Die Ego-Polizei

ZEIT-Debatte über "Menschenpflichten" (3)
 
Von Susanne Gaschke 

Das Wort Pflicht muß einen eingebauten Erregungsmechanismus besitzen. Offensichtlich verbinden fortschrittlich gesonnene "Kinder der Freiheit" (Ulrich Beck) damit in unangenehmer Weise "Sekundärtugenden": Pünktlichkeit und Ordnung, Fleiß, Disziplin und Kaugummiverbot, das ganze unterdrückerische Waffenarsenal des Spießbürgers. Anders sind die heftigen Reaktionen auf die "Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten" (ZEIT Nr. 41/97), die Helmut Schmidt gemeinsam mit anderen ehemaligen Staats- und Regierungschefs formuliert hat, nicht zu verstehen.

Constanze Stelzenmüller befürchtet, der Pflichtenkatalog könne zum Einfallstor für alle "autoritären Regime werden, die Menschenrechte relativieren" wollten (Nr. 42). Und Thomas Kleine-Brockhoff findet gar, das Manifest hätte besser überhaupt nicht verfaßt werden sollen - "auch lautere Absichten", schreibt er, "können schlimme Folgen zeitigen" (Nr.43). Zu denen gehört anscheinend eine "alarmistische Gesellschaftsanalyse".

Spricht hier die Ego-Polizei der Individualisierungsgewinner?

Muß, wer ihren ein wenig gnadenlosen Optimismus nicht teilt, mit der Verurteilung zum Reaktionär rechnen? Die Schattenseiten der Individualisierung sind nur mit einer gewissen Hartnäckigkeit zu übersehen: Vermutlich stört die Verwahrlosung der öffentlichen Räume die Jungen und Starken weniger als die Alten und Schwachen; wer keine Kinder hat, muß sich nicht allzusehr um Jugendgewalt und steigenden Drogenkonsum sorgen; wer Techno für eine politische Bewegung hält, braucht sich um die Demokratie keine Gedanken zu machen.

Alle anderen aber dürfen ein wenig erschrocken vor den gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen dreißig Jahre stehen und sich fragen, ob sie genau so eigentlich leben wollten. Der Pflichtenkatalog leistet hier einen wertvollen Dienst: Er thematisiert die Frage, ob in der gegenwärtigen Situation ein größeres Maß an individueller Freiheit geeignet ist, unser Zusammenleben zu verbessern. Einiges spricht dagegen. In der modernen, unwiderruflich globalen Gesellschaft sind die Menschen wie nie zuvor aufeinander angewiesen, und sie müssen mehr und mehr Rücksicht aufeinander nehmen, wenn dieser Zustand erträglich bleiben soll. Daß ihnen dies auch nur einigermaßen gelingt, ist, wie es der Soziologe Norbert Elias beschrieb, das Ergebnis eines langen Distanzierungsprozesses: das Individuum findet Abstand, zu sich selbst und zur Gesellschaft. Auf einer hinlänglich lebenswerten Zivilisationsstufe hat der einzelne Mensch das, was ihm früher als Fremdzwang auferlegt und mühsam gegen ihn durchgesetzt werden mußte - etwa der Verzicht auf das

Recht des Stärkeren -, als Selbstzwang verinnerlicht. Dieser Selbstzwang enthält, bis hin zu bestimmten, wandelbaren Formen der Höflichkeit, alle Zurückhaltung, die das gemeinschaftliche Leben von Menschen erst ermöglicht. Doch das zivilisatorische Niveau ist bedauerlicherweise nicht so sicher wie ein Festgeldkonto; für Rückfälle in die Barbarei bietet unser Jahrhundert genügend Beispiele. Es ist also keineswegs alarmistisch, wenn Pädagogik, Publizistik und Politik einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen werden: Drei Jahrzehnte lang haben sie sich überwiegend auf die Vermehrung der individuellen Rechte und deren Durchsetzung konzentriert. Ob eine Fortsetzung dieses Trends dabei hilft, in Zeiten der Krise ein möglichst selbstbestimmtes, konfliktfreies und sinnerfülltes Leben der Menschen zu gewährleisten, ist fraglich.

Wo es viel Platz gibt, viel Geld und viele Chancen, da mag es zur Sicherung eines funktionierenden Gemeinwesens genügen, die Rechte des anderen zu achten und Mord und Totschlag zu verhindern. In einer solchen Situation reicht möglicherweise auch ein Nachtwächterstaat hin, der seinen Bürgern die Freiheit garantiert, je nach ihren Möglichkeiten auf die Bahamas zu fliegen oder nicht; und die "Freiheit zur Dummheit, zur Irrationalität, zum Irrtum, sogar zum Desinteresse an gemeinschaftlichen Werten", die der von Thomas Kleine-Brockhoff bevorzugte Freiheitsbegriff einschließt, schadet nicht weiter.

Doch in Zeiten des Mangels - sei es an Arbeitsplätzen, an natürlichen Ressourcen oder konsensfähiger Moral - sieht es anders aus: Kann der Staat dann nicht mehr vom einzelnen erwarten als die Unterlassung von Rechtsverletzungen? Die Pflichten. die die Exstaatschefs zur Diskussion stellen, gehen jedenfalls darüber hinaus: Sie verlangen den Menschen eine Anstrengung ab, sei das praktizierte Solidarität, Wahrhaftigkeit oder Selbstverbesserung.

Nun läßt sich ein unerfreulicher Aspekt des Unternehmens nicht leugnen: Pflichten haben stets etwas mit Triebverzicht zu tun, mit Bedürfnisaufschub, mit Freiheitsbeschränkung - wer nachts um vier einen schreienden Säugling füttert oder zu Hause seine neunzigjährige Mutter pflegt, weiß, daß dies mit der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit relativ wenig zu tun hat. Dennoch ist es nötig.

Selbstverständlich wäre es vorzuziehen,wenn die Bürger die sinnvollen, gemeinschaftsorientierten Pflichten freiwillig übernähmen, aus Einsicht in die Notwendigkeit. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Das liegt auch an der materiellen Not mancher Menschen, an den widrigen Umständen; aber ebenso hat es Ursachen in einer Erziehung, die lange Jahre darauf fixiert war, den einzelnen "dysfunktional zum gesellschaftlichen System zu stellen" (Herbert Marcuse), und die in ihrer vulgarisierten Form zu einem hilflosen Gewährenlassen verkommen ist. Ob diese Form der Nichteinmischung die Menschen glücklicher macht, ist angesichts zerbrechender Ehen und einer immer hektischeren Sinnsuche im esoterischen Supermarkt fraglich; daß sie das Gemeinwesen gefährdet, ist immerhin nicht auszuschließen. Sollen sich beispielsweise die Bürger weiterhin höhnisch oder gelangweilt von den demokratischen Institutionen abwenden, bis die Demokratie mangels Masse ihre Legitimation verliert? Alles spricht für einen gewissen argumentativen Druck auf den einzelnen, sich gefälligst für politische Belange zu interessieren.

Als nichts anderes begreife ich das Pflichten-Manifest: Es eröffnet die Möglichkeit zu einer - demokratischen Selbstverständigung darüber, was richtig und falsch, was erlaubt und verboten, ja so gar, was gut und was böse ist. Die Verantwortung sich überhaupt für diese wesentlichen Fragen zu interessieren gibt das Manifest an den einzelnen zurück. Damit ist es nicht paternalistisch sondern -was denn sonst?- politisch.

DIE ZEIT Nr. 44 vom 24.10.97

 

Die Welt lebt von Menschen, die mehr tun als ihre Pflicht.

Ewald Balser

 
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Humanistische AKTION
 
12/2000 
 
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Aktualisiert am 28.11.11