erst seit dem 14. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Heimsuchung durch die Pest aufgekommene allgegenwärtige Darstellung des Gekreuzigten - womöglich noch im Wohn- oder Schlafzimmer für problematisch. Daß wir uns in unserer "christlichen Kultur" von Kindesbeinen daran gewöhnt haben und den Schrecken gar nicht mehr wahrnehmen vor lauter wohlverstandener Theologie, entschuldigt in meinen Augen nichts, aber es beunruhigt mich und weckt Gedanken an christliche Kreuzzüge in offener und versteckter Form. Ist der Gekreuzigte vielleicht "realer" als der Auferstandene? Dann sollte diese Bildertheologie vielleicht besser einpacken. (Natürlich ist auch die entsprechende Wort-Theologie "Für unsere Sünden gestorben" problematisch. Aber sie bleibt eher im intellektuellen Rahmen und hat nicht die Tiefenwirkung der Bilder.)

Diese Tiefenwirkung hat Ursachen im biologisch-physiologischen Geschehen, die wir heute kennen. Während Sprachliches, gehört oder geschrieben im Sprachzentrum des Neocortex verarbeitet wird und unserer bewußten Kritikfähigkeit, unserem Einspruch, Widerspruch oder der Zustimmung unterliegt, können Bilder, Videos, ebenso wie erlebt Gesehenes unmittelbar in unbewußte "tiefere" Bereiche unseres Gehirns eindringen, Gefühle wachrufen oder erzeugen, Befindlichkeiten verändern. Mit Sprache können wir distanziert umgehen. Von Bildern können wir uns nur abwenden, wenn wir das wollen. Aber natürlich sind wir meistens auch neugierig und so lassen wir die Bilder auf uns wirken, setzen uns ihnen aus und können nicht bemerken, was sie mit uns machen. Über Bilder haben wir kaum Kontrolle. Die Werbestrategen wissen das, die Pädagogen lernen es allmählich, glauben aber immer noch, mit Worten über die Bilder und Vorbilder gleichsam herrschen zu können. Daß dies nicht geht, wußte schon Goethe - ohne Hirnforschung - einfach aus Lebenserfahrung. In einem Gedicht aus der Sammlung "Zahme Xenien" sagt er:

Dummes Zeug kann man viel reden,
Kann es auch schreiben,
Wird weder Leib noch Seele töten,
Es wird alles beim alten bleiben.

Dummes aber vors Auge gestellt
Hat ein magisches Recht:
Weil es die Sinne gefesselt hält,
Bleibt der Geist ein Knecht.

Wie wahr! Und wie wenig bekannt! Auch ich kannte diese Verse bis vor kurzem nicht. Hans Rabanus hat sie in einem unserer Gespräche auswendig zitiert und mich damit "elektrisiert". Deshalb ist es fatal, sich stundenlang Gewaltvideos oder die unappetitlichen, geschmacklosen, aufreizenden Nachmittagssendungen etlicher Privat-Fernsehsender "reinzuziehen" oder exzessiv sich an entsprechenden Computerspielen aufzugeilen, in denen das Schießen und Töten selbstverständlich ist.

Im Zusammenhang mit Jesus-Darstellungen sollte man vielleicht einen Blick auf das wenig beachtete Zweite Gebot des biblischen Dekalog-Texts werfen: "Du sollst dir kein Gottesbild machen, keinerlei Abbild, weder dessen, was oben im Himmel, noch dessen, was unten auf Erden, noch dessen, was in den Wassern unter der Erde ist; ..." (Zürcher Bibel). Sollte sich dahinter etwa ein Verbot des Ästhetischen verbergen? Keineswegs. Aber das Gebot ist eine Warnung vor "Abbildern", also Bildern von etwas, das sich dem Bild entzieht. Auch die Bibel weiß, daß die Bilder da sind, daß der Mensch Bilder braucht, deshalb fährt der Text offensichtlich die Abbilder voraussetzend - fort: "du sollst sie nicht anbeten und ihnen nicht dienen".

Das Gebot wird streng nur im Islam und im reformierten Protestantismus befolgt, allerdings mit je unterschiedlichen Konsequenzen: Reformierte Kirchen sind (im Gegensatz zu katholischen oder lutherischen) von äußerster Nüchternheit, oft geradezu abweisend kahl.. Es ist offensichtlich: Nur das Wort, nur "die Schrift" (d.h. die Bibel) gilt; Ästhetik, Schönheit sucht man vergebens. Dagegen hat in der Moschee das ästhetische Bedürfnis andere Ausdrucksformen gefunden: die wunderbare Ornamentik. In der biblischen Warnung vor Abbildern sehe ich aus heutiger Sicht zwei Aspekte: Einmal die grundsätzliche Nichtanschaulichkeit des von seiner Verkörperung im konkreten Geschehen gleichsam abgetrennten Transzendenten, des Göttlichen "in Reinkultur"; zum andern das Wissen um die Gefahr von Abbildern, sobald sie für Wirklichkeit gehalten werden. Während Worte und theologische Sätze immerhin das Filter kritischen Bewußtseins (so es vorhanden ist!) durchlaufen können, wirken Bilder unmittelbar und unbewußt auf die menschliche Psyche; selbst dann, wenn wir sie bewußt kritisch beäugen. Besonders die Verquickung der intellektuell historischen Perspektive, wie sie in der christlichen und besonders der protestantischen Theologie üblich ist, mit Abbildern der historischen Protagonisten kann zu Tiefenverankerungen führen, die einseitige und dogmatische Auswirkungen haben. Hierfür ist das Kruzifix ein Beispiel.

Vergleichsweise ist diese Gefahr im Buddhismus geringer, weil die historische Dimension kaum eine Rolle spielt und Bilder von bedeutenden Gestalten, insbesondere von Buddha, die Lehre ausdrücken, nicht eine bestimmte Person. Ein Buddha mit acht Armen - vieltätiges Mitgefühl ausdrückend - macht dies deutlich.

Der sich aufgeklärt dünkende Westen ist bedauerlicherweise erst halb nämlich nur verbal - aufgeklärt. Die Klage Friedrich Schillers gilt heute mehr denn je: " ... Das Zeitalter ist aufgeklärt, das heißt, die Kenntnisse sind gefunden und öffentlich preisgegeben, welche hinreichen würden, wenigstens unsere praktischen Grundsätze zu berichtigen; ... - woran liegt es, daß wir immer noch Barbaren sind?"

Zurück zur Vernunft des Gefühls

Der bedeutende Natur- und Geisteswissenschaftler Friedrich Cramer, leider unlängst verstorben, gab dar auf die folgende Antwort: "Wir müssen an einer neuen Aufklärung arbeiten ...es muß Teil der neuen Aufklärung sein, diese Grenzen (der Wissenschaft; D.D.) jedermann sichtbar zu machen." Und: "die Antriebe ... die uns zu vernünftigem Handeln bestimmen ... sind offensichtlich gefühlsbedingt. Wir stehen doch vor der gewaltigen Aufgabe, in unserer zu Ende gehenden Technokultur Wege finden zu müssen, auf denen unsere Herzen und Sinne mit unseren Köpfen und unserer Vernunft in Einklang sind." Und weiter: "Diese Kunst der Gefühle haben wir völlig verlernt. Wir sehen aber, daß wir ohne eine Kunst der Gefühle nicht weiterkommen, da nur diese unsere Personalität mit den Anforderungen der Zeit wird in Einklang bringen können... Wir brauchen eine Rückkehr zur Vernunft im Sinne der Gefühlsbildung."

Hierzu sagte Schiller weitsichtig: "Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden. "

Die beiden Schiller-Zitate sind enthalten in seinem Werk "Die ästhetische Erziehung des Menschen." In der Tat beginnt diese Ästhetische Erziehung im menschlichen Herzen (s. hierzu GadFNr.358, 2001; D. Dieterich: Die Kunst der Gefühle). Das Herz ist gleichsam der Wurzelstock des Verstandes. Werden die Wurzeln und das Erdreich, in dem sie sich befinden, nicht gepflegt, ist alle Mühe um gesundes Wachstum von Blättern und Blüten vergeblich.

Ästhetik ist also fundamental für Menschenbildung. Betrachtet man Ästhetik, wie dies im Westen üblich ist, vorrangig unter formalen, "ästhetischen" Aspekten und weitgehend abgelöst von Inhalt und konkreter Wirkung, gleichsam als Wert an sich mit Vorzugskriterien namens Neuheit, Individualität, Kreativität, künstlerischem Ausdruck, dann hat dies zur Folge, daß es wenige "Produzenten" und bestenfalls viele "Konsumenten" des Geschaffenen gibt. Wenige große Künstler werden hochgehalten, sind unerreichte Vorbilder. Um dem zu entgehen, werden in der Gegenwart "Events" und "Happenings" zu Kunst hochstilisiert. Im Westen ist Kunst das Resultat von Können: es entsteht ein "Produkt". Das fundamental menschliche Vermögen, Bedürfnis und potentielle Können wird angesichts der Übermacht von Sprache immer noch verkannt. Es gibt aber keine Herzensbildung ohne die ästhetische Dimension. Ein Blick auf die fernöstliche Ästhetik zeigt den Lebens- und Alltagsaspekt jenseits von "Kunst".

Quelle: 'Das Gespräch aus der Ferne - Vierteljahreshefte zu wesentlichen Lebensfragen unserer Zeit' 375 IV/05 - Probeheft: dasgespraech (ät) compuserve.com

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Ästhetik (von griech. aisthesis, Wahrnehmung, Empfindung, Gefühl). 1. Die Lehre von der Wahrnehmung. In dieser Bedeutung findet sich der Begriff in Kants Rede von der transzendentalen Ä., die die Lehre von den apriorischen Formen der sinnlichen Wahrnehmung ist. 2. Die Lehre von dem Schönen, näher bestimmt als die Lehre von dem Schönen in der Kunst, die Kunstphilos. Eine solche Philos. schließt traditionell eine allgemeine Theorie des Schönen ein, in der das Kunstschöne zum Naturschönen in Beziehung gesetzt wird. Die Ausformung der Ä. als eigenständiger philos. Disziplin beginnt mit A. G. Baumgarten, der den Begriff Ä. im Sinn einer Philos. der Kunst geprägt hat. Ä. wird von Baumgarten im Zusammenhang mit einer allgemeinen, metaphysischen Lehre vom Schönen (als einer Vollkommenheit der sinnlich wahrnehmbaren Welt) und einer Lehre der sinnlichen Erkenntnis entwickelt. In der Folge wird philos. Ä. mit Kunstphilos. identisch gebraucht. In der modernen Kunst löst sich die enge Verknüpfung zwischen der Kunst und dem Schönen.
Philos. Ä. befaßt sich mit dem Wesen der Kunst - dem Kunstwerk, dem künstlerischen Schaffen, der Kunsterfahrung sowie mit der Bedeutung des Phänomens der Kunst im menschlichen Dasein und untersucht insbesondere das Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit.
Bisweilen wird der Ausdruck philos. Ä. in einem engeren Sinn als philos. Reflexion über Aussagen bezüglich der Kunst bzw. der Kunstwerke gebraucht. In diesem Sinn ist philos. Ä. eine Metadisziplin (wie etwa die Metaethik; vgl. Ethik). Sie analysiert kunstkritische Aussagen, wobei <Kunstkritik> (engl. criticism) in einem weiten Sinn zu verstehen ist und jegliche Aussage über Kunst, insbesondere Aussagen innerhalb der Kunstwissenschaften, umfaßt.
Etwas ist ästhetisch, wenn es (1) die Wahrnehmung, (2) das Schöne oder die Kunst, (3) die philos. Ä., (4) das unengagierte, betrachtende, lediglich genießende Verhältnis zu einem Gegenstand oder zum Leben betrifft. In Anknüpfung hieran spricht Søren Kierkegaard von dem ästhetischen Stadium, in dem der Mensch in Unmittelbarkeit lebt und sich der ethisch-religiösen Entscheidung und der daraus folgenden Verpflichtung und Verantwortung entzieht.

Lit.: T. W. Adorno: Ästhetische Theorie, 1970. A. G. Baumgarten: Aesthetica, 1750 bis 58. B. Bolzano: Untersuchungen zur Grundlegung der Ä., 1972. H. Cohen: Kants Begründung der Ä., 1889. N. Hartmann: Ä., 1953. W. Iser (Hg.): Immanente Ä. - ästhetische Reflexion, 1966. W. Iser/D. Henrich (Hg.): Theorien der Kunst, 1982. I.Kant: Kritik der Urteilskraft, 1790. W. Tatarkiewicz: Geschichte der Ä., I-III, 1979ff.

Philosophielexikon/Rowohlt-Systhema 1994

Wozu wir Ästhetik brauchen

Von Dorothee Sölle

Einer der Grundsätze der klassischen Ästhetik sagt, daß nur, was aus unsern versammelten Kräften hervorgeht, "schön" genannt werden kann. "Alles Vereinzelte ist verwerflich", wie Goethe sagt. Jede Isolierung einer einzelnen Potenz des Menschen, jede Überentwicklung einer Kraft auf Kosten der übrigen ist "Vereinzelung".

Die Vereinzelung der Rationalität schließt ein, daß wir unsere Leiblichkeit und unsere Emotionalität unterdrücken oder verleugnen müssen. Jeder Lebensausdruck, zum Beispiel jede menschliche Beziehung oder auch jede schöpferische Tätigkeit, soll "ganz", das heißt alle Kräfte beteiligend sein.

Je mehr von mir ich in einer Beziehung vergessen, verleugnen verdrängen und unterdrücken muß, desto teilhafter, begrenzter und ärmer wird die Beziehung. Eindimensionalität ist der Ausdruck solcher vorherrschenden Verarmung und Zerstörung.

Sie kann eine spezifische Perfektion erreichen, aber ihr fehlt die Schönheit, die aus dem Ensemble unserer Kräfte, Erfahrungen und Beziehungen stammt. Schön wird ein Mensch in der Erfahrung der Ganzheit seiner Kräfte, im unverdrängten Zusammenspiel.

Mit dem Herzen leben (RADIUS, 33.Jahrg. 4/1988, S.20-22)

hierzu ergänzend: Sehen und Gestalten


Die Kunst der Gefühle

"Fortschritt ist nur möglich durch Opfer und Verzicht." (Friedrich Cramer)
 
Von Dieter Dieterich

»Was bringt einen Experimental-Wissenschaftler dazu, vom Normalleben des Forschers abzuweichen, in acht Wochen mönchischer Zurückgezogenheit ein "nicht streng fachbezogenes" Buch zu schreiben und dann wieder in den Alltag zurückzukehren?«, so fragt sich Friedrich Cramer nach getaner Arbeit an seinem Werk "Fortschritt durch Verzicht". Die Ankündigung dieses Titels im Frühjahr machte mich neugierig, nachdem ich vor zwei Jahren Cramers Buch "Wie Hiob leben" gleich zweimal gelesen hatte (Rezension im "Gespräch" Nr. 351, 1999). Leider ist Cramers neues Buch bisher nicht erschienen. Der Bruder des Verfassers, Dr. Hans-Hermann Cramer, Ökologe, stellte mir dankenswerterweise die aus dem Jahr 1975 stammende Erstauflage dieses Titels zur Verfügung (Friedrich Cramer: "Fortschritt durch Verzicht. Ist das biologische Wesen Mensch seiner Zukunft gewachsen?" Nymphenburger Verlagshandlung, München 1975).

Die Grundthesen des Verfassers - in Verbindung mit dieser Jahreszahl - lassen mich nun doch staunen. Sie zeigen Friedrich Cramer als unabhängigen Geist, der sich nicht von den polarisierenden Debatten der Siebziger-Jahre bannen ließ, sondern dem Grundkonflikt zwischen Technokultur und menschlichem Leben nachging und damals schon zukunftsweisend forderte: "Wir müssen an einer neuen Aufklärung arbeiten".

Seine Antwort auf die eingangs zitierte Frage weist den Weg: »Wahrscheinlich ist es der Versuch eines Ausbruchs aus den gewohnten Geleisen. Deshalb danke ich denen, die mir in meinem Leben zu Aufbrüchen verholfen haben!« Dem kann ich aus eigener Erfahrung nur zustimmen.

Cramer, ein herausragender und erfolgreicher naturwissenschaftlicher Forscher, zuletzt Direktor des Max-Planck-Instituts für experimentelle Medizin, Abteilung Chemie in Göttingen, betrachtet ausführlich die Phänomene Konstanz und Evolution in der Biologie und vergleicht damit den um Größenordnungen rascheren Wandel von Tradition und Fortschritt in der Kultur. Zwei Schlußfolgerungen drängen sich ihm auf: Erstens wird jeder Fortschritt, evolutionär oder kulturell, notwendigerweise durch Verzicht beziehungsweise Opferung erkauft. Dies ist der Sinn von "Selektion", die die Welt des Lebendigen - nicht nur bei Darwin - beherrscht. Weitergabe von Kultur ist daher ein großes Problem. Ständig "opfern" wir das nach unserer jeweiligen Auffassung minder wichtige zugunsten von Neuem, das wir als das Bedeutendere ansehen. Daraus folgt zweitens: "Das konservierende System der Kultur ist wesentlich labiler als das der Natur." Aufgrund dessen beschäftigt sich Cramer vorrangig mit der kulturellen Sphäre. Cramer fordert ihre Pflege und die Festigung des Menschen als Kulturwesen. Dies kann in einer Zeit modischer Gentechnologie-Gläubigkeit gar nicht oft und eindrücklich genug betont werden.

Die einzigartigen Fähigkeiten des menschlichen Großhirns und des dadurch gewonnenen verläßlich-objektiven Erkenntnisvermögens gehen einher mit Verlust an Instinktsicherheit, an "natürlichem" unerschütterlichem Selbstvertrauen. Der Mensch leidet "unter seiner Vergänglichkeit und Entfremdung". Nüchtern stellt der Naturwissenschaftler Cramer fest: "Befreiung davon ist nicht im Geltungsbereich des Objektivitätspostulats zu finden." Aber der heutige Stand von Wissenschaft und Technik ist Voraussetzung für den neuen Aufbruch, den er wie folgt charakterisiert: Naturwissenschaftliche Forschung (nicht die Berichte darüber in den Medien! - D.D.) hat uns "Illusionen jetzt und künftig hin unmöglich gemacht ..., indem sie uns auf Objektivität verpflichtet, auf eine Redlichkeit des Handeins und Denkens, in der objektive Kriterien immer den Vorrang haben. Damit hat sie uns viel auferlegt, sie hat uns noch viel einsamer gemacht. Sie hat uns die Aufgabe gestellt, uns im Universum selbst zurechtzufinden. - Aber sie hat auch gleichzeitig die Grenzen ihrer selbst aufgezeigt. Und sie zeigt dem Menschen damit - wohl erstmalig in der Geschichte der Naturwissenschaften - Aufgaben und Bereiche außerhalb ihres direkten Geltungs- und Anwendungsbereiches und ruft ihn zu deren Ausfüllung. Erst nach Auffinden dieser Grenze - ein Akt des Verzichtes - wird eine Wertbestimmung und damit - vielleicht - ein Fortschritt möglich." Dies sind erstaunliche und beherzigenswerte Sätze eines begeisterten Wissenschaftlers. Und hier seine auch nach 26 Jahren noch hochaktuelle Konkretisierung:
"Der medizinische Fortschritt hat ein Stadium erreicht, in dem er sinnlos zu werden droht, wenn er nicht mit gleichzeitigem teilweisen Verzicht auf gewisse Möglichkeiten verbunden ist. Dieser Verzicht kann aber nur als freiwillige Leistung verstanden werden. Als verordnetes Gesetz wäre er automatisch inhuman, faschistisch und verbrecherisch." Ich nehme an, daß Cramer hier die "künstliche" Lebensverlängerung anspricht.

Cramer fordert "eine neue Einstellung zum Kultur- und Zivilisationsprozeß", den er "Neue Askese" nennt, ... "freiwillige Beschränkung, ...die Selbstbehauptung des freien Menschen gegenüber der Verbraucherideologie, ...daß wir freiwillig das wählen, was notwendig auf uns zukommt. "

Im letzten Kapitel wagt Cramer sich auf das von den meisten Wissenschaftlern peinlichst gemiedene Feld der Gefühle und deren maßgebende Rolle im menschlichen Leben. Am meisten überraschten mich zwei Zitate aus der Feder des bekannten Dichters, Dramatikers, Historikers und notabene gelernten Mediziners Friedrich Schiller von 1795, die klarsichtig beschreiben, was zweihundert Jahre später moderne Hirnforschung bestätigt hat. Cramer fragt: »Wie können unsere Gedanken Gestalt gewinnen? ... Die Einsicht in die guten Prinzipien genügt offenbar nicht. Darüber hat Schiller nachgedacht, als er sechs Jahre nach der französischen Revolution Über die Ästhetische Erziehung des Menschen schrieb: "Die Vernunft hat geleistet, was sie leisten kann, wenn sie das Gesetz findet und aufstellt; vollstrecken muß es der mutige Wille und das lebendige Gefühl. Wenn die Wahrheit im Streit mit Kräften den Sieg erhalten soll, so muß sie selbst erst zur Kraft werden und zu ihrem Sachführer im Reich der Erscheinungen einen (An-; D.D.)Trieb (also eine Motivation; D.D.) aufstellen; denn (An-; D.D.)Triebe sind die einzigen bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt. Hat sie (die Vernunft; D.D.) bis jetzt ihre siegende Kraft noch so wenig bewiesen, so liegt dies nicht an dem Verstande, der sie nicht zu entschleiern wußte, sondern an dem Herzen, das sich ihr verschloß, und an dem (An-; D.D.)Triebe, der nicht für sie handelte... Das Zeitalter ist aufgeklärt, das heißt, die Kenntnisse sind gefunden und öffentlich preisgegeben, welche hinreichen würden, wenigstens unsere praktischen Grundsätze zu berichtigen; ... - woran liegt es, daß wir immer noch Barbaren sind?"

Cramer fährt fort: "Wir müssen an einer neuen Aufklärung arbeiten ...es muß Teil der neuen Aufklärung sein, diese Grenzen (der Wissenschaft; D.D.) jedermann sichtbar zu machen." Und "die Antriebe ... die uns zu vernünftigem Handeln bestimmen... sind offensichtlich gefühlsbedingt. Wir stehen doch vor der gewaltigen Aufgabe, in unserer zu Ende gehenden Technokultur Wege finden zu müssen, auf denen unsere Herzen und Sinne mit unseren Köpfen und unserer Vernunft in Einklang sind." Und weiter: "Diese Kunst der Gefühle haben wir völlig verlernt. Wir sehen aber, daß wir ohne eine Kunst der Gefühle nicht weiterkommen, da nur diese unsere Personalität mit den Anforderungen der Zeit wird in Einklang bringen können ... Wir brauchen eine Rückkehr zur Vernunft im Sinne der Gefühlsbildung." In diesem Sinn "müßten wir in unsere Erlebniswelt wieder viele vorbewußte Dinge hineinnehmen, die im Lauf der kulturellen Evolution verschüttet worden sind." Nochmals zitiert Cramer Schiller: "Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden."

Nach der Lektüre des Buchs von Friedrich Cramer hatte ich den Eindruck, jetzt erst mein eigenes "Plädoyer für ein tragfähiges Fundament unserer Kultur" (in diesem Heft, S.4) richtig begründet zu sehen, z.B. wenn ich bei Cramer lese: "Das Zeitalter der neuen Askese, die zunächst geistig gemeint ist, wird auch eine Askese von unnötigen zivilisatorischen Gütern nach sich ziehen."

Ich hätte es außerordentlich begrüßt, wenn dieses richtungweisende Buch jetzt zu unserer derzeitigen intensiven Diskussion um die faszinierenden und zugleich bedrohlichen Perspektiven der Medizin und der Evolution des Menschen neu erschiene. Seine Gedanken und Anregungen sind unverändert aktuell. Der damit befaßte Insel Verlag wird es leider aus "programmatischen" Gründen nicht verlegen. So bleibt wohl den vielen Interessierten nur der Weg ins Antiquariat.

Quelle: 'Das Gespräch aus der Ferne - Vierteljahreshefte zu wesentlichen Lebensfragen unserer Zeit' 358 II/01 - Probeheft: dasgespraech (ät) compuserve.com

 
Die Welt ist rauh und dumpf geworden,
Die Stimm' entfiel ihr nach und nach;
Die einst in tönenden Accorden
Zum off'nen Ohr des Menschen sprach.
Den Baum der Phantasie entbildert
Nun des Verstandes kalte Hand,
Die Blume des Gefühls verwildert,
Der Quell der Dichtung stockt im Sand.

  Friedrich Rückert

 
weitere Texte zum Thema Gefühle   -    Was ist Kunst?   -   Sehen und Gestalten 


 Mit freundlichen Empfehlungen 
Humanistische AKTION  
12/2005 


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Aktualisiert am 17.11.11