Offener Brief an die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Geschlechterdemokratie!

 
Nach dem Wechsel in Bonn:

Für einen Neuanfang in der Geschlechterpolitik, der die Männerfrage, die Familienarbeit und die Wechselwirkungen im Geschlechterverhältnis stärker berücksichtigt

Nach zwanzig Jahren Engagement und einer breiten Etablierung scheint die Geschlechterpolitik in die Stagnation geraten zu sein. Der Anteil der Frauen an der Erwerbsarbeit ist vor allem im Bereich von Teilzeitarbeit und ungeschützen Arbeitsverhäftnissen gestiegen. Gerechnet als Anteil am Gesamtvolumen bezahlter Arbeit sind kaum Zuwächse zu verzeichnen. In den oberen Etagen der Erwerbspyramide ist das Verhältnis der Geschlechter weiterhin in krasser Schieflage. Zudem besteht die Gefahr, daß sich Frauen gerade dort der männlichen geprägten Habituskultur eher anpassen (anpassen müssen), als sie zu verändern.

Auf der anderen Seite, im Bereich Familie (immer gemeint im weitesten Sinne), hat sich trotz vieler Appelle und Anklagen auch wenig getan, die männliche Rollenfestung zeigt bestenfalls Kratzer Der Anteil der Väter, die sich auf einen Erziehungsurlaub einlassen, stagniert seit Jahren bei 2%. Ein immer größerer Anteil der der voll- und teilzeitbeschäftigten Männer strebt - freiwillig oder unfreiwillig - wieder längere Arbeitszeiten an

Dies hat natürlich vor allem ökonomische Gründe. Zeiten rückläufiger Realeinkommen sind meist Zeiten der Stabilisierung alter Rollenmuster. Andererseits muß die herkömmliche Gleichstellungspolitik, überwiegend formuliert als Frauenförder- und Antidiskriminierungspolitik, auf den Prüfstand: Sind ihre Schwerpunkte noch richtig gesetzt, können ihre Instrumente, unter den bestehenden ökonomischen Verhältnissen zumal, noch wirksam sein?

Wir, eine lose Gruppe von WissenschaftlerInnen, PublizistInnen, PolitikerInnen und GewerkschafterInnen, die in oder mit unseren Institutionen und Arbeitszusammenhängen mit Frauen- oder Männerpolitik, bzw. Gleichberechigungsfragen befaßt sind, wollen, daß wieder Schwung kommt in den Prozeß der Geschlechtergleichberechtigung. Denn wir sehen darin eine im wörtlichen Sinne fundamentale gesellschaftliche Herausforderung, die wir lösen müssen,

  • um die Chancen von Frauen auf gleiche Teilhabe am (Arbeits)leben zu verwirklichen,

  • um Männern Auswege aus ihrer eindimensionalen Ausrichtung auf die Erwerbsarbeit zu ermöglichen,

  • um Kindern die Chance zu eröffnen, mit emotional und alltäglich präsenten Müttern und Vätern aufzuwachsen,

  • um über Arbeitszeitverkürzungen zu einer gerechteren Verteilung der Arbeit nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen (Lohn-)Arbeitenden und Erwerbslosen zu kommen,

  • um über andere männliche (und weibliche) Rollen und Vorbilder einen Beitrag zur Prävention und Eindämmung von Gewalt zu leisten.

Ein wesentlicher Mangel der bisher vorherrschenden Gleichstellungspolitik war es, die andere, männliche Seite des Geschlechterverhältnisses zu wenig ins Blickfeld genommen zu haben, bzw. sie meist nur in der Objekt-Form von Forderungen und Kritik thematisiert zu haben. So ist es nicht gelungen, die Defensive und das konservative Desinteresse der Männermehrheiten zu überwinden. Unsere Erfahrung und Überzeugung ist jedoch, daß das Recht von Frauen auf Chancengleichheit im Erwerbsleben sich nur in dem Maße verwirklichen läßt, wie es gelingt, Männer auch für die Aufgaben im Familienbereich zu gewinnen.

Wir wünschen uns daher im Interesse von Männern und Frauen einen Paradigmenwechsel und Neuanfang in der Geschlechterpolitik.

Die emanzipatorischen Interessen von Männern müssen als zentrales Thema in ein Politikfeld "Geschlechterdemokratie" aufgenommen werden. Entsprechend muß das Geschlechterverhältnis im Familienbereich viel stärker aufgegriffen und in seiner Wechselwirkung zur Rollenverteilung im Bereich Beruf/Arbeit thematisiert werden.

Dies bedeutet: mehr Forschung, mehr Förderung, mehr Diskussion über Gründe der männlichen Fbderung auf die Erwerbsarbeit, über Strategien der Absenkung von Hürden auf dem Weg hin zu mehrdimensionalen Lebensentwürfen, in denen Platz für die Orientierung auf Kinder und Familie (in all ihren Relitäten) ist.

Dies bedeutet: Einbeziehung von Männern in die Formulierung und Umsetzung dieses Politikfeldes.

Dies bedeutet: Einstellungswandel bei Männern, wie auch Frauen, und zugleich: Änderung von gesellschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen, die die alten Rollenmuster zementieren. Stichworte: Umbau des Erziehungsurlaubsrechts, Gleichberechtigung im Familienrecht, Abschied vom Alleinverdienermodell als Grundlage des Steuer- (Ehegattensplitting) und Rentenrechts, weil es nicht nur Frauen auf die Familien-, sondern auch Männer auf die Ernährerrolle festlegt.

Dies bedeutet: ein neues Bündnis für Gleichberechtigung! Unbestritten bestehen Interessengegensätze zwischen Männern und Frauen fort. Unbestritten auch, daß Frauen, mitunter auch Männer, sich gegen Diskriminierungen wehren, bzw. geschützt werden müssen. Die wesentlichen Projekte der Gleichberechtigung jedoch werden nicht gegen das andere Geschlecht, sondern nur in einem Emanzipationsbündnis der Geschlechter zu verwirklichen sein: in einem Emanzipationsbündnis gegen die Stagnation und den roll-back in der Geschlechterfrage, und damit gegen restaurative Tendenzen auf der Männer- wie auf der Frauenseite.

November 1998

Unterzeichnerinnen / Unterzeichner (alphabetisch):

Alexander Bentheim, Männerwege/ Switchboard Informationsdienst für Männer, Hamburg; Gisela Breit, Gewerkschafterin, Düsseldorf; Dr. Stefan Cramer, Heinrich Böll Stiftung, Berlin; Dr. Peter Döge. IAIZ e.V., AG Männer- und Geschlechterforschung, Berlin; Achim Exner, Oberbürgermeister a.D., Wiesbaden; Angela Fauth-Herkner, Arbeitszeitberaterin, München; Michael Firle, Männerwege/Switchboard Informationsdienst für Männer, Hamburg; Prof. Dr.Dr.Dr. W.E.Fthenakis, Universität Augsburg; Thomas Gesterkamp, Journalist und Buchautor, Köln; Prof. Dr. Peter Grottian, FU Berlin; Christine Henry-Huthmacher, Konrad-Adenauer-Stiftung, Abteilung Frauen, Bonn; Detlef Hensche, Vorsitzender Industriegewerkschaft Medien, Stuttgart; Prof, Dr. Walter Hollstein, EvFH, Berlin; Dörthe Jung, Büro für frauenpolitische Forschung & Beratung, Frankfurt/M.; Ulli Klaum, Schwulenbildungsarbeit HVHS Waldschlößchen, Göttingen; Traudel Klitzke, Wolfsburg; Dr. Ellen Kirner, DIW; Dr. Gabriele Kriese, Ministerialdirigentin, Sozialministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin; Stanislaus Lodzik, Ref. Männer und Familie, gleichgeschlechtliche Lebensweisen, Sozialministenum des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin; Dr. Kathrin Menzel, Konrad-Adenauer-Stiftung, Abteilung Frauen, Bonn; Prof. Dr. Kurt Möller, Hochschule für Sozialwesen, Esslingen; Dr. Claudia Neusüß, Vorstandsmitglied der Heinrich Böll Stiftung, Berlin; Prof. Dr. Hildegard Maria Nickel, Humboldt-Universität zu Berlin; Prof. Dr. med. Horst Petri, Berlin; Heike Rahlves, Leiterin Fachbereich FrauenLesbenBildung im VNB - Landeseinrichtung der Erwachsenenbildung, Osnabrück; Martin Rosowski, Männerarbeit der EKD, Kassel; Ralf Ruhl, Leiter Fachbereich Männerbildung im VNB - Landeseinrichtung der Erwachsenenbildung, Göttingen; Dr. Werner Sauerborn, Redaktion PAPS - Zeitschrift für Väter, Stuttgart; Silvia Schenk, Frauendezernentin, Frankfurt/M; Thomas Scheskat. Männerbüro e.V., Göttingen; Ute Scheub, Journalistin, Berlin; Prof. Dr. Dorothea Schmidt, FHW Berlin; Dr. Harald Seehausen, Deutsches Jugend Institut (DJI). Frankfurt; Ulrike Seibert, Hessischer Rundfunk, Leiterin Frauen-Programme; Prof. Dr. Brigitte Stolz-Willig, Fachhochschule Frankfurt; Petra Streit, Vorstandsmitglied der Heinrich Böll Stiftung, Berlin; Dr. Volker Teichert, FEST, Heidelberg; Henning von Bargen. Ref. Gemeinschaftsaufgabe Geschlechterdemokratie, Heinrich Böll Stiftung, Berlin; Gunda Werner, Ref. Gemeinschaftsaufgabe Geschlechterdemokratie, Heinrich Böll Stiftung, Berlin; Dr.Dr. Wilfried Wieck, Psychotherapeut, Berlin; Marianne Zepp, Ref. für Frauenpolilik und Zeitgeschichte, Heinrich Böll Stiftung, Berlin.

 

Erst dann werden die leidigen Symptome der Ungleichheit von Mann und Frau kein
Problem mehr sein, wenn deren biologische Ursache bekannt und anerkannt ist.
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Der Mensch kann immer nur ein halber Mensch sein - entweder der weibliche,
oder der männliche Teil - erst beide zusammen ergeben den ganzen Menschen.

 
siehe auch die Texte  'Mann-Frau-Problem'  -  'Kultur und Sexualität'  -  'Das Tier im Global Player'
  


Mit freundlichen Empfehlungen
 
Humanistische AKTION
 
6/2000 


 
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www.humanistische-aktion.de/gender02.htm

Aktualisiert am 17.11.11