Ein Job zwischen Leben
und Sterben
Der Tod ist Alltag auf Krebsstationen. Für Ärzte und Schwestern
eine besondere Belastung: Einerseits ist der enge persönliche Kontakt
zum Patienten Teil der Therapie. Auf der anderen Seite dürfen sie dessen
Ableben nicht zu nah an sich heranlassen. Und in diesem Konflikt werden
Ärzte und Pfleger oft allein gelassen.
Einmal kommt der Tag, an dem die Schwester diesen Schlüssel vom Haken
nimmt. Die Hand geht zum Anhänger, eine Birne aus Holz, rot lackiert,
an den Stirnseiten abgeflacht. Beherzt schwingt sie die transparente
Plastikschnur von der Halterung an der Wand. Für den Schlüssel
ist kein besonderer Platz vorgesehen. Er hängt im Schwesternzimmer,
so selbstverständlich wie die Zimmerschlüssel. So
selbstverständlich, daß es nicht ins Auge springt. Doch an diesem
Tag steht der Griff zu diesem Schlüssel am Anfang eines endgültigen
Weges. Der letzte gemeinsame einer Schwester mit ihrem Patienten. Der
Schlüssel wackelt, schlägt an einen weiteren roten Änhänger
an der Schnur. Die Aufschrift: Leichenkammer.
Mitten in München. zwischen Theresienwiese und Stachus, zwischen Oktoberfest
und Touristenströmen liegt das Klinikviertel der Universität. Es
ist geprägt von einigen stattlichen Prunkbauten aus der Gründerzeit
mit prächtigen Fassaden und protzigen Innenleben: Granitböden,
Stuck, massive Säulen und aufwendige Holzarbeiten. Und so gleicht der
Gang durch die Frauenklinik ein wenig einer Besichtigungstour. Erst der zweite
Blick, der Blick auf Wegweiser zu Labors und Türschilder von
Operationsräumen holt einen zurück: Krankenhaus.
6Uhr30. Übergabe in der onkologischen Abteilung der Krebsstation des
Hauses: Nachtschwester Salinha Mersinoglu erzählt ihren Kolleginnen,
was nachts los war auf Station. Geschirr klappert. heißer Kaffee gluckert
in die Tassen. "Frau Genslein mußte nachts wieder pieseln. Vielleicht
liegt's daran daß sie tagsüber immer barfuß ist?" "Nein,
nein," entgegnet Schwester und Stationsleiterin Heidi Grän mit weicher
Stimme und nicht zu laut, "der Tumor drückt ihr auf die Blase."
Krebs in Deutschland. Nach neuesten Schätzungen des Robert-Koch-Instituts
erkranken pro Jahr rund 333000 Menschen an Krebs. Nach Schätzungen
wohlgemerkt, denn gesicherte Zahlen gibt es nicht. "Eine breitere Datenbank
ist unbedingt nötig," forden Joachim Benz von der Dachdokumentation
Krebs des Berliner Instituts. Das umfangreichste Krebsregister führen
derzeit die Mediziner im Saarland. Und so rechnen die Forschen ausgehend
von den saarländischen Zahlen auf die Situation im ganzen Bundesgebiet
hoch. Sie gehen davon aus, daß jährlich über 200000 Menschen
an Krebs sterben.
Das Sterben: Vergangenheit rauscht im Zeitraffer vorbei. Ein Leben gerafft
auf ein paar Sekunden oder Minuten. Dann: Stille ... Vorweg werden
Zimmergenossinnen in andere Räume verlegt, dann Atmosphäre geschaffen:
mit Blumen, Deckchen, Duftlampen, demnächst auch mit Musik. Die Hand
halten, Geschichten vorlesen, erzählen, Stille ... Die Hand halten,
erzählen, Stille. Im besten Fall. In an deren Fällen stehen die
Patienten unter massivem Morphiumeinfluß. Der starken Schmerzen wegen.
Die Patienten sind extrem verschleimt, ringen panisch nach Luft. Atmen, Atmen,
Atmen und dann erst: Stille ... Der Tod.
Heute wird wieder ein heißer Tag. Es ist bereits taghell, der Mond
sieht noch am Himmel die Krähe schimpft wie immer und unterhalb des
Balkons tut der Abfalldienst lärmend seine Pflicht. Der
Frühstückstisch ist umringt von Petunien, Rittersporn und Astern,
weiter hinten steht ein Haselnußstrauch. Hier draußen hat die
Station eher etwas von einer Kurklinik. Die Stimmung unter den Schwestern
ist ausgelassen. "Hier ist alles ein wenig anders als auf anderen Stationen."
erzählt Schwester Heidi, "wir haben mehr Zeit für die Patienten,
zum Beispiel für's Waschen. Und: Wir lassen die Patienten auch länger
schlafen."
7Uhr. Wecken und Bettenmachen. Kaffeeduft auf dem Flur, quietschende Schuhsohlen,
Rollwagen mit Frühstück sind im Anmarsch. Moderate Betriebsamkeit.
Die Armada der Frühschicht weckt die Patienten. Das geht flott und frisch,
nicht hektisch und schon gar nicht unfreundlich. Die Laune der Patienten
ist blendend, fast schon unnatürlich gut. Man fragt nach Befindlichkeiten,
scherzt über das Altern und lacht lauthals.
Auf der onkologischen Station werden maximal 17 Patienten von insgesamt 11
Schwestern betreut. Mehr Pflegepersonal also als auf anderen Stationen. Damit
berücksichtigt der Personalschlüssel die besonderen Belastungen
für Schwestern auf Krebsstationen. Daß hier, in der Onkologie,
nur Frauen arbeiten, ist kein Zufall. "Frauen sind atmosphärisch
empfänglicher und: Frauen haben eine andere Beziehungsstruktur als
Männer," erklärt Almuth Sellschopp. Sie ist Leiterin des Konsildienstes
am Klinikum rechts der Jsar und als solche für die psychologische
Betreuung der Patienten dort zuständig. Doch hin und wieder liegen auf
ihrer Couch auch Ärzte und Schwestern und suchen Hilfe, seelischen Beistand,
um mit dem unmittelbaren Kontakt zum Tod im Alltag zurecht zu kommen.
Der letzte Weg: zunächst den langen Stationsflur entlang. Links auf
den Holztäfelchen über den Türen: 275...274...273... Die
Zimmernummern der anderen Patienten. Frau Hauser zum Beispiel: immer bester
Dinge, erzählt zu viel, lacht zu laut und das, obwohl es das Schicksal
nicht gerade gut mit ihr meint: inoperabler Gebärmutterkrebs. Vorbei
an der Putzfrau, die immer über zu viel Arbeit klagt. Schwester Heidi
würde es immer ganz genau nehmen. Ein Blick durch die großen Fenster
auf die Terrasse. Draußen ist Sommer und ein paar Schwestern tanken
Sonne. Vorbei am Lesetisch, wo die üblichen Magazine ausliegen. Und
dieser Roman mit dem Titel "Im Spinnennetz des Todes". Ein Roman um
Liebe und Geheimnis, wie es auf dem Buchdeckel heißt. Ausgerechnet
hier.
"Am Horizont geht es um Tod und Sterben." beschreibt Almuth Sellschopp das
Grundproblem für Pflegepersonal und Ärzte auf Krebsstationen.
"Erschöpfung, Appetitlosigkeit, unspezifische Schmerzen, Widerwillen
gegenüber der Arbeit auf Station," faßt Sellschopp die Symptome
dieser Klientel zusammen. "Wo Krebs ist, ist auch Krach," hat sie vor Jahren
einmal gesagt und sie spricht von einer psychohygienischen Zumutung auf
Krebsstationen. Tod ist Alltag, Streit ist Alltag.
7Uhr30. Visite auf Station. Der Troß der weißen Kittel setzt
sich in Bewegung. Vorneweg der Oberarzt Professor Harald Sommer. Dahinter
der Stationsarzt, dann ein Arzt im Praktikum, eine Medizinstudentin im
Praktischen Jahr. Und zuletzt die Stationspflegerinnen. Die Reihenfolge ist
Hierarchie, die Hierarchie unantastbar. Doch in einem Zimmer fällt
plötzlich die Rangordnung. Frau Genslein bricht in Tränen aus.
Sie will nach Hause und versteht nicht, warum ihr Freund so selten zu Besuch
kommt. Ein Schluchzen, dann beginnt sie zu weinen. Keiner auf Visite, der
nicht den Tränen nahe wäre. Der Stationsarzt, die wichtigen
Krankenakten in der Hand, tritt einen Schritt zurück. Er bemerkt, daß
sein bewährtes "Wie geht's Ihnen heute?" versagen würde. Was zu
tun ist, weiß Schwester Heidi. Tröstend legt sie ihre Hand auf
die Schulter. Professor Sommer beruhigt die Patientin: "Ich habe lange mit
ihrem Freuiid telefoniert, das klappt schon alles." Frau Genslein: Mitte
40, den Körper voller Metastasen, verbleibende Zeit: ein paar Monate.
Jeder im Raum weiß das, der Troß begibt sich aus dem Zimmer.
"Junge Ärzte sind mit der Situation auf Krebsstationen oft
überfordert," gibt die Psychologin Sellschopp zu bedenken. Denn gegen
den Krebs weist die Schulmedizin keinen eindeutigen Weg aus, hat keine restlos
heilende Therapie parat. In vielen Fällen kann die gängige Strahlen-
oder die Chemotherapie Leben lediglich verlängern, unter Umständen
die letzten Momente des Lebens angenehmer gestalten, den Feind Krebs besiegen
kann sie nicht. Und daraus resultiert Frust. "Der Arzt muß zu mindestens
50 Prozent ein sehr guter Psychologe sein und dann erst Chirurg." Psychologe
für den Patienten, Psychologe für sich.
Der letzte Weg: Am Ende des Ganges liegt einer der vielen Knotenpunkte
des Hauses. Hier treffen drei Flure aufeinander, ein Treppenhaus und ein
altertümlicher Aufzug. Hier hasten eilige Arzte zum nächsten Termin,
Patienten schlendern zeitvergessen von Station zu Station, Besucher suchen
irritiert nach Wegweisern. Per Knopfdruck den Aufzug anfordern und mit dem
anderen Schlüssel, dem mit dem massiven Eisenring, die Tür
öffnen. Manchmal kommt einem der Rollwagen mit Essen entgegen, manchmal
Ärzte oder Patienten. Drinnen riecht es leicht nach Maschinenöl,
die Seitenteile sind mit Holz vertäfelt. Drei Stockwerke tiefer. Es
ruckelt. Festen Halt bietet das Bett mit dem ausgebreiteten Laken. Darunter
der Leichnam.
"Wichtiger Bestandteil der Therapie ist engster Kontakt zu den Patienten,"
weiß auch Stationsarzt Günther Schmid. Wie er das sagt, wirkt
es aber wie alles, was er über Krebstherapien erzählt: gut gelernt,
aber nicht verinnerlicht. Wie soll er auch. Stationsarzt Schmid ist im Rahmen
seiner Ausbildung zum Gynäkologen nur ein halbes Jahr auf der Krebsstation
der Frauenklinik. Und seine erste Reaktion auf die Frage, was ihn motiviert,
auf einer Krebsstation zu arbeiten. verrät eher Unsicherheit, denn
Abgeklärtheit: "Jeder von uns muß mal hierher." und: "Mit der
Zeit stumpft man ab."
Wieweit lasse ich mich auf einen Patienten ein? Wie nahe lasse ich ihn an
mich heran? Die Schlüsselfragen für Schwestern und Ärzte auf
Krebsstationen. Denn zum einen gilt: Der persönliche Kontakt ist Teil
einer erfolgreichen Therapie. Doch auf der anderen Seite lauert der
mögliche Tod des Patienten. Wer zuviel Emotionen investiert, läuft
Gefahr, daß mit dem Patienten ein Stück eigene Identität,
ein Stück Selbst, stirbt.
Eine wirklich befriedigende Antwort auf diese Frage weiß auch die
Psychologin nicht: "Man muß lernen zu trennen: Einerseits baue ich
eine persönliche Beziehung zu einem Patienten auf," erklärt Almuth
Sellschopp. "Doch mein Privatleben darf ich nicht einbringen. Im Gegenteil:
Dort muß man aktiv die Probleme des Stationslebens kompensieren."
Der letzte Weg: raus aus dem Aufzug. Den Wagen scharf nach links lenken.
Rechts steht die Tür zur Küche offen. Ein Koch hetzt umher. In
der Nase mischt sich der Geruch des Maschinenöls aus dem Aufzug mit
einer undefinierbaren Melange von Instantdüften aus der Küche.
Hinten links ein Cola-Automat, daneben der Flur zum Kasino. Die Reifen des
Rollbettes quietschen laut um die Kurve. Töpfe schlagen aufeinander,
Geschirr klirrt, eilige Schritte ins Kasino. Im Hall des Flures vermengen
sich Alltagsgeräusche. Links steht ein Wagen mit Wäsche. Am Ende
Tageslicht. Eine Tür nach draußen steht offen. Ein warmer Luftzug
erinnert hier im Keller an den warmen Sommertag. Wäsche waschen, Sommer
... Gedanken an den Verstorbenen.
Selbsthilfegruppen für das Personal auf Krebsstationen gibt es an den
meisten Kliniken nicht. Nur ein Pflicht-Praktikum für den Medizinstudenten,
bei dem er lernt, wie man mit Patienten umgeht. Nicht aber mit sich selbst.
Und: Viele Universitätskliniken bieten eine berufsbegleitende Weiterbildung
für das Pflegepersonal an. Mit Seminaren über Sterbebegleitung
zum Beispiel, Hilfen zum eigenen Schutz und der Pflege der eigenen Psyche
stehen nicht auf dem Programm. Und so liegt es an jedem selbst, einen Weg
zu finden.
"Anfangs suchte ich nach Parallelen zwischen dem Leben meiner Patienten und
meinem eigenen," reflektiert Christine Vogt ihre Arbeit nach zwei Jahren
auf Station. "Ständig stellte ich mir die Frage nach dem Sinn des Lebens."
Die Folge waren starke Depressionen, die sie versuchte, mit Hilfe eines
Psychologen in den Griff zu kriegen. Sie erzählt von den
schmerzerfüllten Schreien und dem qualvollen Tod einiger Patienten,
von der menschenunwürdigen Form des Sterbens unter Morphiumeinfluß.
Inzwischen empfindet sie diese Erfahrungen als Bereicherung. "Dadurch, daß
ich weiß, daß das Leben ein Ende hat, lebe ich viel bewußter."
Aktive Kompensation: Sie trifft sich mit Freunden in Biergärten, trainiert
im Fitneß-Studio und geht Schwimmen. Und: "Ich bete jeden Abend."
"Früher fand ich nach der Arbeit keine Ruhe," erinnert sich Irmgard
Ettl. "Das Schicksal meiner Patienten hat mich verfolgt und ich mußte
zu Hause oft weinen." Sie hat Hebamme gelernt, stand beruflich also schon
am anderen Ende des Lebens. Dort, wo Leben entsteht. Den Sprung hin zur Arbeit
mit Sterbenden hat sie gemacht, weil sie die individuelle Pflege und einen
engeren persönlichen Kontakt zu den Patienten suchte. "Wenn ein Patient
meine Nähe braucht, eine Beziehung aufbauen will, lasse ich ziemlich
viel zu." Seit elf Jahren arbeitet sie auf der Krebsstation und hat viele
Kranke bis zu ihrem Tod begleitet. Sie müßte wissen, wieviel sie
von sich investieren darf und wann sie eine Grenze ziehen muß. Doch
dann gibt es inner wieder diese Fälle, die solche Weisheiten zu grauer
Theorie erstarren lassen. "Einmal habe ich eine 29jährige begleitet.
Fast ein Jahr lang. Da war mehr als Freundschaft. Und dann kam sie zum Sterben
auf Station."
Die Leichenkammer: ein Kellergewölbe. Stille ... Rechts eine
Kühltruhe aus blitzblankem Stahl. Etwa zwei Meter lang, 1,50 Meter breit:
Platz für zwei Tote. Direkt darüber: ein Kruzifix. Zwei orange-farbene
Lämpchen zeigen den Betrieb des stählernen Monstrums an. Das Fenster
mit Fliegengitter steht offen. Stille ... Vier Stühle. Ein
Kühlschrank, Putzeimer, Schrubber. Stille ... Kaum Tageslicht. Ein Schrank,
zwei quadratische Lampenverkleidungen an der Decke. An der Wand eine Schale
aus oxidiertem Kupfer: blau-grün. Für Weihwasser. Im Moment ist
sie ausgetrocknet. Stille ... Abschied.
Johannes Pfeuffer
(Die Namen der Patienten wurden geändert)
Auf dem Friedhof
sehe ich Gräber
schön gepflegt
mit Blumen und Sträuchern.
Laßt mein Grab
verwildern
und gebt mir zu
Lebzeiten die Blumen.
Kristiane Allert-Wybranietz
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Lesen Sie auch den Bericht einer der in diesem
Artikel genannten Krankenschwestern
über ihre eigenen Erfahrungen als Patientin in einem anderen
Krankenhaus.
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