Das Zusammenspiel von Fühlen
und Denken
Dem Rätsel der Geschlechterbeziehung
auf der Spur
Leon Kaplans Buch "Das Mona-Lisa-Syndrom"
Für die "Veranlagung" ist nicht die besitzergreifende,
überfürsorgliche Mutter schuld, nicht die Familienverhältnisse.
Schuld ist - der Streß. Genau genommen eine unzulängliche
Konzentration des männlichen Hormons Testosteron während der 13.
bis 15. und der 20. bis 25. Schwangerschaftswoche: In diesen beiden Phasen
nämlich wird beim Embryo das Sexualzentrum zunächst hormonell
aktiviert, dann programmiert. Und damit ein für allemal das
"Partnerprogramm", das Sexualverhalten festgelegt. So jedenfalls lautet die
überaus einleuchtende Theorie des Mediziners und Biochemikers Professor
Leon Kaplan, der diese komplizierten genetisch-hormonellen Zusammenhänge
lange selbst mit erforscht hat. Sein Buch "Das Mona-Lisa-Syndrom - Männer,
die wie Frauen fühlen" (Econ, 39,80) spricht dafür, daß uralte
Rätsel der Ursachen für Sexualverhalten, gleichgeschlechtliche
Liebe und Sexualappetenz (Verlangen) endlich gelöst ist.
Für die so hintergründig lächelnde Mona Lisa gab es kein
weibliches Modell, Leonardo hat das Bild in den Jahren 1504 bis 1517 in Florenz
gemalt, aber, gegen alle Gewohnheit, niemals das Modell und den Auftraggeber
genannt Das hatte seinen guten Grund: Modell für die Mona Lisa war der
Künstler selbst. Leonardo war, wie viele große Künstler,
homosexuell. Das bekannteste Gemälde der Welt war also gleichsam ein
"Gefühlsporträt", der subtil gestaltete Ausdruck seiner
"Männerweiblichkeit". Leon Kaplan nennt die paradoxe Fügung, daß
in Männerkörpern eine weibliche Seele wohnen kann, "Mona-Lisa-Syndrom",
er hätte es mit dem gleichen Recht James-Dean- oder gar Hannibal-Syndrom
nennen können.
Überfülle von Beweismaterial
Das Buch, eine vorzügliche Mischung aus sozialpsychologischem und
historischem Essay, Gesellschaftskritik und Hormon-Forschungsbericht,
enthält eine Überfülle von Beweismaterial. Wenn diese
sensationelle Theorie stimmt - und dafür spricht viel -, dann gibt es
zuverlässige Möglichkeiten, die notorische Disharmonie zwischen
Körper, Geist und Gefühlen während der entscheidenden
Schwangerschaftswochen medikamentös zu manipulieren, also einer
homosexuellen Veranlagung vorzubeugen.
Die entscheidende Rolle spielt dabei das männliche Sexualhormon Testosteron,
das auch im weiblichen und embryonalen Organismus produziert wird. Wenn die
Konzentration ausreichend hoch ist, wird im männlichen Embryo nur das
männliche Sexualzentrum programmiert "Ist dagegen in dieser kritischen
Zeit nur wenig Testosteron vorhanden, kann sich nur das weibliche Sexualzentrum
in einem männlichen Embryo entwickeln.
Der Streß stört die Balance
Das fein abgestimmte hormonelle Zusammenspiel während der Schwangerschaft
wird vor allem durch Streß aus der Balance gebracht. Auslöser
extremen Stresses sind der Verlust des Partners, quälende Ehe- oder
Berufsprobleme (Arbeitslosigkeit), vor allem auch Todesangst. Kaplan: "Unter
dem Einfluß der Schrecken des Bombenterrors und der ständigen
Ängste um den als Soldat kämpfenden Mann wurden in den Kriegsjahren
1942 bis 1945 in Mitteldeutschland dreimal soviel spätere Homosexuelle
zur Welt gebracht.
Ein erhöhter Testosteron-Spiegel während der Schwangerschaft ist
auch Ursache der weiblichen Homosexualität Aber lesbische Lebe ist und
war niemals - die stärkeren Gefühle! - nur eine Sache der
Sexualität, sie entsteht immer auch aus Freundschaft und aus dem
Bedürfnis nach Harmonie und Zärtlichkeit
Professor Kaplans Forschungsergebnisse erklären nicht zuletzt auch den
gleitenden Übergang von reiner Homosexualität über die
Bisexualität und Homoerotik bis zur eindeutigen Heterosexualität:
Unterschiedlich stark ausgebildete Sexualzentren im Hypothalamus, dem Wandteil
des Zwischenhirns, bewirken ein graduell differenziertes Sexualverhalten.
Und nicht allein das, sondern auch ein größeres "Repertoire" an
Gefühlen. Das ist von Bedeutung für viele Lebensbereiche, für
die menschlichen Beziehungen ebenso wie für eine höhere
Kreativität auf verschiedenen Gebieten:
Zum Beispiel enthält das Corpus callosum, eine Art Telefonkabel, das
zwischen der rechten und der linken Hirnhälfte, also, grob gesagt, zwischen
der Welt des Verstandes der Vernunft, der Sprache und der Welt der Gefühle,
vermittelt, bei Frauen und Homosexuellen bis zu 25 Millionen zusätzliche
Nervenleitungen. Das bedeutet eine bessere Einfühlungsgabe in Menschen
und menschliche Beziehungen. Vor allem auch ein subtileres Sprachgefühl.
Daß Dichter nicht nur eine wesentlich breitere Gefühlspalette
haben, sondern ihr auch besseren sprachlichen Ausdruck verleihen können,
verdanken sie also einer nervalen Besonderheit - einem Nervenbündel...
Leon Kaplans Buch enthält eine Fülle verblüffender
Beweisführungen, es erklärt Phänomene, über die seit
jeher gerätselt wurde. Zum Beispiel, warum Frauen sich mit dem Komponieren
schwertun, warum Bisexualität ausbrechen, aber auch wieder verschwinden
kann. Oder warum Goethe offenbar erst im 38. Lebensjahr mit einer Frau intim
wurde: Er war Homoerotiker, der Zeit seines Lebens den männlichen.
Körper als schöner einschätzte als den weiblichen.
Zusammenspiel von Fühlen und Denken
Gerade diese vielen "Gegenproben", die Überprüfung der hormonellen
Befunde an berühmten Menschen, machen die Lektüre des in seinen
wissenschaftlichen Passagen nicht ganz einfachen Buches auch für den
Laien möglich und wichtig. Kaplan verhilft dem Leser - man muß
diesen Superlativ riskieren - zu einem völlig neuen Verständnis
nicht nur des Sexualverhaltens, sondern auch des Zusammenspiels von Fühlen
und Denken. Und damit vom Wesen der menschlichen "Seele".
Toni Meissner
AbendZeitung München 28./29.06.1990
'Der Irrtum mit der Seele'
Mit freundlichen Empfehlungen
Humanistische AKTION
8/1999
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