MUT ZUR WENDE
Ansätze zu einer gesellschaftlichen
Neuorientierung
Von Camille Schmid
Kritische Mitarbeiter: Werner Binder, Gil Ducommun, Franz Schnyder
Einleitung
Wir leben in einer Zeit nie dagewesener Herausforderungen. In einer Zeit
des großen Abenteuers!
Wir erfreuen uns eines Überflusses an Gütern und Dienstleistungen.
Die meisten von uns. Immer noch. Wir können mit unserer materiellen
Lebensausstattung ein reiches und anregendes Leben führen.
Andere können das nicht. Weltweit die große Mehrheit. Unzähligen
fehlt das Lebensnotwendigste. Kann uns das gleichgültig lassen? In der
«Einen Welt», wo die Verbindung in Wort und Bild von Kontinent
zu Kontinent nur noch Sekunden dauert? Und sich schwarz und braun und gelb
und weiß immer bunter mischen?
Noch aus einem anderen Grunde können wir uns diesen Überfluß
in Wirklichkeit nicht leisten. Unser Planet ist nun einmal kein
unerschöpflicher Rohstofflieferant und kein Abfallkübel ohne Boden.
Daß wir diese Probleme im Griff hätten oder auch nur in den Griff
bekommen könnten, wenn wir unsere Ansprüche nicht
zurückschrauben, ist eine Illusion.
Wir werden das Abenteuer auch nicht bestehen, wenn wir uns gegenseitig kaputt
machen. Wir sind doch nicht so naiv, zu glauben, die Verlierer werden tatenlos
zu sehen, wie die Sieger die Welt unter sich aufteilen? Nachdem die Zeiten
längst vorbei sind, da unser Planet in der Lage wäre, allen
Erdenbewohnern einen Lebensstandard nach unserem Geschmack zu ermöglichen?
Unsere hochvernetzte Zivilisation hat viel «effizientere» Ansatzpunkte
für tödliche Angriffe als jene, die sich durch Superwaffen
schützen lassen!
Anstatt schrill und schräg und hektisch und süchtig und aggressiv
weiterzuhasten, sollten wir uns einmal überlegen, wer wir eigentlich
sind und was wir eigentlich wollen - als Individuen und als Gesellschaft.
Statt uns von «Marktkräften» auf Bahnen weiterhetzen zu lassen,
die ins Nichts zu führen drohen, sollten wir Pfade suchen, die alle
Erdenbewohner samt unseren Nachkommen in eine lebenswerte Zukunft führen.
«Grenzenlos» können dabei nur unsere Erfindungsgabe, unsere
Phantasie und unser Wille zur Solidarität sein.
Diese Publikation gehört zu denjenigen, die wenigstens einen Anfang
machen wollen. Die neuen Wege zu finden, bedarf es der Zusammenarbeit
vieler. Sie ist 1996 entstanden im Zusammenhang mit einer Eingabe zum Thema
der Totalrevision der Schweizer Bundesverfassung, die uns Anlaß zu
einer breiteren und tieferen Diskussion sein sollte als sie unser Parlament
vorgesehen hat. Es ist an der Zeit, daß die wahrhaft Innovativen ihre
Kräfte besser sammeln und zur Geltung bringen. Nehmen wir die
Herausforderung an! Es ist keine leichte, aber eine lohnende und faszinierende
Aufgabe.
Camille Schmid
Hinweis: Die in [eckige Klammern] gesetzten Zahlen
sind Querverweise auf die Absatzziffern mit gleicher Thematik ( Beispiel
[190] )
Wozu leben wir?
[l] Wir leben, um glücklich zu sein. Was aber ist «Glück»?
[2] Gelungene Selbstverwirklichung macht glücklich. (Augenblicke
höchsten Glückes erfahren wir allerdings als Geschenk, nicht als
Errungenschaft.) Wer aber ist dieses Selbst? Wer bin ich?
[3] Dieses Ich kann jedenfalls kein Insulanerdasein führen. Wir leben
in Verbänden: in der Familie, in privaten Vereinigungen, Gemeinden,
Kantonen, im Bundesstaat, in der Völkergemeinschaft. Ohne diese
Verbände wären wir nicht überlebensfähig. Besonders nicht
in unserer Zeit sich verdichtender Vernetzungen und Abhängigkeiten.
[4] Die Gemeinwesen schaffen Rahmenbedingungen für unsere
Selbstverwirklichung. Sie können mehr oder weniger eingreifend sein.
Im demokratisch strukturierten Gemeinwesen wirken wir an der Gestaltung dieser
Rahmenbedingungen mit.
[5] Das Gemeinwesen muß ein
«Menschenbild» haben: ein auf einen gemeinsamen Nenner gebrachtes
Selbst - ein Kollektiv-Selbst gewissermaßen. Wie sonst soll das Gemeinwesen
wissen, zu welcher Art Selbstverwirklichung Hilfe zu leisten ist? Das
Menschenbild bestimmt auch, welchen Werten bei Interessenkonflikten der Vorzug
gegeben werden soll: Es inspiriert eine Hierarchie der Werte. «Werte»
sind in diesem Zusammenhang Interessen und Anliegen, denen die Gesellschaft
ein Recht auf Erfüllung zubilligt. [70,
73, 113, 165]
[6] Hier zeigen sich die Grenzen des Pluralismus in der Gesellschaft. Das
Zusammenleben wird chaotisch, wenn ein jeder nur seine Façon
glücklich zu werden, bis zum letzten durchsetzen will.
Die staatliche Tätigkeit soll die Lebensqualität
fördern
[7] Was ist «Lebensqualität? Wir könnten sie umschreiben
als die Gesamtheit der Möglichkeiten, die sich im Hier und Jetzt unserem
Selbstverwirklichungsstreben bieten. Soweit es sich dabei um die Ausstattung
unseres Lebens mit materiellen Gütern und Dienstleistungen handelt,
reden wir von «Lebensstandard».
[8] Wir erfreuen uns nicht nur im historischen, sondern auch im
gegenwartsbezogenen Vergleich etwa mit einem Armen der Dritten Welt
- eines fürstlichen Lebensstandards. Das gilt für
breite Einkommensschichten.
[9] Ein hoher Lebensstandard kann der Selbstverwirklichung förderlich
sein. Er bietet vielfältige Entfaltungshilfen. Ein unter das materielle
Existenzminimum sinkender Lebensstandard dagegen läßt lebenswichtige
Bedürfnisse und Fähigkeiten in der Alltagssorge um das
Lebensnotwendigste verkümmern.
[10] Einen Verkümmerungseffekt kann auch eine Überschwemmung
mit Gütern und Dienstleistungen haben. Herstellung und Konsum der
Schwemme fordern ein Übermaß an Kraft und Zeit.
Geistig seelische Grundbedürfnisse werden vor lauter Sorge um das
Haben, um das «Noch mehr und noch besser» in
hintere Ränge versetzt oder überhaupt verdrängt.
Unsere Gesellschaft ist weitergehend als je zuvor von ihrer
Wirtschaftsordnung geprägt
[11] Die «Marktwirtschaft» in ihrer gegenwärtigen Form ist
inzwischen weltbeherrschend geworden.
[12] An dieser Wirtschaftsordnung fallen folgende Wesenszüge auf:
[13] - Zunächst der hohe und weiterhin wachsende Standard der Technologie.
Er ermöglicht eine Güterproduktion von ungeheuren Ausmaßen.
Der Absatz dieses Massenausstoßes wird gewährleistet durch eine
breite Streuung von Kaufkraft und durch eine allgegenwärtige
Bedarfsweckungspropaganda. [195]
[14] - Die Weiterentwicklung der Technik beschleunigt sich ständig.
Die neuen Produktionsmethoden und Produkte folgen sich immer rascher.
Manches, was heute auf den Markt gelangt, ist auf den Zeichentischen der
Konstrukteure bereits veraltet.
[15] - Ein Motor der sich beschleunigenden Weiterentwicklung ist das
Höchstrenditenbedürfnis des wachsenden Kapitals. Vor allem aber
ist es der Wettbewerb. Im Kampf aller gegen alle um den Absatz des
Massenausstoßes haben nur jene Produzenten eine Überlebenschance,
die billiger produzieren, teure menschliche Arbeitskraft einsparen, ein
überlegenes Marketing haben und den Konkurrenten mit Innovationen bei
der Produktion und den Produkten ständig um eine Nasenlänge voraus
sind.
[ 16] - Die immer schneller laufende Innovation läßt das Bisherige
immer kurzfristiger veralten. Je geläufiger die
Wegwerfgebärde, desto mehr Platz wird geschaffen für das ungestüm
nachstoßende Neue.
[ 17] - Der Produktionsapparat ist bereits leistungsfähiger als es die
Aufnahmefähigkeit der noch ausreichend zahlungsfähigen Abnehmer
erlauben würde. Der Konkurrenzkampf verschärft sich. Die
Kauffreudigkeit der Konsumenten muß ständig gesteigert werden,
wenn es nicht wirtschaftliche Zusammenbrüche geben soll.
[18] - Die permanente Steigerung der Effizienz des Produktionsapparates
setzt laufend Arbeitskräfte frei. Für sie müssen neue
Arbeitsplätze geschaffen werden, was den Ausstoß an Gütern
und Dienstleistungen und damit die Absatz und Konsumzwänge
weiter erhöht. Wo dieser Anstoß an die Grenzen der
Aufnahmefähigkeit der Märkte stößt, wird Arbeitslosigkeit
unheilbar.
[19] Das immerwährende quantitative Wachstum ist in unseren
Wirtschaftsstrukturen zum Systemzwang geworden.
[183]
[20] Diese Art des Wirtschaftens sei
«Wachstumskonkurrenzwirtschaft» genannt. Sie ist
Marktwirtschaft. Aber nicht jede Marktwirtschaft ist
Wachstumskonkurrenzwirtschaft. [178]
[21] Mit dieser Charakterisierung ist natürlich nicht die ganze Spannweite
heutigen Wirtschaftens erfaßt. Aber es sind jene Züge herausgestellt,
die nach wie vor dominierend sind in ihren Auswirkungen auf die ökologische
und soziale Situation.
Wir müßten glücklich sein in
Schlaraffia
[22] Glück ist nicht meßbar. Man kann lediglich Anzeichen
dafür feststellen, daß «etwas nicht stimmt». Solcher
Anzeichen sind nicht wenige. Man kann sie als Fluchtbewegungen aus der Gegenwart,
auf dem Selbst deuten. Man kann sich auch so weit an sie gewöhnt haben,
daß man sie als selbstverständlich, ah normal empfindet. Die
Fragwürdigkeit dieser Sicht wächst allerdings mit der Häufung
und der Intensität dieser Anzeichen. (Für den Nachdenklichen, den
«Philosophen», ist, nebenbei gesagt, überhaupt nichts
selbstverständlich.)
[23] Wer könnte das noch übersehen? Flucht in die Vergangenheit
(«Nostalgie»). Flucht in Illusionen (deren Produktion ist eine
Wachstumsbranche). Flucht in die rastlose Bewegung. Flucht in den
Geschwindigkeitsrausch. Flucht in die Arbeitswut. Flucht in die Sucht nach
immer mehr und immer Neuem. Flucht in hochgejubelte Traumfiguren (die man
einem offenbar belanglosen Selbst überstülpen kann). Flucht in
Sensation und Nervenkitzel. Flucht in ohrenbetäubende Rhythmen. Flucht
in die Süchte im engeren Sinne von der Pillen bis zur Drogensucht.
Und schließlich: Flucht in die schleichende oder abrupte
Selbstzerstörung.
[24] Ist die beängstigende Ausbreitung der Drogensucht in unserer
Gegenwart am Ende nur die Eisbergspitze einer süchtigen Gesellschaft?
[25] Wir erfahren unsere Umwelt, wir nehmen sie in unsere Innenwelt hinein,
sie wird zu einem Teil unseres Selbst. Wo sie unserem innersten Wesen
widerspricht, wo wir sie bewußt oder unbewußt ablehnen,
wo sie uns ängstigt, entstehen spannungsgeladene Widersprüche zum
Selbst. «Unbehagen» ist das Mindeste, was wir dabei verspüren.
[26] Die einen versuchen, die Außenwelt in ihren
selbst widersprüchlichen Zügen zu verändern. Andere ziehen
sich in ein Schneckenhaus zurück. Wieder andere (offensichtlich eine
beträchtliche Zahl) weichen dem Konflikt aus in Fluchtbewegungen
hinein. Die Flucht führt nicht in die Lösung, sondern in die Sucht.
Der Süchtige glaubt die anhaltende Enttäuschung über die
Vergeblichkeit in einem Nochmehr einholen zu können.
[27] Zu unseren innersten Grundbedürfnissen gehört offenbar eine
Antwort auf die Frage: Wozu das alles? Das Gefühl der Sinnlosigkeit
gehört zu den schwersten Belastungen unserer Psyche. Sinnlos ist,
was letztlich im Nichts endet. Was ist ein Leben ohne Hoffnung? In einer
Außenwelt, die Hoffnungslosigkeit ausstrahlt, ist es schwer, den Lebensmut
zu bewahren. [67]
[28] Die Gemeinwesen wirken an der Gestaltung wesentlicher Bereiche unserer
Außenwelt mit. Sie sind mitverantwortlich für unsere Innenwelt.
Mitverantwortlich für die Möglichkeit von Hoffnung.
Wachstum der Unrast
[29] Dem Beobachter, der nicht alles Gegenwärtige für
selbstverständlich nimmt, fällt ein Wachstum der Unrast auf. Alles
muß immer noch schneller gehen, noch perfekter werden. Der Konkurrenzkampf
wird unerbittlicher, der Leistungsdruck wächst, die Informationsfluten
schwellen an, die Neuheiten der Anbieter jagen sich.
[30] Es ist, als ob wir allmählich zu einem Riesenschwarm
gefräßiger Eintagsfliegen würden, von Ängsten gejagt,
von Bedürfnis zu Bedürfnis gehetzt, konsumeuphorisiert auf
und abtanzend, ohne Sinn und Ziel, von Windmachern hin und hergetrieben.
[126, 148]
[31] Es ist, als ob wir daran gehindert werden sollten, zu uns selber
zu kommen. Das ist das exakte Gegenteil von Lebensqualität. Denn
Selbstverwirklichung beginnt damit, daß wir uns die Beschaffenheit
unseres Selbst bewußt machen.
[32] Gewiß ist nicht allein die von der Öffentlichkeit gestaltete
Außenwelt für unsere Selbstverwirklichungsmöglichkeiten
verantwortlich. Die hängen auch mit unseren Veranlagungen, mit unseren
persönlichen Lebensumständen und Schicksalen zusammen und
mit unserer Fantasie und Willensstärke, soweit sie das Gegebene zu unserem
Vorteil zu nutzen vermögen. Nichtsdestoweniger hat besonders eine von
Wohlstandsproblemen oder aber von Elend gekennzeichnete Außenwelt einen
prägenden Einfluß auf unser Denken und Fühlen.
[33] Es mag allerdings Dickhäuter geben, die Störendes nicht an
sich herankommen lassen. Zum Beispiel das Elend anderer. Wirkt das
Verdrängte in ihrem Halbbewußtsein weiter? Vielleicht sollten
sie sich auch überlegen, ob sie das Ausgesperrte nicht eines Tages einholen
könnte. Möglicherweise recht handfest.
Die «Dritte» Welt
[34] Unser Planet ist zur «Einen Welt» zusammen-gewachsen. Sie
wird mindestens wirtschaftlich - beherrscht von den hochentwickelten
Industriestaaten. Deren Vorstellungen über das Wesen, die Wege und
Ziele des Menschen sind weltweit maßgebend geworden.
[35] Es gibt auf unserem Planeten riesige Gebiete, die wir als unterentwickelt
betrachten und die wir zu uns emporentwickeln wollen (wir nennen sie herablassend
«Entwicklungsländer», «Dritte Welt»). Der Erfolg
ist weit herum ausgeblieben. Vielenorts weitet sich die Kluft zwischen
Arm und Reich immer noch aus.
Die wenigen, die es geschafft haben, sich uns anzunähern, sind auch
flugs zu gefährlichen Konkurrenten auf dem Anbietermarkt geworden.
[36] Die Prognosen für die Zurückbleibenden sind bei genauerem
Hinsehen schlecht. Diese Menschen haben nicht das Kapital und nicht das
technische Know-how, um auf dem Weltmarkt, in den sie einbezogen sind,
konkurrenzfähig zu sein. Manche sind durch ihre koloniale Vergangenheit
daran gehindert worden, sich in einem freien Austausch von Ideen und Gütern
weiterzuentwickeln. Wir haben einen gewaltigen Vorsprung, und mit unserem
Fortschrittstempo lassen wir die Armen immer weiter hinter uns zurück.
[37] Möglicherweise ist auch ihre Personstruktur zu wenig auf jene
Art Effizienz ausgerichtet, welche die Industrienationen an die Macht
gebracht haben: ein vordergründiges, auf Naturbeherrschung ausgerichtetes
Nützlichkeitsdenken, unermüdliche Arbeitskraft, hohes
Organisationstalent, rechtsstaatliches Denken. Eine Bewertung dieser
«Tugenden» muß zwiespältig ausfallen. Die Effizienz
der Industrienationen mit ihrem unersättlichen Streben nach mehr Wissen,
Besitz und Macht ist durch eine katastrophenträchtige
Rücksichtslosigkeit gegenüber den Armen, den gemeinsamen
Lebensgrundlagen und der Nachwelt gekennzeichnet.
[38] Die Armen wandern in Massen in die Schlaraffenländer aus.
Das ist keine Lösung, weder für die Armen noch für die
Einwanderungsländer. Die Unternehmungslust und die Ausbildung der Emigranten
fehlen in der «Dritten» Welt. In der «Ersten» Welt aber
verschärfen sich die ohnedies bestehenden sozialen und ökologischen
Probleme. Ganz abgesehen von den psychischen Folgen der Entwurzelung der
Auswanderer. (Leider nehmen wir auch die Möglichkeiten multikultureller
Bereicherung durch Drittwelteinwanderer kaum wahr, wir sind bis zur
Selbstprovinzialisierung auf die angelsächsische Welt fixiert.)
[39] Die Propaganda für unseren Lebensstil dringt bis in die letzte
Urwaldhütte - und muß dort erst recht ein Gefühl von
Inferiorität und Hoffnungslosigkeit ausbreiten. Was, wenn sich die Armen
einmal voll bewußt werden, daß sie auf dem Weg, den wir ihnen
vorleben, ewig die bedürftigen Verwandten in den elenden Hinterhöfen
der Industriezivilisation bleiben werden? Glauben wir im Ernst, wir könnten
unsere Luxuspaläste inmitten eines Meeres von Elendshütten immer
noch höher auftürmen? Sollten wir uns nicht eines Kriegsrufes der
Französischen Revolution erinnern: «Friede den Hütten, Krieg
den Palästen»? Wie dieser Krieg in unserer hochempfindlichen
Industriezivilisation aussehen könnte, wird uns schon bald täglich
irgendwo vordemonstriert. Unsere Superkriegstechnik wird dagegen machtlos
sein [134].
[40] Unsere Vorstellungen von der Entwicklung der «Dritten»
Welt sind noch aus einem anderen Grunde illusionär. Wenn alle
Erdenbewohner (gegenwärtig über 5,8 Milliarden) unseren Lebensstandard
übernähmen, könnte das unser Planet ressourcenwirtschaftlich
und ökologisch nicht einmal mehr kurzfristig verkraften. Ein friedliches
Zusammenleben wird daher davon abhängen, ob wir den Drittweltbewohnern
weiterhin den Eindruck vermitteln wollen, die Güter dieses Planeten
seien in erster Linie für uns bestimmt
[41] Wenn unsere Wirtschaft Weltwirtschaft sein will, ist sie auch dafür
verantwortlich, daß sich alle Menschen eine materielle Lebensausstattung
beschaffen können, die für ein menschenwürdiges Dasein
einigermaßen ausreicht. Die globalisierte Wachstumskonkurrenzwirtschaft
wird dieses Ziel nie erreichen. Und die bisher begangenen Wege der
«Entwicklungshilfe» haben vielenorts den Abstieg nicht aufzuhalten
vermocht. Wir werden uns neue Wege des Zusammenlebens in der Einen Welt
überlegen müssen.
Haben wir die Umweltschädigung im
Griff?
[42] Zur Klärung hier verwendeter Begriffe: «Umwelt»
ist eigentlich die gesamte Außenwelt um uns herum.
«Umweltschutz» meint jedoch nur die Bewahrung der Außenwelt,
soweit sie unsere natürlichen Lebensgrundlagen enthält. Dazu
gehören die natürlichen Ressourcen und die ökologischen
Zusammenhänge. «Umweltschädigung» ist die
Beeinträchtigung dieser Lebensgrundlagen. Sie kann bis zu ihrer
endgültigen Zerstörung gehen.
[43] Daß wir die Umweltschädigung im Griff hätten oder doch
in absehbarer Zeit in den Griff bekommen könnten, ist eine weitere Illusion,
der wir uns offenbar hingeben sonst hätten wir längst die
Konsequenzen ziehen müssen.
[44] Der neueste Bericht des World Watch Institute in Washington meldet
eine weiterhin steigende Umweltschädigung - trotz aller lobenswerten
Schutzbemühungen. Laut anderen amerikanischen Experten werden die
natürlichen Ressourcen der Erde schon bald nur noch ausreichen, um
Lebensqualität für maximal zwei Milliarden Menschen zu sichern.
Die Gründe dafür, daß sich die Folgen eines ständig
wachsenden Güterumsatzes nicht bewältigen lassen, liegen auf der
Hand:
[46] - Zahlreichen Schädigungsvorgängen kann man zum vornherein
nicht mit Folgenbekämpfungsmaßnahmen beikommen, sondern nur durch
Unterlassung: z.B. der Verarmung der Artenvielfalt, dem Leerplündern
nicht erneuerbarer Energiequellen, dem Ausfischen der Meere, dem Abholzen
der Tropenwälder, dem Auslaugen und der Verwüstung der Böden,
der Banalisierung der Landschaften .
[47] - Manche Symptombekämpfungsmaßnahmen, die Erfolge zu vermelden
haben, erfassen in Wirklichkeit nur einen Teil der
Schädigungsvorgänge. Durch verschmutzte Luft fallendes Regenwasser
und die Abläufe überdüngter Böden laufen nicht durch
Kläranlagen. Und unzählige FCKW und
C02 Ausstöße können nicht durch Luftfilter geleitet
werden.
[48] Die Entsorgungstechniken vermögen nur einen kleinen Teil der
ungeheuerlichen Mengen an gasförmigen, flüssigen und festen
Abfällen zu bewältigen.
Überdies bekommen sie wachsende Probleme mit der Entsorgung ihrer eigenen
«Produkte» (z.B. Klärschlamm, Sondermüll).
[49] Bei der raschen Weiterentwicklung von Produktionstechniken und
der bei der Produktion verwendeten Materialien (besonders Chemikalien) vergeht
in der Regel etliche Zeit, bis die Risiken erkannt werden (wenn es
überhaupt so weit kommt). Inzwischen hat sich jeweils ein
beträchtliches Schädigungspotential entfalten können
besonders nachdem das Erkennen der Risiken noch lange nicht deren
Bekämpfung zu bedeuten pflegt.
[50] Auch dem Recycling sind enge technische und wirtschaftliche
(Rentabilität!) Grenzen gesetzt. Recyclingmaßnahmen können
das Leerplündern der Rohstoffquellen nicht verhindern, sondern
in gewissen Bereichen lediglich hinauszögern.
[51] Sowohl Recycling als auch Symptombekämpfungsmaßnahmen
verbrauchen ihrerseits Energie, Ressourcen und Umwelt. Überdies werden
sie immer teurer, müssen aus Gewinnüberschüssen finanziert
werden, die wiederum nur durch wachsende Umsätze erzielt werden
können. Ein Teufelskreis.
[52] Unser Planet ist nun einmal weder ein unerschöpflicher
Rohstofflieferant noch ein Abfallkübel ohne Boden.
[53] Sollte der Mensch jenes - einzigartige - Lebewesen sein, das fieberhaft
an seiner Selbstzerstörung arbeitet? Das wäre dann die
spektakuläre Gen Mutation des «modernen» Menschen! Jene
amerikanischen Konstrukteure, die euphorisch prophezeien, daß der Mensch
in absehbarer Zeit restlos von seine Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit
weit übertreffenden Robotern werde verdrängt werden, bleiben in
dieser Linie und sind dann nur die närrische Spitze des Wahn Sinns.
Vielleicht werden ihnen andere Selbstmordprogramme zuvorkommen.
[54] Das Programm des immerwährenden quantitativen Wachstums ist die
dümmste und gefährlichste Utopie aller Zeiten. Dumm, weil es
elementarste Tatsachen mißachtet. Gefährlich, weil es nichts weniger
als die schleichende Selbstzerstörung der Menschheit programmiert.
Darüber kann auch ein eifrig inszenierter Umweltaktivismus nicht
hinwegtäuschen.
[55] Dessen ungeachtet gilt das immer währende quantitative Wachstum
(das «qualitative» hat sich in der Wirklichkeit längst als
Feigenblatt erwiesen) als nach wie vor unangefochtenes und
selbstverständliches Ziel von Wirtschaft und Politik. Bereits eine
geringe Wachstumsverlangsamung genügt, um die Fahnen auf Halbmast sinken
zu lassen. Es gibt sogar prominente Wirtschaftswissenschafter, die sich der
Folgen offensichtlich bewußt sind und trotzdem ungerührt das
Weiterhasten auf den herkömmlichen Wegen des totalen und universalen
Konkurrenzkampfes empfehlen.
Die Welt der selbsternannten «Realisten» ist zutiefst irrational
Man ist versucht, zu vermuten, es gehe hier um einen Ersatz für die
verlorene Unendlichkeit. [185]
Energie
[56] Technik und Wirtschaft beeilen sich, möglichst jede menschliche
Muskelregung durch Fremdenergieaufwand zu ersetzen. Vor dem Verkümmern
der Muskeln bewahrt uns ein Großangebot an sinnreichen
Fitneßmaschinerien, deren Energiepotential ins Leere läuft. Von
informierter Seite wird ein globales Energieverbrauchswachstum von 45% bis
zum Jahr 2010 prognostiziert, was eine Steigerung des CO, Ausstoßes
um 48% bedeuten würde.
[57] Ein Westeuropäer verbraucht durchschnittlich fünfmal (ein
Mensch in den USA zehnmal) mehr Energie als ein Drittweltbewohner. Wollten
alle Staaten pro Kopf gleich viel Energie beanspruchen wie die Schweiz heute,
hätte das auf einen Schlag eine Verdreifachung des globalen Energiebedarfs
zur Folge.
[58] Daß die Grenzwerte für die wichtigsten Luftschadstoffe laufend
überschritten werden, nehmen wir kaum mehr zur Kenntnis. Wir hören
auch nicht hin, wenn zuständige Stellen warnen, daß man auf
Stadtgebiet gezogene Früchte und Gemüse nicht essen soll, daß
das Ausüben anstrengender Sportarten bei gewissen Wetterlagen nicht
ratsam sei, daß man unbedeckte Haut nicht lange der Sonne aussetzen
solle, daß in gewissen Weltgegenden der Hautkrebs in alarmierendem
Ausmaß zunehme. Wir scheinen, wohlstandsverblendet, nicht einmal mehr
zu realisieren, welche Ungeheuerlichkeiten da vor sich gehen.
[59] Läßt sich ein intaktes Gefühl von Lebensqualität
nur noch durch Verdrängungen aufrecht erhalten?
Das Auto
[60] Das Auto wäre eine wunderbare Erfindung gewesen. Alles ist eine
Frage des Maßes.
[61] Das Explosionsmotorfahrzeug gehört heute zu den größten
Luftverschmutzern, Energie und Rohstoffverschwendern,
Lärmverursachern und Landschaftszerstörern. Die Zahl der
alljährlichen Verkehrsopfer (Tote und Schwerverletzte) erinnert an einen
mittleren Bürgerkrieg.
[62] In der Schweiz sind rund vier Millionen Motorfahrzeuge im Verkehr;
jährlich werden Wachstumsraten gemeldet (1994: 265'892 neue Personenwagen).
Zukunftsprognosen rechnen weltweit mit mehr als einer Vervierfachung des
jetzigen Personenwagenbestandes - von 500 Millionen auf 2,3 Milliarden bis
zum Jahr 2030. Dann zumal werde der Autoverkehr rund 60 Milliarden Tonnen
Erdöl verbrauchen fast die Hälfte der derzeit bekannten Reserven.
[63] In der Schweiz muß die Öffentlichkeit für rund 1,7
Milliarden externer Kosten des Straßenverkehrs aufkommen; beim
Schienenverkehr sind es nur 121 Millionen.
[64] Den «freien Wettbewerb zwischen Schiene und Strasse» hat
die Schiene von allem Anfang an verloren. Selbst bei einer - in weiter
Ferne liegenden - Internalisierung externer Kosten wird er nicht zu einer
angemessenen Eindämmung des Motorfahrzeugverkehrs führen, solange
die Fortbewegung auf der Strasse irrationale Hintergründe hat. Das
Motorfahrzeug ist sowohl Fluchtvehikel als auch grenzenlose
Individualmobilität, ist Distanz von der «Masse», ist Prestige
und Power, ist persönlicher Sieg über Raum und Zeit.
Der Sieg - Sinn des Lebens?
[65] Im «freien Spiel der Kräfte» ist der Umgang mit dem Gegner
«knallhart, schonungslos, gnadenlos». «Zuschlagen» findet
sogar auf Schriftsteller Anwendung, die ein neues Buch geschrieben haben.
Die Sprache des Krieges. Siegesmeldungen von Sportwettkämpfen
füllen neben Kriegsmeldungen bereits die Frontseiten der
Tageszeitungen. Das «Guinness Buch der Rekorde» erhält
täglich Zuwachs. Es gibt kaum mehr eine menschliche Tätigkeit,
mit der nicht Siege gefeiert werden wollen.
[66] Sollte der Sinn des Lebens im Siegen bestehen?
[67] Sinnlosigkeit heißt: ins Leere, ins Nichts gehend
[27, 73, 113].
[68] «Sinn» ist also irgendwie zukunftsgerichtet eine Zukunft,
die der Gegenwart Bedeutung verleiht. «Sinn» ist aber nicht mit
«Ziel» identisch. Es gibt sinnlose Zielsetzungen. Sinnvoll werden
sie erst, wenn sie von einem großen Zusammenhang her ihre Rechtfertigung
erfahren. Das ist es wohl, was wir im Kopf haben, wenn wir von «Sinn»
reden.
[69] C.G. Jung sah den Sinn des Lebens in der Verwirklichung des Selbst.
Also wieder die Frage: Was macht das «Selbst» aus?
[70] Dieses ist eine politische Schrift. Von Veranlagungen,
vom Unbewußten, von Archetypen, von prägenden persönlichen
Lebensumständen kann hier nicht die Rede sein. Es geht um die
Einflüsse der durch Politik gestalteten Außenwelt. Und
es geht um das für die Politik maßgebende Menschenbild: Was ist
der Mensch überhaupt, als Gattung [5]? Dann erst kommt
die Frage: Wer bin ich, ich ganz persönlich?
[71] Die Formung des Menschenbildes beginnt mit der Frage: Welche Stellung
hat der Mensch im Ganzen seiner Erfahrungswelt? Wie erfährt er sich
in alledem, was er um sich herum wahrnimmt?
[72] Diese Auseinandersetzung mit der Außenwelt kann zu zwei
gegensätzlichen Welterklärungsmodellen, Weltbildern, Menschenbildern
führen. Werden sie folgerichtig gelebt, münden sie in
verschiedengerichtete Verhaltensweisen aus.
[73] Die beiden Weltbilder sind jedoch nicht unbedingt geeignet,
Individuen «einzuteilen». Deren Denk- und Verhaltensweisen sind
oft nicht folgerichtig und demgemäß schwer durchschaubar.
Philosophische und politische Systeme hingegen pflegen ihre Position deutlicher
zu enthüllen: sie erheben den Anspruch, folgerichtig durchgedacht zu
sein. Auch das Kollektiv-Selbst konkreter Gesellschaften [5,
67] zeigt oft mehr oder weniger deutliche Spuren des einen
oder anderen Weltbildes. Nichtsdestoweniger kann man auch Individuen beobachten,
an denen das Wirken eines Weltbildes besonders auffällt.
Das eine Welterklärungsmodell
[74] Es ist von der Erfahrung des großen Chaos in der Außenwelt
geprägt. Wo man hinschaut: Fressen und Gefressenwerden, Ungerechtigkeit,
Heimtücke, Gewalt. Das Ganze bleibt jede Erklärung schuldig. Was
kann man anderes von einer durch Zufall entstandenen Welt erwarten? Der
Mensch muß sich darin als ein ins Dasein geworfener fühlen. Wenn
er seinem Leben eine Richtung geben will, muß er dessen Sinn selber
kreieren. Die Selbstverwirklichung kommt dann gewissermaßen einer
Selbsterschaffung gleich. Friedrich Dürrenmatt hat es so gesagt:
«Das Sein braucht ja gar keinen Sinn zu haben. Der Mensch macht sich
seinen Sinn selber. »
[75] Das ist das große Wort, das uns frei macht. Frei von allen
Einbindungen in irgendeinen «Sinn», den uns das Ganze zuwiese.
Frei zu einer Selbstverwirklichung ohne Rücksichtnahmen auch
ohne Rücksichtnahmen gegenüber den Nebenmenschen. Denn wo in einer
sinnlosen Welt wäre das Gesetz zu beheimaten, das uns alle zu einem
Miteinander in die Pflicht nähme? Die Lebenswege laufen beziehungslos
neben einander her. Wo sie sich aber in die Quere kommen, gilt das
«Recht» des Stärkeren in einem Kampf aller gegen alle.
[76] Die Welt ist der Steinbruch, aus dem sich das Individuum das
Baumaterial für seine Selbstverwirklichung holt. Erschließung,
Nutzbarmachung, Ausbeutung so lauten die Stichworte, anwendbar auch
gegenüber den anderen, den «Schwächeren» zumal.
[77] Bei Gelegenheit mag es ratsam sein, den Konflikt mit anderen Starken
durch Vertrag beizulegen. Solcher Friede kann aber nur brüchig sein,
denn wo wäre ein Grundsatz zu verankern, daß Verträge
zu halten seien?
[78] Die Wissenschaft ist Hilfsmittel zur Eroberung und Nutzbarmachung der
Welt. Die Rationalität, mit der sie die Welt erklärt und ergreift,
ist der allein zulässige Erkenntnisweg. Was sie nicht zu klären
vermag, existiert nicht. (Dem ist beispielsweise Gott zum Opfer gefallen.
Oder alltäglicher: vermutete, aber «nicht nachgewiesene»
Technisierungsfolgen sind unbeachtlich.)
[79] Dieses Weltbild hat eine Veranlagung zum Totalitären. Wenn
das Ich absolut ist, sind ihm alle und alles total verfallen. Man braucht
sich nur die entsprechende Machtfülle zu erringen. Da gibt es keine
«Eigenrechte» der Nebenmenschen und schon gar nicht der
Dinge.
[80] Da ist allerdings noch der Tod: Die Selbsterschaffung aus dem Nichts
zerplatzt ins Nichts zurück wie eine Seifenblase. Das hält nicht
jeder aus. Schlußendliche Sinnlosigkeit wirkt bis in den Alltag
zurück. Der Mensch scheint ein Bedürfnis nach Un- Endlichkeit
zu haben. Wenn mancher Starke die Selbstverwirklichung zu denkmalträchtigen
Türmen babylonischen Ausmaßes emportreibt: steht da wohl nicht
die Verzweiflung über die Ungeheuerlichkeit des Todes dahinter? Eine
andere Form der Verzweiflung ist die vorzeitige Vorwegnahme des Nichts durch
schleichende oder abrupte Selbstzerstörung - wobei der
Zerstörungstrieb auch wahllos auf andere Menschen und Dinge ausgreifen
kann.
[81] Dieses Weltbild ist dasjenige einer zu Ende gedachten Autonomie des
Menschen. Es könnte das «autozentrische» genannt werden.
Das andere Weltbild
[82] Die Chaoserfahrung ist nicht wegzuleugnen. Die Wirklichkeit
stößt uns aber auch auf die Beobachtung, daß das Leben
aus einem erstaunlichen, ja geradezu wunderbaren Zusammenklingen unendlich
vielfältiger Naturvorgänge besteht. Und daß der Mensch
sein Leben und Überleben nicht nur diesen Naturvorgängen verdankt,
sondern auch mannigfaltigen zwischenmenschlichen Beziehungen
von der Familie bis zur Völkergemeinschaft. Sie alle entstehen und bestehen
nicht aus der Zwietracht, aus dem Kampf aller gegen alle, sondern aus einer
trotz aller Konflikte stets wiederhergestellten Eintracht. Des weiteren gibt
es nicht nur Hass, Häßlichkeit und Tod, es gibt auch Mitgefühl,
Gemeinsinn, Schönheit und Wiedergeburt.
[83] Dies ist die Erfahrung, an die sich das andere Weltbild hält.
(Daß die Chaoserfahrung die endgültige sei, ist «nicht
nachgewiesen».) Die Welt wird durch unendlich vielfältige
Vernetzungen zu einem Ganzen. Die Ganzheit zeigt sich schon darin, daß
punktuelles Zerreißen der Netze weltweite Auswirkungen haben kann.
Das läßt beinahe eine Art Weltintelligenz vermuten. Auch sie ist
natürlich nicht nachgewiesen, aber die Glaubwürdigkeit der
Zufallsentstehung ist mit dem Fortschreiten der Entdeckungen im Abnehmen
begriffen.
[84] Dieser Gedankengang findet eine Entsprechung in althergebrachten Weisheiten,
wonach Kosmos und Welt und Mensch in ein großes Ordnungsgefüge
eingebettet sind, das alle mit allen und alles mit allem zu einer Einheit
vereint und dadurch miteinander in Beziehung setzt. Die Welt ist
demgemäß als Sinn-Ganzes zu vermuten, das auch auf den Daseinssinn
der Individualitäten ausstrahlt. Wenn sich der Mensch seinen Sinn selber
erschaffen wollte, müßte er sich fragen lassen, wie er dazu komme,
nachdem er zumindest seine Körperlichkeit nicht selber geschaffen hat.
Ebensowenig wie die Umwelt, in die er hineingeboren wird, und die ihm deshalb
nicht mit Haut und Haar zur Verfügung stehen kann.
[85] Allerdings können wir ohne Eingriffe in die Natur nicht
existieren. Unser Existenzinteresse macht es aber keineswegs notwendig,
daß wir in einem gigantomanen Selbstverwirklichungsrausch natürliche
Lebensgrundlagen zerstören zunächst vermeintlich die der
anderen, in Wirklichkeit aber auch unsere eigenen.
[86] Alles ist eine Frage des Maßes. Das Maß liegt im
Ganzen beschlossen. «Maßvoll» ist ein Verhalten, das sich
in das vernetzte Ganze einzuordnen versucht. Das autozentrische Weltbild
ist auf Maßlosigkeit hin angelegt: weil es kein Ganzes, kein Gemeinsames
gibt, in das man sich einzuordnen hätte.
[87] Die Bewahrung des Maßes verlangt Behutsamkeit. Das
Wort besagt es schon: Es geht darum, die Lebensgrundlagen zu bewahren. In
diesem Postulat liegt auch eine Art «Eigenrecht» der Natur beschlossen.
Wo wir die Zusammenhänge nicht durchschauen, ist es erst recht nicht
angängig, sich als bedenkenloser Ausbeuter der Natur zu
gebärden.
[88] Was nun die unvermeidbaren Konflikte zwischen den individuellen
Selbstverwirklichungsbestrebungen anlangt, kann das Lösungsmodell nicht
im «Recht des Stärkeren» bestehen. Die
Kofliktslösungsnorm ist die Gerechtigkeit. Sie setzt den Willen
voraus, auch den anderen zuzugestehen, was sie zu ihrer Selbstverwirklichung
benötigen. Ihre Eigenexistenz, die sie schließlich nicht mir zu
verdanken haben, ist zugleich ihr Eigenrecht.
[89] Das in der Natur zu beobachtende Fressen und Gefressenwerden kann
nicht Modell menschlichen Verhaltens sein. Daraus, daß es
partiell ein tierisches ist, läßt sich für den Menschen
nichts ableiten. Im zwischenmenschlichen Verhältnis hat dieses
«Gesetz» je und je zu ungeheuren Fluten von Ungerechtigkeit, Hass
und Gewalttätigkeit geführt. Gerade damit wird ein wesentlicher
Teil jenes Chaos verursacht, welches das autozentrische Weltbild zu seiner
Rechtfertigung anführt Im übrigen meint Darwin's «survival
of the fittest» nicht das Überleben der Stärksten, sondern
der am besten Angepaßten.
[90] Keine maßvolle Selbstverwirklichung ist darauf
angewiesen, andere «aufzufressen». (Das könnte sich ändern,
wenn wir die Zerstörung der Lebensgrundlagen so weit treiben lassen,
daß ein Überlebenskampf aller gegen alle ausbricht!)
[135]
[91] Nennen wir das zweite Weltbild das «holozentrische». Das Zentrum
ist nicht das Selbst, sondern das Ganze. Und vom Ganzen her hat das Selbst
sein Eigenrecht.
Das holozentrische Weltbild ist das der Religionen
[92] In ihrer Bildersprache bringen sie zum Ausdruck, daß der Kosmos
auf einen Schöpfungsakt zurückgehe, daß das erschaffende
Wesen eine Art Schöpfungsordnung grundgelegt habe, daß diese
Schöpfungsordnung Verhaltensanleitungen enthalte, daß menschliches
Tun und Lassen nicht ins Nichts auslaufe, sondern jenseits von Raum und Zeit
- in der Transzendenz - eine letzte Erfüllung finde.
[93] Keines der historiographisch erforschten Völker ist ohne Religion
ausgekommen. Man hat das als illusionären Versuch erklärt,
das menschliche Bedürfnis nach Überwindung von Raum und Zeit, nach
Überwindung des Todes, nach Vollkommenheit, nach Unendlichkeit zu
befriedigen. Die Frage ist da nur, wie diese Bedürfnisse in den
«nackten Affen» hineingekommen sein sollen. «Jeder endliche
Geist glaubt entweder an Gott oder an einen Götzen» (Max Scheler).
Die Mystiker der Religionen sprechen von einem «göttlichen
Funken» im Menschen. Und der Psychotherapeut C.G. Jung berichtet, daß
sich dieser Funken im Innersten seiner Patienten vorgefunden habe; seine
Unterdrückung habe sich als krankmachend erwiesen.
[94] Auch Mythen und Religionen vermögen indessen den Sinn des Ganzen
nicht zu enträtseln, so sehr sie sich darum bemühen. Könnte
der Mensch hier Klarheit gewinnen, wäre er dem erschaffenden Wesen gleich.
Das Sinn-Ganze ist letztlich Geheimnis. Die «ganze Wahrheit»
gibt es nicht für den Menschen. Es gibt nur Annäherungsversuche.
Die ganze Wahrheit ist transzendent. Das muß den Menschen davor bewahren,
sie für sich in Anspruch zu nehmen. Genauso wie ihn das Sinn-Ganze davon
abhalten muß, seine Umwelt als ihm voll verfügbar zu betrachten.
Das holozentrische Weltbild ist in seinem Wesen
antitotalitär.
[95] Der Mensch ist das Wesen, das stets unterwegs ist und innerhalb von
Raum und Zeit nie ankommt. Er ist in seiner Wesenheit transzendent.
[96] Wenn der Sinn des Ganzen letztlich Geheimnis ist: kann es dann noch
Verhaltensmaximen hergeben? Im Bereich der jüdisch christlichen
Weltanschauung hat der Schöpfergott die Sinngebung soweit enthüllt,
als er die Ehrfurcht vor seiner Wesenheit an den Anfang eines Verhaltenscodexes
gestellt hat, der infolge seiner Herkunft nur der dem Sinnganzen entsprechende
sein kann. Sein Gesandter sodann, Jesus von Nazareth, hat das zweite Gebot
ausdrücklich dem ersten, die Nächstenliebe der Gottesliebe
gleichgesetzt (Mt. 22, 36 40). Mit dieser Identifikation offenbart sich
die Liebe als Weltgrundgesetz, als Sinn der Welt, soweit uns seine
Erkenntnis gegeben ist.
[97] Das zweite Gebot erweist sich als die Grundlage der Ethik des
holozentrischen Weltbildes. Die Volksweisheit hat eine Kurzformel geprägt:
[100]«Was du nicht willst, das man dir tu', das
füg' auch keinem andern zu». Das entspricht durchaus einer auf
Selbsterhaltung bedachten Vernunft.
[98] Das zweite Gebot führt jedoch darüber hinaus wenn auch zum
Wort «Nächstenliebe» einiges anzumerken ist:
[99] - Das Ich, das Individuum, wird keineswegs aufgehoben. Aber es wird
dem «Nächsten» gleichgesetzt: Liebe Deinen Nächsten wie
Dich selbst. Das Zusammenleben unter dem Grundgesetz der
«Nächstenliebe» ist eine heikle Gratwanderung zwischen der
Durchsetzung eigener und der Anerkennung fremder Interessen - von Fall zu
Fall, immer unter Abwägung der jeweils konkurrierenden Werte. Das
Du wird in das Ich hereingenommen, wird zum Bestandteil des Selbst.
[100] - «Liebe» kann in diesem Zusammenhang nicht als spontan
aufsteigendes Gefühl gemeint sein. Das könnte ja nicht Gegenstand
eines Gebotes sein. Gemeint ist zunächst, daß wir den anderen
voll als einen Mitmenschen gelten lassen sollen. Das kann sich auch abringen,
wer dazu nicht besonders disponiert ist. Den anderen gelten lassen heißt
allerdings bereits: sich ihm zu-neigen. Es ist ein Gefühl von Verbundenheit,
das eine «emotionale» Komponente enthält. Sie muß
zur Hilfsbereitschaft führen, wo Hilfe Not tut. Das ist es, was
über die «Kurzformel» [97] hinausgeht. Im
übrigen ist dieselbe für den Starken nur so lange vernünftig,
als er nicht befürchten muß, einmal zu den Schwachen zu gehören
und auf Rücksichtnahme angewiesen zu sein. Und um das zu verhindern,
muß er rücksichtslos danach trachten, stark zu bleiben ...
[132]
[101] - Der «Nächste» ist jener, dessen Lebensweg sich mit
dem meinen kreuzt. Das sind in einer global vernetzten Welt auch geographisch
weit entfernt Lebende. Zum Beispiel notleidende Drittweltbewohner.
[102] - Der «Nächste» schließt auch die Nachgeborenen
ein. Das Sinnganze weitet den Menschen als physische Einheit zur Menschheit
überhaupt aus.
[103] - Unsere Gegenwart läßt deutlicher denn je erkennen, daß
unsere Zuneigung auch unseren natürlichen Lebensgrundlagen gelten muß.
«Liebe zur Schöpfung» heißt das in einer
religiösen Sprache. Darin ist auch der Gedanke beschlossen, daß
wir kein letztendliches Verfügungsrecht haben können über
die Seinsformen, die wir nicht geschaffen haben.
[104] Das Wort «Selbstverwirklichung» hat einen selbstischen
Klang, der in unserer Gegenwart indessen durchaus positiv bewertet wird.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, soll im holozentrischen Kontext
fortan von «Selbstwerdung» die Rede sein. Oder von
«Selbstentfaltung».
[105] Des weiteren ist jetzt deutlich geworden, daß das holozentrische
Weltbild auch das «solidarische» genannt werden könnte.
[106] Selbst Religionen unterliegen der Gefahr, in ein autozentrisches Denken
abzugleiten. Dann nämlich, wenn sie behaupten, die «ganze
Wahrheit» über Gott und die Welt zu kennen. Andersdenkende sind
dann Unwissende, Ungläubige, Nichtgleichberechtigte, Häretiker,
Feinde. Die Folgen sind bekannt.
[107] Die einzig legitime Beziehung unter den Religionen ist die des
Gespräches.
«Gott» hat keine von ihnen gepachtet; er ist eine Chiffre für
den oder die oder das große Unbekannte, dem sich die Religionen
anzunähern versuchen.
Auch die Wahrheit von Offenbarungen überzeugt jene, die sie nicht selber
geschaut haben, nur dann, wenn sie offenbar ist. Fruchtbar ist nur der
Gedankenaustausch mit anderen über das unterwegs Gefundene. Nur mit
dieser gegenseitigen Ermunterung und Befruchtung kann die Erleuchtung immer
ganzheitlicher werden.
Die Wahl des Weltbildes
[108] Ein durchdachtes Weltbild als Grundlage der persönlichen
Lebensführung ist wohl nicht die Regel. Zwischen egozentrischen
und altruistischen Gefühlsaufwallungen ohne große Reflexion hin
und her zu schwanken, dürfte weit verbreitet sein. Unsere Zeit verlangt
aber, daß wir uns der Mühe unterziehen, uns die Folgen unseres
Verhaltens bis in den Alltag hinein bewußt zu machen. Das wäre
dann, was man «Verantwortung» nennt.
[109] Wir brauchen nicht in eine verkrampfte Gebots- und Verbotsmentalität
zu verfallen. Wer sich ein solidarisches Weltbild wirklich zu eigen macht,
läßt es mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und
Gelassenheit in sein Tun und Lassen einfließen. Wobei die Gelassenheit
letztlich aus dem Bewußtsein kommt, daß wir, auf uns selber gestellt,
nie eine völlig heile Welt zustandebringen werden, sondern nur eine
mehr oder weniger große Annäherung.
[110] Die bewußte Wahl des Weltbildes beruht nicht auf
Beweisführungen. Sie ist ein Glaubens-Entscheid. In einem
Glaubensentscheid verdichtet sich persönliche Welterfahrung zu einer
Überzeugung, die bis in den Alltag hinein zum Lebensentwurf wird.
[111] Das solidarische Weltbild ist nicht religions-gebunden. Es gibt
«Atheisten», die ihm nachleben. Es gibt ein spontanes, unreflektiertes
Lebensgefühl der Verbundenheit und der Verantwortung.
[112] Es gibt sogar eine überraschend einfache Testfrage: In was
für einer Gesellschaft möchte ich leben? In einer vom
autozentrischen oder vom solidarischen Weltbild geprägten? Wobei die
zweite Option allerdings eine höchstpersönliche Verpflichtung zur
Solidarität mit sich bringt. Die «Wahrheit» ist hier nicht
eine naturwissenschaftliche, sondern eine ethische, obwohl durchaus auch
«experimentell» erhärtete.
Verfaßtheit und Verfassung
[113] Das Kollektiv-Selbst hat einen erheblichen Einfluß auf unser
Verhalten. Es ist nicht gleichgültig, welches Weltbild darin
[5, 67] dominiert.
[114] Was in den Industrienationen öffentlich gemeint und getan wird,
d.h. was ihr Kollektiv-Selbst bildet, sieht in wesentlichen Bereichen auffallend
nach einem autozentrischen Weltbild aus.
[115] Wir sind in eine Diskussion über die Revision der Bundesverfassung
eingetreten. Die «Verfassung» einer Gesellschaft besteht aber nicht
nur in einem Dokument, das die Grundrechte und die Organisation des Staates
festlegt. Wir sollten die Diskussion auf die Frage der Verfaßtheit
unserer Gesellschaft ausdehnen. Die Zeit ist reif dafür. Die Fragen
und Fragwürdigkeiten, die weit über die gegenwärtig geltende
Bundesverfassung hinausgehen, sind von existenzieller Aufdringlichkeit.
[116] Nur eine Auslegeordnung über die Verfaßtheit unserer
Gesellschaft ermöglicht eine Antwort auf die Frage, was eigentlich in
einer revidierten Verfassung festgeschrieben werden soll. Anders bleibt die
Revision eine verlegene Kosmetik, die fundamentale Meinungsverschiedenheiten
übertüncht. Eine Verfassungsdiskussion muß einen Grundkonsens
darüber erarbeiten, welche Werte die Gesellschaft verwirklichen will
und in welchem Verhältnis diese Werte zueinander im Grundsatz stehen
sollen. Anders ist die Richtung, die unser Gemeinwesen in Zukunft einschlagen
soll, nichts weiter als eine Machtfrage.
Menschenrechte
[117] Wenn sich die Selbstwerdung auf ein Gelingen hin bewegen soll, verlangt
sie nach gewissen günstigen Rahmenbedingungen in der Außenwelt.
Wo sich diese Rahmenbedingungen zu Rechtsansprüchen verdichten, reden
wir von «Menschenrechten».
[118] Wir sind es von der autoritätskritischen Aufklärung her gewohnt,
die Menschenrechte nur als Ansprüche gegenüber dem Gemeinwesen
zu begreifen. Die entsprechenden Pflichten lägen dann nur auf seiten
des Staates. Wir sollten uns aber bewußt machen, daß ein jeder
von uns bis in den Alltag hinein zu jenen günstigen Rahmenbedingungen
seinen Beitrag leisten muß. Es gibt keine Menschenrechte ohne
Menschenpflichten sowohl gegenüber dem Mitmenschen als auch
gegenüber dem Gemeinwesen! [131]
[119] Es soll hier nur von jenen günstigen Rahmenbedingungen die Rede
sein, auf die das Gemeinwesen Einfluß nehmen kann und die somit als
eigentliche Menschenrechte ausgestaltet werden können.
[120] Der herkömmliche Katalog ist für die Gegenwart zu eng
gefaßt. Er stammt aus einer Zeit, da man auf den Kampf gegen
autoritäre Staatswesen fixiert war.
[121] Die «günstigen Rahmenbedingungen» bestehen darin, daß
die politisch wirtschaftlichen Strukturen die lebenswichtigen Werte
nicht behindern, sondern fördern. Als solche Werte müssen gelten:
Materielle Lebensgrundlagen
[122] Dazu gehören Nahrung, Schutz vor Witterung, körperliche
Integrität, Gebrauchsgüter. Das zivilisatorische Niveau dieser
Werte richtet sich nach der unmittelbaren Umwelt des Individuums. Man wird
kaum sagen können, daß ein Buschmann in seinem Hier und Jetzt
ein Menschenrecht auf ein Badezimmer habe. (Was das Ausmaß des
Rechtsanspruches auf materielle Lebensausstattung in unserm Land anlangt,
findet man im Notbedarf und in den Kompetenzstücken des
Schuldbetreibungs- und Konkursrechtes eine aufschlußreiche
Ausformulierung.) [140]
[123] Unter den Titel «Nahrung, körperliche Integrität»
fällt auch der Anspruch auf gesunde Nahrung, auf reine Luft, auf eine
ausreichende Versorgung mit sauberem Wasser. Hierher gehört des weiteren,
daß wir nicht ungenügend erforschten Risiken ausgesetzt werden,
die auf eine erhebliche Schädigung der körperlichen Integrität
von uns und unseren Nachkommen hinauslaufen könnten.
[124) In weiten Bereichen der Dritten Welt erreicht die materielle
Lebensausstattung nicht einmal ein existenzerhaltendes Minimalmaß.
Wir werden uns im Sinne unserer Menschenpflichten überlegen müssen,
wie weit wir, dafür mitverantwortlich sind. Und wie wir Hilfe leisten
können, ohne daß die Armen in neue Abhängigkeiten hineingeraten
und ihre kulturelle Identität noch vollends verlieren.
Arbeit
[125] Das Mitgestalten der Umwelt ist ein wesentliches Anliegen der
Selbstwerdung. Für Millionen reduziert sich die
Mitgestaltungsmöglichkeit in der Arbeitswelt auf die Funktion einer
Maschinenbedienungsmaschine. Damit werden schöpferische
Fähigkeiten brachgelegt. Frustrationsgefühle und Aggressionen liegen
nahe.
[126] Wir werden den Stand der Produktionstechnik nicht zurückschrauben
können. Aber wir werden die wachsenden zeitlichen Freiräume so
zu gestalten haben, daß sie nicht einfach durch eine Ausweitung der
Konsum-Vollbeschäftigungsprogramme [30,31]
ausgefüllt werden, sondern vielfältige Anreize zur Entfaltung kreativer
Fähigkeiten bieten.
[127] Die Arbeitsgelegenheiten müssen den Erwerb einer angemessenen
Lebensausstattung ermöglichen [180]. Arbeitslosengelder
können nur eine Überbrückungsfunktion haben; eine
menschenwürdige Dauerlösung sind sie auf keinen Fall. Das Gefühl,
nicht gebraucht zu werden, gesellschaftlich «unnütz», ausgegrenzt
zu sein, ist niederschmetternd, bedeutet einen empfindlichen Verlust von
Geborgenheit [144].
[128] Die Zeit, da Arbeitsplätze durch ein Wachstum von Produktion
und Konsum geschaffen werden dürfen, ist in den Industriegesellschaften
allerdings vorbei. Vorschläge, wie man es anders machen könnte,
gibt es genug. Wirtschaft und Politik müßten sie nur endlich zur
Kenntnis nehmen.
[129] Statt ältere Menschen immer noch früher auszugrenzen und
zu bloßen Konsumenten zu machen (wofür die Wirtschaft auf die
Dauer die nötigen Mittel gar nicht wird aufbringen können), sind
Strukturen zu schaffen, in denen sie sich solange als möglich als
«nützliche Glieder der Gesellschaft» fühlen können.
Es ist schon deprimierend genug, wenn die explodierende Dynamik des
«Fortschritts» jahrzehntelange Berufs- und Lebenserfahrung cool
zum Alteisen wirft.
Freiheit
[130] ist der grundlegende Instrumentalwert der Selbstwerdung. Ohne
persönliche Entfaltungsräume ist eine Selbstwerdung nicht
möglich.
[131] Freiheit als Menschenrecht kann es nur geben, wenn ein jeder die
Freiheit der anderen respektiert und sich für sie verantwortlich
fühlt [118].Im autozentrischen Weltbild ist Freiheit
als allen Menschen zukommendes Recht nicht begründbar. Freiheit kann
dort nur das «Recht» des Stärkeren sein. Mindestens aber ein
Ausleben dessen, was man als sein Selbst betrachtet, ohne Grenzen und ohne
Rücksichten. (Ist die jüngste Reklamebeliebtheit des Wortes
«grenzenlos» Zufall?).
[132] «Ohne Liebe [100] wird aus Freiheit Chaos»
(Max Thürkauf).
Sicherheit
[133] Allgegenwärtige Kriminalität erweckt Gefühle des
Ausgesetztseins. Die Einbruchs und Raubkriminalität der Gegenwart,
die uns immer dichter auf den Leib rückt, hat ihre Gründe zu einem
guten Teil im Beschaffungsbedarf der Süchtigen und im enormen Gefälle
zwischen Reich und Arm: Arme betrachten die Schlaraffenländer als
Selbstbedienungsläden. Symptombekämpfung mit Sicherungsmechanismen,
Versicherungen und Polizei ist notwendig, aber längst nicht ausreichend.
Wir müssen die Ursachen angehen.
[134] Auch das Gefälle zwischen Arm und Reich. Dessen Verringerung
ist geradezu ein Gebot der Selbsterhaltung. Statt dessen versuchen wir, uns
gegen die von dorther drohende Revolutionsgefahr mit Mauern aus Bündnissen
und Superwaffen abzusichern. Dabei ist die Waffe der Ohnmächtigen der
Terror, gegen den unsere hochempfindliche Industriezivilisation letztlich
machtlos ist. Die Anfänge zeichnen sich ab [39].
[135] Längerfristig liegt ein gewaltiges Sicherheitsrisiko auch in der
fortschreitenden Ausplünderung der Ressourcen. Am Ende werden sie
in einem Kampf aller gegen alle nur noch für die Stärksten
verfügbar sein [90, 193].
Eigentum
[136] verschafft den ungestörten Gebrauch von Dingen, die zur materiellen
Lebensausstattung gehören. Auch im Recht auf die Früchte der Arbeit
liegt eine Rechtfertigung der Eigentumsgarantie.
[137] Eigentum als totale Verfügungsmacht aber ist ein autozentrisches
Konzept. Es berücksichtigt nicht einmal die Tatsache, daß
die Aneignung meist auch materielle Weile der Öffentlichkeit beansprucht,
für die keine oder eine ungenügende Gegenleistung erbracht wird.
Darüber hinaus enthält die Aneignung immer auch unverdiente Faktoren:
günstige Veranlagung, freundliches Geschick (von ausbeuterischer oder
gar illegaler Aneignung soll hier erst gar nicht die Rede sein).
[138] Eine gewisse Umverteilung an weniger Begünstigte ist nicht nur
ein Gebot der Solidarität, sondern erst einmal eines der Gerechtigkeit.
Daß damit nur die «Faulheit» begünstigt werde, ist in
ihrer Verallgemeinerung eine faule Ausrede.
[139] Das Experiment einer totalen Nivellierung der materiellen
Lebensausstattung vom Gleichheitspostulat her ist allerdings gescheitert
und hat Millionen von Todesopfern gekostet. Das gehört nun einmal zur
ganzheitlichen Realität.
[140] Auch beinhalten Menschenrechte nicht immer und überall dieselben
Ansprüche, weil die Gestalt des Selbst raumzeitlich bedingte Variationen
aufweist [122].
[141] Auch Eigentumsrechte unterliegen einer Güterabwägung.
So gibt es kein unabdingbares Recht auf Grundeigentum, wo daraus eine
unlösbare Kollision mit lebenswichtigen Anliegen des Gemeinwohls
entstünde.
Geborgenheit
[142] meint das Gefühl, in einem Gefüge gehalten zu sein, mit dem
man sich im Grossen und Ganzen identifizieren kann.
Dazu gehören
[143] - eine ausreichende materielle Lebensausstattung, insbesondere eine
bergende Behausung;
[144] - einigermaßen intakte soziale Gemeinschaften: Familie,
Freundschaften, private und öffentliche Vereinigungen bis hin
zur Völkergemeinschaft (wobei die letztgenannte als zu weit entfernte
«Zwiebelschale» noch kaum ein Gefühl des Gehaltenseins vermitteln
dürfte) [127];
[145] - eine daseinsfreundliche Umwelt;
[146] - eine geistige Beheimatung: ein Sichzurechtfinden in der Welt, eine
Welterklärung, die Orientierungshilfe bietet.
[147] Die weltweite Gegenwart enthält allzu viele Faktoren der
Entblößung von Geborgenheit. Einige Stichworte: Fehlen der
elementarsten Lebensausstattung (besonders in der Dritten Welt). Wohnungsnot.
Auflösung der Familie. Kampf und Sieg Mentalität
statt friedlicher Gemeinschaft. Verunsicherung und Ängstigung durch
wachsende Undurchsichtigkeit technischer, wirtschaftlicher, politischer
Erscheinungen, Zusammenhänge, Risiken. Die Unwirtlichkeit der
Renditenlandschaften, das hektische Weiterhasten in allen Bereichen, was
es verunmöglicht, sich auch nur vorübergehend in einem
Ordnungsgefüge zurechtzufinden. Der verbreitete Verlust religiöser
Orientierungshilfen. (Die Religionen können ihre Rolle als echte Lebenshilfe
nur weiterführen, wenn sie vom Bewußtseinsstand der Menschen von
heute ausgehen; anders findet eine Massenabwanderung in Ersatzreligionen
und Illusionen statt.)
Ruhe, Stille, Muße, Vielfalt, Poesie, Schönheit,
Hoffnung
[148] Zeitdruck, allgegenwärtiger Lärm, das
Freizeit Vollbeschäftigungsprogramm der Wirtschaft
[30] sind keine Atmosphäre, in der Selbstbesinnung
und Selbstfindung gedeihen.
[149] «In der Stille wird alles an Macht und Gewalt
zurückgenommen» (Hans Saner).
[150] Die Vielfalt in Natur und Kultur regt unsere Neugierde an, bietet Anreize,
das bisher Gedachte zu überdenken, weiterzudenken. Eintönige
Vereinheitlichung stumpft ab, verbreitet Langeweile. Es wird bereits geraubt
und gemordet aus Langeweile. Die Vielfalt des Konsumangebotes kann sie offenbar
nicht vertreiben. Und Nervenkitzel ist kein Ersatz für Vielfalt.
[151] Was «Schönheit» ist, hat noch niemand ausleuchten
können. Schönheit gehört zu jenen Erscheinungen, die über
sich hinausweisen. Sie kann nur erfühlt, nicht definiert werden. Die
Natur strömt Schönheit in überwältigender Fülle
aus. Wer glaubt, der Schönheit Auschwitz entgegenhalten zu müssen,
ist naturblind. In Auschwitz ist der (autozentrische) Mensch gescheitert,
nicht die Schönheit. Wer die Schönheit verachtet, verachtet die
Hoffnung.
[152] Die Kunst der Gegenwart feiert in ihren öffentlich anerkannten
Produktionen wahre Orgien von innerer Leere, Disharmonie,
Häßlichkeit, Hass, Niedertracht, Verzweiflung und Brutalität.
Es geht nicht darum, Hass und Häßlichkeit aus der Kunst zu
verbannen , sie gehören zur Ganzheit des Wirklichen. Die Nacht
ohne jeden Lichtblick aber macht die Nacht zur Selbstverständlichkeit,
zum Eigentlichen. Solche Kunst tötet die Hoffnung.
[153] Fühlen wir noch die Poesie einer Blume, eines Schmetterlings,
einer Landschaft? Poesie ist der Duft einer verborgenen Wirklichkeit. Die
Dichterin Gertrud Leutenegger hat angesichts der Banalisierung ihrer
Kindheitslandschaft durch eine Autobahn geschrieben: «Sie haben das
Unsichtbare erstickt. Das Unsichtbare in der Landschaft. Jenen kleinen Rest,
der auf die Reise wollte, auf die andere Seite der Welt. Der lebendig geblieben
wäre ... ».
[154] «Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute), desto abstrakter
die Kunst, während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst
hervorbringt.» Dieser Ausspruch Paul Klees wäre angesichts der
unhinterfragten Dominanz der Abstraktion im gegenwärtigen
Kunstbetrieb jedenfalls einmal gründlich zu bedenken.
[155] Durchgeometrisierte Kunst ist der gewalttätige Versuch, den ganzen
Reichtum der Wirklichkeit in «klare» Formen zu pressen. Die Architektur
der Moderne ist schrecklich männlich. In der Natur gibt es nirgends
reine Geometrie,
[156] Nur Unwohlbefinden auszubreiten, ist keine Kunst.
[157] In einer Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit kommt die Kraft, trotzdem
auf eine heilere Welt hin zu leben, mehr denn je nur noch «von der anderen
Seite» [153].
Ausbildung, Bildung, Information
[158] Ausbildung vermittelt jenes Sachwissen und jene Fertigkeiten, die wir
im Erwerbsleben benötigen. Bildung soll uns befähigen, uns und
unsere Umwelt besser zu verstehen. Dazu gehört heute eine möglichst
umfassende Information. Anders ist Verantwortung, die sich dem Ganzen
verpflichtet fühlt, nicht zu realisieren [166-174].
Mitwirkung am Gestalten der öffentlichen Angelegenheiten
[159] Ein Postulat, das sich aus der Freiheit zur Selbstentfaltung ergibt.
Das Selbst gestaltet sich in die Außenwelt hinein, und die Außenwelt
wirkt auf das Selbst zurück.
[160] Im Bereich politischer Gestaltungsmöglichkeiten hat sich das
Mitwirkungsanliegen in der Form demokratischer Grundrechte konstituiert.
«Bei uns regiert das Volk» - eine Illusion
[161] Damit sollte der Eindruck vermittelt werden, der Mensch bewahre seine
volle Autonomie auch im Verbund der organisierten Gesellschaft. Indessen
werden nur die wahren Machtverhältnisse verschleiert. «Herrschaft
bedeutet, die Gestaltung des Gemeinwesens von der Projektierung über
die Formulierung der Rechtssätze bis in deren Ausführungen hinein
in der Hand zu haben. Eine solche Aufgabe kann «das Volk» nur schon
aus organisatorischen Gründen nicht bewältigen. Demokratie kann
nicht «Volksherrschaft» sein. Und wenn schon, dann würde
eine heute in der Regel hauchdünne Mehrheit über die
demselben «Volk» angehörende Minderheit herrschen. Dies besonders
dann, wenn Mehrheiten und Minderheiten in der Regel von immer denselben Kreisen
und Denkweisen gebildet werden, so daß die Chance, das nächste
Mal wieder zur Mehrheit zu gehören, gering ist. Abgesehen davon sind
längst nicht alle, die den Gesetzen unterworfen sind, wahl- und
stimmberechtigt.
[162] «Demokratie» als Postulat kann daher nur bedeuten, daß
die politischen Mitwirkungsmöglichkeiten im je besonderen kulturellen
Umfeld zu optimieren sind. Diese Mitwirkung, die den Gemeinschaftsgedanken
voraussetzt (autozentrische «Mitwirkung» kann nur in
Beherrschungsversuchen bestehen), vollzieht sich zunächst im Gespräch:
in einem Gespräch, das alle an einem Problemlösungskonflikt beteiligten
Werte und Interessen zu Wort kommen läßt. Und zwar ohne verbale
Diskriminierung und Ausgrenzung («subversiv»,
«wirtschaftsfeindlich» und dergleichen mehr). Selbst bei politischen
Willensäußerungen, die quer zur «öffentlichen Meinung»
liegen, täte man besser daran, sie nach ihren Hintergründen abzufragen,
statt sie kurzerhand ins Reich des Bösen zu verweisen. Es könnten
dahinter an sich lebenswichtige und daher berechtigte Bedürfnisse wirken,
die durch ihre Unterdrückung auf schiefe Bahnen abgedrängt wurden.
(Der Kurzschluß zum Reich des Bösen rührt allerdings oft
daher, daß die Vorherrschenden ihnen unbequeme Bedürfnisse nicht
wahrhaben wollen.)
[163] Nicht jedes Gespräch führt zu einer Kompromißlösung.
Eine solche setzt voraus, daß jeder Gesprächsteilnehmer auch die
Anliegen der anderen in seine eigenen Lösungsvorschläge einbaut.
Wenn aber keine Einigung erzielt wird: Wer macht jene Lösung zum
Gesetz, die dem Gemeinwohl, dem «größtmöglichen Glück
der größtmöglichen Zahl», am besten dient? Es gibt
die Möglichkeit, einen Schiedsrichter oder einen «Rat der Weisen»
entscheiden zu lassen. Als demokratisch gilt aber nur der Mehrheitsentscheid
durch das «Volk» selber oder seine Repräsentanten.
[164] Man muß ein schlechtes Gewissen dabei haben. Ideal wäre
die Weiterführung des Gesprächs, bis eine Einigung erzielt ist
(wie das bei gewissen afrikanischen Stämmen praktiziert worden sein
soll). Das läßt sich im Umfeld unserer zivilisatorischen
Verhältnisse nicht durchführen. Wenn der Mehrheitsentscheid dem
Gemeinwohl dienen soll, muß also von den am Entscheid Beteiligten dieselbe
Grundeinstellung verlangt werden, die auch zum Kompromiß führen
kann. Anders bleibt nur die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit
übrig. Und die demokratische Willensbildung ist nur ein Kampf aller
gegen alle, in welchem es zu siegen gilt. Dann sind auch polarisierende
Kampfmethoden bis an den äußersten Rand des Legalen durchaus
legitim. (Das heißt nicht, daß die politische Diskussion nicht
gepfeffert sein dürfte. Aber Pfeffer ist nicht mit Gift zu verwechseln.)
[165] Offenbar werden die Früchte solcher «demokratischer»
Willensbildung doch nicht als befriedigend empfunden. Es erschallt der Ruf
nach «Führung». Dahinter kann auch mehr stehen als einfach
der Versuch, in Richtung Alleinherrschaft vorzudringen (beispielsweise durch
eine einseitig zusammengesetzte Regierung). Dann aber ist Führung nur
möglich, wenn ein Minimalkonsens darüber besteht, was als wertvoll
zu gelten hat und welchen Rang diese Werte einnehmen [5].
Anders muß jeder Führungsversuch im Kampf aller gegen alle aufgerieben
werden. Was dann wiederum totalitäre Tendenzen, «endlich Ordnung
zu schaffen», auf den Plan rufen könnte.
Anforderungen an die Information in der Demokratie
[166] Wer Probleme umsichtig und weitsichtig im Sinne des Gemeinwohls lösen
will, muß über die einschlägigen Fakten und Zusammenhänge
informiert sein [158].
Eigentlich müßte er mit dem gesamten Wissensstand
seiner Gegenwart vertraut sein. Das ist praktisch unmöglich, weshalb
wir uns mit einer Optimierung begnügen müssen.
[167] An Angeboten ist kein Mangel. Die Information ergießt sich in
weiterhin anschwellenden Fluten über uns. Die Meldungen und Kommentare
jagen sich, widersprechen sich, werden vom Nachdrängenden zugedeckt,
lassen den Bürger, der keine eigenen
Überprüfungsmöglichkeiten hat, rat und damit tatenlos.
[168] In einem Gemeinwesen, das seine Entscheide unter bestmöglicher
Mitwirkung seiner Bürger fällen will, muß die Information
folgenden Anforderungen genügen:
[169] - Sie muß aus Quellen kommen, die nicht durch Eigeninteressen
getrübt sind. Wo sie aus solchen Quellen stammt, muß das deutlich
erkennbar sein.
[170] - Sie muß dem neuesten Stand des Wissens entsprechen.
Aufklärung ist auch gefordert, wo das Wissen kontrovers, unvollständig
oder gar fehlend ist. Das gilt besonders für das Wissen um die Risiken,
die ein bestimmter Lösungsvorschlag mit sich bringt.
[171] - Gegensätzliche Standpunkte, deren vordergründige
Begründung und hintergründige Interessenbedingtheit müssen
klar herausgestellt werden.
[172] - Demokratische Information muß übersichtlich gestaltet,
mit einem vernünftigen Zeitaufwand zu bewältigen und auch breiteren
Schichten verständlich sein.
[173] Das Fernsehen mit seiner Kombination von Bild, Ton und Wort
wäre ein ideales Informationsmedium gewesen. Indessen wird auch das
öffentliche Fernsehen - nach dem «Vorbild» des privaten -
immer weitergehend dazu mißbraucht, das Publikum während der besten
Sendezeiten mit einer grellen, lärmigen und hektischen Mixtur aus
Wettkampfspektakeln, Jubeltrubelheiterkeit, Action, Krimis, Terror und Horror
freizeitfüllend an der Oberfläche zu halten.
[174] Die Finanzierung durch Werbegelder fordere hohe Einschaltquoten, so
lautet das Argument. Welches Publikum wünscht sich unsere Wirtschaft
eigentlich? Und wenn sie ein auf die Verdummung zusteuerndes Publikum
will, hat dann das demokratische Gemeinwesen nicht erst recht die Aufgabe,
ein informiertes Publikum zu wollen? Man muß dieses Publikum nun einmal
ansprechen, wo es sich befindet: im Lehnstuhl vor dem Fernsehen. Es gibt
ein vorzüglich gemachtes, informatives und dabei keineswegs langweiliges
Fernsehen; das beweisen einige allerdings immer seltener werdende und spät
nachts ausgestrahlte Sendungen. (Nebenbei: Offenbar bemerken wir die
Unverschämtheit der staatlich approbierten Manipulation durch
Unterbrecherwerbung gar nicht mehr.)
Lassen sich alle Probleme durch «mehr Markt»
lösen?
[175] Die Wirtschaft einer freien Gesellschaft ist Marktwirtschaft.
Indessen vermitteln gewisse vorherrschende Wirtschaftstheoretiker und
-praktiker mit ihrer unermüdlichen Antistaat Propaganda den
Eindruck, als bestünde Marktwirtschaft darin, daß sich das Gemeinwesen
aus dem «freien Spiel der Kräfte» heraushält.
[176] Markt als Ort friedlichen Güteraustausches steht im Gegensatz
zur Güteraneignung durch Gewalt. Eine auch nur einigermaßen
entwickelte Marktwirtschaft kann überhaupt nur entstehen und Bestand
haben, wenn eine Regelungsmacht einige elementare Vorbedingungen, eine
Markt Friedensordnung schafft (Münzwesen, Vertragsrecht,
Streitschlichtung usw.). Es liegt auf der Hand, daß das «freie
Spiel der Kräfte» in Wirklichkeit ein Kampf aller gegen alle ist,
in welchem unausweichlich die Stärkeren und Stärksten obsiegen.
Daß die Erfahrung das bestätigt, läßt ein unverstellter
insbesondere ein global ausgeweiteter Blick deutlich genug
erkennen. Von einer auch nur einigermaßen gerechten Güterverteilung,
einer Hauptaufgabe einer «gesunden Wirtschaft», sind wir weit entfernt.
Das blinde Vertrauen in «Marktmechanismen», die mit unsichtbarer
Hand alles ins Lot bringen sollen, dürfte nun doch gründlich
erschüttert und als Illusion, als Ausdruck eines mechanistischen
Weltbildes erkannt sein. Im übrigen hat schon Adam Smith,
Hauptbezugsperson der neoliberalen Theoretiker, auf die
Unerläßlichkeit ethischen Verhaltens der Wirtschaftsubjekte
hingewiesen. Wo allerdings der Eigennutz heiliggesprochen wird, muß
ein solcher Appell ungehört verhallen.
[177] Es soll hier nicht einer «Regulierungswut» das Wort geredet
werden. Je wilder aber sich der Eigennutz gebärdet, desto
drängender wird der Regulierungsbedarf, wenn das Gemeinwohl
überhaupt noch ein Anliegen sein soll. (Man braucht sich nicht zu wundern,
wenn sogar wieder totalitäre Gelüste aufkommen, wie beispielsweise
der Ruf nach einer «Ökodiktatur».)
Gefährliche Defizite
[178] Wir können nicht mehr daran vorbeisehen, daß die
Wachstumskonkurrenzwirtschaft der Gegenwart [11-20]
insbesondere in ihrer globalisierten Form, gefährliche Defizite aufweist:
[179] - sie führt zu einer wachsenden Ausgrenzung Arbeitsuchender:
Drittweltbewohner, nicht ausreichend «Effiziente», durch
Automatisierung überzählig Gewordene, nicht ausreichend Dynamische
und Neuerungsfreudige (hierher gehören ohne Ansehen der Person die Senioren,
aber auch Manager, die im hektischen Konkurrenzkampf ebenfalls zu einer Art
Wegwerfprodukt geworden sind).
[180] Eine gesunde Wirtschaft verschafft allen Arbeitswilligen und
Arbeitsfähigen die Möglichkeit, sich mit ihrem Einsatz mindestens
eine elementare materielle Lebensausstattung zu erwerben
[127]. Und überläßt sie nicht der
öffentlichen und privaten Fürsorge oder gar der Verelendung. Sogar
in Europa sind als Globalisierungsfolge bereits ganze Landstriche der Verarmung
ausgesetzt. Die globale Wachstumskonkurrenzwirtschaft ist von ihren Strukturen
her unfähig, eine der vornehmsten Aufgaben der Wirtschaft zu erfüllen,
nämlich eine den menschlichen Grundbedürfnissen aller
Wirtschaftssubjekte einigennassen angemessene Güterverteilung zu
gewährleisten.
[181] Gerade auch wegen der Fürsorgeverpflichtungen der Gemeinwesen
müsse die Wirtschaft weiterwachsen, heißt es. Diese Rechnung wird
wahrscheinlich nicht aufgehen. Dafür wird das rasche Wachstum der
Ausgrenzungen und das Schwinden der öffentlichen Mittel im internationalen
Konkurrenzkampf um die niedrigsten Abgaben sorgen.
[182] - Die Jagd nach den günstigsten Rahmenbedingungen geht rund um
den Globus. Den Verlierern bleiben aufgelassene Industriewüsten und
verarmende Bewohner.
[183] - Die Wachstumskonkurrenzwirtschaft ist von ihren Strukturen her
unfähig, die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen zu gewährleisten
[13-19]. Sie ist die Perversion der
«Ökonomie», des haushälterischen Umganges mit den
Gütern dieser Erde nämlich. (Nur nebenbei: Sogenannte
marktwirtschaftliche Schutzmaßnahmen sind in Wirklichkeit vom Staat
eingerichtet; «marktwirtschaftlich» sind sie nur insofern, als
sie an den Eigennutz appellieren.)
[184] Eine «gesunde Wirtschaft» kann im Zeitalter einer höchst
effizienten Ausbeutungstechnologie nur noch eine Kreislaufwirtschaft sein,
bei welcher die Schonung der Ressourcen und der ökologischen
Vernetzungen optimiert sind.
[185] «Wachstum» [52,54,55] hört sich wegen
seines biologischen Anklanges sympathisch und zuversichtlich an. Das
Wirtschaftswachstum der Gegenwart hat aber mit dem biologischen Wachstum
nichts gemein. Es vollzieht sich nicht in einem Kreislauf von Werden und
Vergehen. Es ist vielmehr eine wahnwitzige Anhäufung toter Materie,
die in immer unlösbarere Versorgungs- und Entsorgungsprobleme
hineinläuft.
[186] Quantitatives Wachstum ist nur noch dort vonnöten, wo die Not
regiert. Ausgerechnet dort aber wachsen weit herum nur die Hoffnungslosigkeit
und die Auslandkonten der «Eliten».
[187] - Die Wachstumskonkurrenzwirtschaft befaßt sich nur mit
gemeinnützigen Aufgaben, soweit ihre Erfüllung eine Rendite abwirft.
Alles übrige überläßt sie den Gemeinwesen oder
uneigennützigen Privaten.
[188] - Der globale Konkurrenzkampf führt zur wachsenden Machtkonzentration
bei den «Effizientesten». Dabei entziehen sich die internationalen
Großunternehmen zusehends öffentlicher Kontrolle, weil sie
Regulierungsgelüste von Nationalstaaten mit angedrohter oder wahr gemachter
Auswanderung unterlaufen können. Die Souveränität der
Nationalstaaten nimmt rapide ab (und die Wut darüber, die sich in
Neonationalismen auslebt, nimmt rapide zu). Die Völkergemeinschaft wiederum
ist zu uneinig und zu schwach, um eine wirksame Machtkontrolle auszuüben.
[194, 237]
[189] - Mit ihren zentral gesteuerten, global-aggressiven Konsumangeboten
droht die Wachstumskonkurrenzwirtschaft allmählich den ganzen Planeten
mit einem grauen zivilisatorisch kulturellen Einheitsbrei zuzudecken
[150] - mit dem «American way of life» als Einheitsnorm.
[190] Es gibt eine Horrorvision, wonach in absehbarer Zeit einige Multis
weltweit bestimmen, wie man zu arbeiten, was man zu konsumieren, wie man
sich zu vergnügen, was man von seinem Selbst, was man von Gott und der
Welt zu halten hat.
[191] - Eine Wirtschaft, die ständig in der Angst vor Konkurrenznachteilen
und vor dem Verlust von Arbeitsplätzen lebt, hat es immer wieder
zu verhindern gewußt, daß auf krasse Menschenrechtsverletzungen
wirkkräftig reagiert wurde. Wenn die europäische Kultur irgendwo
einen weltweiten Verdienst verbuchen könnte, dann wäre es die
Ausbreitung eines Bildes vom Menschen, das ihm eine unantastbare Würde
zuerkennt.
[192] - Waffenexporte in Krisen- oder gar Kampfgebiete mit der Begründung
der Arbeitsplatzbeschaffung verursachen Millionen von Toten und
Verstümmelten. Sie befähigen auch dort zu Massenschlächtereien,
wo man sonst noch mit Pfeil und Bogen umginge. Eine Wirtschaft, die in solchen
Exporten einen «Sachzwang» sieht, muß als geradezu pervers
bezeichnet werden.
[193] - Die Sicherheitsrisiken, für welche diese Wirtschaft
mitverantwortlich ist, wurden schon erwähnt
[133-135].
[194] - Der Zwang zur permanenten Effizienzsteigerung und die Tendenz
zur Machtkonzentration beeinträchtigt die Mitwirkungsrechte. Auf
Unternehmensebene glaubt man sie sich aus Konkurrenzfähigkeitsgründen
nicht leisten zu können. Auf staatlicher Ebene verlangt man effiziente
Entscheidungsmechanismen im Dienste der Wirtschaft. Abgesehen davon sind
die Bereiche demokratischer Gestaltungsmöglichkeiten im Nationalstaat
und seinen nachgeordneten Gemeinwesen ohnedies im Schwinden begriffen
[188].
[195] - Die Wachstumskonkurrenzwirtschaft ist auf permanentes
Anspruchswachstum angewiesen. Es wird mit einem milliardenverschlingenden
Propagandaapparat angeheizt [13,16,17,174].
Eine Selbstbescheidung der Anspruchsgesellschaft wird immer schwieriger.
Selbst bescheidene Einkommenskürzungen werden mit Massendemonstrationen
beantwortet.
[196] - Die Maschine hat versprochen, uns von «knechtischer»
Arbeit zu befreien und uns für Höheres frei zu machen. In die
Hände der Wachstumskonkurrenzwirtschaft gelangt, reißt sie uns
in einen immer wilder sich drehenden Strudel von Produktion und Konsum hinein.
Zum «Höheren» gehörte in erster Linie die Beschäftigung
mit der Frage: Wer bin ich eigentlich? Was brauche ich wirklich zu meiner
Selbstwerdung? Was ist der Sinn meines Tuns, meines Lebens? Bin ich nicht
wesentlich mehr als nur eine Kreuzung zwischen einem Maximalproduzenten und
einem Maximalkonsumenten?
[197] Wollen wir eine «gesunde» Wirtschaft in einer kranken
Gesellschaft?
[198] Die Wachstumskonkurrenzwirtschaft hat sich zu einer weltumspannenden
Maschinerie gigantischen Ausmaßes ausgewachsen. Deren Mechanismen
werden dem reformwilligen Bürger fleißig als eine Art höherer
Gewalt vorgehalten, gegen die anzugehen aussichtslos sei. Aber diese Wirtschaft
ist keine Naturgewalt, sondern Menschenwerk. Sollten wir, die wir zu den
Sternen greifen, außerstande sein, ihr eine menschenwürdige und
menschenfreundliche Richtung zu geben?
[199] In unseren Wirtschaftsstrukturen soll eine freie Selbstwerdung in einem
freien Spiel der Kräfte möglich sein. Die Eigeninitiative soll
nicht erstickt werden. An den Früchten seiner Arbeit soll man sich erfreuen
können. Aber «das Freisetzen von Marktkräften alleine führt
zum Chaos, es führt zu einem darwinistischen Ausleseprozeß, der
im wesentlichen nach dem Faustrecht sich vollzieht». (Kurt Biedenkopf,
im Hinblick auf die Rezeption der Marktwirtschaft in den Oststaaten).
[200] Ein Ausmerzungskampf aller gegen alle ist kein Spiel mehr. Und
ein Wettbewerb, bei dem es Elende und Tote gibt, verdient diesen Namen nicht.
Spiel kann nur Spiel bleiben, solange es sich an Spielregeln hält, die
den Wettbewerb innerhalb jener Grenzen hält, welche allen Mitspielern
(einschließlich der Natur und der späteren Generationen) ihre
Eigenrechte gewährleistet.
[201] Aber Regeln haben keine Konjunktur. Mehr Freiheit, weniger Staat,
Deregulierung, Privatisierung so lauten die Parolen. Und wenn
schon, dann nur Regulierungen durch freie Vertragsschlüsse. Eine
vertragliche Regulierung aber, die einen echten Interessenausgleich
enthält, setzt voraus, daß die Trümpfe ungefähr
gleichmäßig verteilt sind - wovon wir besonders im internationalen
Verhältnis und im Bereich der Umweltbewahrung weit entfernt sind.
[202] Die Gegenwart verheißt keine Aussichten auf effiziente Spielregeln.
Ein freiwilliger Fortschritt zur Vernunft aber ist auf seiten der Produzenten,
unter denen es immerhin zahlreiche Einsichtige gibt, durch eben jene
Zwangsmechanismen der Wachstumskonkurrenzwirtschaft erschwert. Optimistisch
Gestimmte weisen zwar darauf hin, daß die Wirtschaft durch
ökonomische und ökologische Notwendigkeiten gewissermaßen
von selber in die richtigen Bahnen geleitet werde. Gegenwärtig sieht
es nicht danach aus. Überdies ist die Frage, ob sich der Wandel noch
rechtzeitig und radikal genug vollziehen würde.
Die Hoffnung liegt - vorderhand - in einer Reform von unten
[203] Sie beginnt ganz einfach damit, daß mir uns darauf besinnen,
was wir wirklich brauchen, um glücklich zu sein. Und nur das verbrauchen
und gebrauchen, was in eine Wirtschaft hineinpaßt, die sich
weitestmöglich auf eine Kreislaufwirtschaft zu bewegt. Die
Verlängerung dieser Alltagsreform in die Politik hinein geschieht dadurch,
daß wir in Wahlen und Abstimmungen die reformwilligen Kräfte
unterstützen.
[204] Ohne Verzichte wird es nicht abgehen. Frei ist nur, wer verzichten
kann. Es werden Verzichte auf den Überfluß sein, auf das also,
was eine als ganzheitlich aufgefaßte Selbstwerdung als unnötig
und als mit ökologischen und sozialen Postulaten unvereinbar erkennt.
[205] Ein lustfeindliches Programm? Besteht Lust nur darin, in
überquellenden Shoppingcenters die Einkaufswagen turmhoch zu füllen?
Oder auf dem "heißen Stuhl" in einem einzigen Tag über eine ganze
Serie von Pässen zu heulen?
[206] Gemäß einem nachdenklichen Mann unserer Zeit (Dietmar Mieth)
heißt Lust, «unser Leben in gesteigerter Intensität
wahrzunehmen». Je mehr sich das Leben in Gegenstände verwandle,
um so weniger sei es lustvoll zu erfahren.
[207] Lustvoll ist auch der Biß in das Süßsaftige eines
Apfels (ohne Giftverdacht). Der Sprung in ein klares Gewässer. Das
Mitschwingen mit einer poetischen Landschaft. Ein fröhliches Fest mit
Freunden. Ein gelungenes Werk. Ein Erfolgserlebnis des Mitwirkenden. Die
Entdeckerfreude des Nachdenklichen. Die Mitfreude des Hilfeleistenden.
[208] Für ein solches «neues Wohlstandsmodell» (Ernst U.
von Weizsäcker) muß man der Fantasie alle Macht wünschen.
[209] Das sei ein elitäres Programm? Eine solche Behauptung
läßt sich so lange nicht überprüfen, als eine
allgegenwärtige Propaganda den «breiten Schichten»
unermüdlich einhämmert, Lust sei mit Maximalkonsum identisch.
[210] Eine Reform von unten räumt der Wirtschaft genügend Zeit
ein, ihre Strukturen den Anforderungen an eine gesunde Wirtschaft anzupassen.
Dabei wird sie ihre Innovationsfähigkeit fruchtbringender unter
Beweis stellen können als durch Anheizen der Anspruchsinflation. Und
sie wird besser motivierte Mitarbeiter finden.
[211 ] Als «gesund» kann nur noch eine Wirtschaft gelten, deren
Weiterentwicklung eine nachhaltige ist, d.h. deren Subjekte - ob Manager
oder Techniker oder Konsumenten sich für eine gerechte
Güterverteilung und die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen ebenso
verantwortlich fühlen wie für das Funktionieren einer Wirtschaft,
die uns eine angemessene materielle Lebensausstattung ermöglicht.
Die Frauen
[212] Beobachtet man die Politik, welche ihre überwiegende Mehrheit
bisher gemacht hat, neigt man zur Annahme, daß sie eine besondere
Veranlagung zu einem solidarischen Weltbild haben. Auch die Männer
sollten sich indessen nicht scheuen, neben ihrem besitzergreifenden
Draufgängertum «weibliche» Züge in sich zu entdecken
und zum Tragen kommen zu lassen: Einfühlungsvermögen,
Verständnisbereitschaft, Behutsamkeit, unschematisches, intuitives Denken,
erfindungsreiche Phantasie, Zuneigung.
[213] Braucht unsere Gesellschaft doppelt so viele Männer?
Zum erstenmal in der Geschichte ist Ethik eine
Überlebensfrage
[214] Eine Ethik, die nicht fragt, was sie hier und jetzt nütze. Eine
Ethik, welche die Lebensrechte der Mitwelt und der Nachwelt zum eigenen Anliegen
macht. Eine Ethik, die bei unumgänglichen Eingriffen in die Mitwelt
ganzheitliche Umsicht und Behutsamkeit walten läßt.
[215] Die Natur hat Überlebensgesetze, die eine maßlose Expansion
verhindern. Kein Uwe reißt ganze Antilopenherden. Der Mensch hat sich
von diesen Gesetzen «befreit». Ihn bewahrt angesichts seiner
gegenwärtigen und weiterhin wachsenden Machtmittel nur noch eine Ethik
der Solidarität vor der Selbstzerstörung.
[216] Zwangsnormen, selbst wenn sie zustande kämen, sind kein Ersatz.
Man kann nicht hinter jeden einen Polizisten stellen. Rechtsnormen können
nur dort gelten, wo sie weitgehend freiwillig befolgt werden.
[217] Die Ethik der Solidarität ist lebensfreundlich. Warum soll Leben
überhaupt sein? Die Immanenz, das Leben selber, kann darauf keine Antwort
geben. Diese Ethik kann ihre Rechtfertigung nur in der Transzendenz haben.
[218] Es wird vielenorts und vielfältig mit Sachkenntnis,
Verzichtbereitschaft, Phantasie und uneigennützigem Einsatz an einer
Richtungsänderung gearbeitet. Das Wirken der Gemeinwesen hingegen
beschränkt sich weitgehend auf umweltfreundliche Ermahnungen und
Symptombekämpfungsmaßnahmen. Das ist wenigstens etwas, aber es
ist längst nicht genug. Das Gemeinwesen formt zu einem guten (oder
schlechten) Teil das Kollektiv-Selbst.
[219] Für die Gemeinwesen (Bund, Kantone, Gemeinden) ist
Wachstumskonkurrenzwirtschaft nach wie vor eine Selbstverständlichkeit.
Die Politik hat dafür zu sorgen, daß wir überall
möglichst die besten Plätze besetzen. Die Auswirkungen dieses
Kampfgetümmels sind tabu; jedenfalls werden die Zusammenhänge nicht
klargestellt. Die Folgen werden bekämpft wie Krankheiten, deren Ursachen
unbekannt sind, und auch das nur in selektiver Weise. Und an die Tatsache,
daß unsere Siege immer auf Kosten anderer gehen, wird kein Gedanke
verschwendet.
Ein Manifest reinster Wachstumskonkurrenzwirtschaft
[220] Die anfangs 1996 erschienene Publikation «Mut zum Aufbruch»
gab Anlaß zu heftigen Diskussionen. Die Lebensansprüche der
«Ineffizienten» und die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen waren
nicht einmal ein Randthema. Die Frage war nur, wie wir im internationalen
Konkurrenzkampf die vordersten Plätze behalten könnten und wer
allenfalls dafür den Gürtel enger schnallen müsse. Die
globalisierte Wachstumskonkurrenzwirtschaft blieb unangetastet, als
wäre sie eine höhere Gewalt: unabänderlich, alles beherrschend,
total.
Bei der Lektüre dieser Programmschrift drängen sich vorweg einige
Fragen und Antithesen auf:
[221] - In die «Globalisierung» werden - nebst den alten
Industriestaaten - immer nur Lateinamerika und Asien als hoffnungsfrohe Abnehmer
und Anbieter einbezogen. Von Afrika ist nirgends die Rede. Liegt Afrika
nicht auf unserem Globus? Kann eine «Weltwirtschaft» einfach einen
ganzen Kontinent ausgrenzen?
[222] - Wahrscheinlich ist nicht einmal die Grundversorgung der einheimischen
Bevölkerung mit einer nach heutiger Auffassung ausreichenden materiellen
Lebensausstattung für die ganze Lebenszeit gewährleistet. Eine
entsprechend breite Streuung der Arbeitseinkommen wird der internationale
Arbeitskostenkonkurrenzdruck verhindern. Und das Postulat der Steuersenkung
(wiederum aus Gründen der internationalen Konkurrenzfähigkeit)
verhindert, daß der Staat über genügende Mittel verfügt,
um die Einkommenslücken zu füllen. Eine ausreichende private
Altersvorsorge aber setzt ein ausreichendes Arbeitseinkommen voraus, aus
dem die Prämien bestritten werden können. Dazu kommt, daß
die postulierte Verlagerung von direkten zu indirekten Steuern eine
zusätzliche Reduktion der mittleren und unteren Realeinkommen zur Folge
hätte.
[223] - Der geforderte Abbau der «Regelungsdichte des Arbeitsgesetzes»
und die Unterwanderung der Organisationsstrukturen der Arbeitnehmer durch
die staatsfreie «Vertragsfreiheit der Sozialpartner» (S.71) wird
die Arbeitnehmer zu Einzelkämpfern gegen die Arbeitgeberschaft machen.
Welche Chancen sie dabei haben werden, kann man sich angesichts des
internationalen Konkurrenzdruckes mit seinen Kostensenkungszwängen,
der Verlagerung der Massenproduktion ins Ausland und der postulierten
Öffnung des Arbeitsmarktes für ausländische Arbeitskräfte
leicht vorstellen.
[224] - Eine Senkung der Realeinkommen bei breiten Schichten würde einen
empfindlichen Kaufkraftverlust mit sich bringen. Was sagen jene mittleren
und kleinen Unternehmer dazu, die hauptsächlich auf dem Binnenmarkt
operieren und sich nicht als Zulieferer eines «Großen» über
Wasser halten können?
[225] - Die im Gang befindlichen und sich beschleunigenden Entwicklungen
(Globalisierung, Informationsgesellschaft), die wir durch ein völlig
kritikloses Mit- und Voraushasten fördern sollen, werden einen
Wachstumsschub bewirken, «wie wir ihn noch nie erlebt haben»
(S.77). Die ökologischen Folgen bleiben
vollständig ausgeklammert. Das Wort «nachhaltig» findet sich
zwar einigemal, aber nur als schmückendes Beiwort ohne jede Thematisierung
dieses existenzwichtigen Problems. Die Postulate der Deregulierung und der
Steuersenkung lassen sogar befürchten, daß dem Staat nicht einmal
mehr die gesetzlichen Handhaben und die finanziellen Mittel zur Verfügung
stehen werden, um ausreichend griffige Maßnahmen zum Schutz der Umwelt
und der Ressourcen durchzuführen.
[226] - Das Postulat einer totalen Internalisierung der
Straßenverkehrskosten (S. 52f.) ist
begrüßenswert. Nicht zu überzeugen vermag dasjenige einer
totalen Privatisierung des öffentlichen Verkehrs. Wie wollen
Privatunternehmer die durch die Umsteige Verweigerung des Verkehrspublikums
verursachten Defizite beseitigen, nachdem diese Verweigerung kaum mehr auf
mangeln de Serviceleistungen des öffentlichen Verkehrs
zurückzuführen ist? Und woher soll der «schlanke»
Staat die Mittel nehmen, um die «Versorgung abgelegener Gebiete»
(S. 52) sicherzustellen?
[227] - Die postulierte Forschungs- und Ausbildungspolitik, die
völlig auf Wirtschaftsförderung ausgerichtet ist, wird dazu
führen, daß für geilstes- und umweltwissenschaftliche
Lehre und Forschung und damit für die Bereitstellung umfassender Bildung
und Orientierungshilfe kaum mehr ausreichende Geldmittel erhältlich
gemacht werden können. Dasselbe gilt für die Kulturförderung,
bei der es ebenfalls um geistige Lebenshilfe geht.
[228] - Die Vollprivatisierung der Informationsmedien (einschließlich
Fernsehen, S. 50) überläßt auch die
Information vollständig den «Marktkräften».
[229] - Diesen «Marktkräften» soll praktisch unsere gesamte
Lebensgestaltung überlassen werden: unser Arbeitsleben, unser
Freizeitleben, unsere Ausbildung, unsere Information, die Gestalt unserer
Umwelt und unserer materiellen Lebens-Ausstattung, unsere Zukunftsaussichten
und die unserer Nachkommen. Wer aber sind die maß-gebenden
«Marktkräfte»? Keineswegs «wir alle»! Vielmehr die
draufgängerischen Macher, die Marktleader, die Besitzer der Informations-
und Propaganda-Apparate, die Opinionleader kurz: die Mächtigen im
Wirtschaftsgeschehen. Sie alle agieren unter dem Gesetz der Maximierung des
Eigennutzes, wenn sie nicht aus dem Markt geworfen werden wollen. Und
sie alle entziehen sich der demokroatischen Kontrolle des
Nachtwächterstaates, den sie nach ihren radikalen
Entstaatlichungsplänen noch übriglassen.
Eine zukunftsfähige Wirtschaft
[230] Wir werden unserer Wirtschaft nicht von heute auf morgen eine
völlig andere Richtung geben können. Aber die Gemeinwesen sollten
endlich davon abkommen, das immerwährende Wachstum und die Erhaltung
unserer Wohlstands-Privilegien als das Staatsziel Nummer Eins hinzustellen,
dem alles andere unterzuordnen ist. Sie sollten wenigstens vorerst einmal
in aller Deutlichkeit auf die damit verbundenen Probleme aufmerksam machen.
[231] Das bedeutet beispielsweise, daß das Bildungswesen nicht nur
Ausbildungswesen sein darf, sondern uns auch befähigen muß,
über unsere planetare Lebenssituation Klarheit zu gewinnen.
[232] Das bedeutet des weiteren, daß die Gemeinwesen Forschungsprojekte
unterstützen und bekanntmachen sollen, die sich Gedanken darüber
machen, wie eine menschenfreundliche und zukunftsfähige
Wirtschaftsordnung aussehen könnte. Darüber gibt es zwar schon
eine Menge Literatur, aber die vorherrschende Politik kümmert sich kaum
darum. Es gilt, diese Riesenarbeit auch politisch fruchtbar zu machen. Ohne
vernetzte Zukunftsperspektiven fühlt sich der Reformwillige mit seinen
Alltagsbemühungen bald einmal in die Vereinzelung getrieben.
[233] Hierher gehört auch die wirksame Unterstützung der Entwicklung
von Produkten und Prozessen im Sinne eines nachhaltigen Wirtschaftens. Der
marktmächtige und finanzkräftige Teil der Wirtschaft widmet solchen
technologischen Alternativen noch immer nur ein sehr laues Interesse (was
hinter streng verschlossenen Türen geschieht und nicht in die
Konsumpropaganda eingespeist wird, trägt zur Wende nichts bei).
[234] Das Wissen um die Welt und ihre Zusammenhänge, die Erweiterung
unseres Welt-Bewußtseins also, ist ein urmenschlicher Trieb. Die
Forschung wird sich nicht reglementieren lassen. Immerhin können
staatliche Gesetze zur Festigung eines Bewußtseins der Verantwortung
bei Forschem und ihren Auftraggebern beitragen.
[235] Auch die Information der Konsumenten bedarf der staatlichen
Förderung. Für eine Reform von unten müssen sie die Fakten
kennen, die sie befähigen, ein Produkt unter den Aspekten seiner
Umweltverträglichkeit und einer global gerechten Güterverteilung
zu beurteilen. Die Informationswaffen der Konsumentenorganisationen sind
unvergleichlich viel kürzer als diejenigen der finanzkräftigen
Produzenten.
[236] Es darf auch einmal daran erinnert werden, daß staatliche
Regelungen in einer Demokratie kein obrigkeitliches Diktat sind, sondern
ein Konsens der Bürger darüber, wie man es in Zukunft in einem
bestimmten Problembereich halten wolle. Das Sperrfeuer gegen den
«Staat» und «staatliche Bevormundung» läßt
ein merkwürdiges Demokratie- und Gemeinschaftsverständnis vermuten.
(Ohne dabei übersehen zu wollen, daß ein Staat, der für alle
da sein will, den Stärkeren immer ein Dorn im Auge sein muß.)
Lassen wir doch die ideologischen Grabenkämpfe endlich hinter uns und
prüfen wir von Fall zu Fall im Sinne des Gemeinwohls, wo Freiheit und
wo Bindung sein soll.
[237] Daß die Einflußmöglichkeiten der - global gesehen
- lokalen Gemeinwesen im Schwinden begriffen sind, läßt sich
allerdings nicht leugnen [188]. Hier bleibt zunächst
der dezidierte Einsatz für die notwendigen Regelungen auf internationaler
Ebene. Sodann aber ist für jeden Problembereich gesondert
sorgfältig zu prüfen, wie groß unser Spielraum in Wirklichkeit
ist und welche Nachteile wir gegebenenfalls im Interesse des Lebens nun einmal
in Kauf nehmen müssen.
[238] Überhaupt wächst es sich allmählich zur lebensbedrohenden
Groteske aus, daß wir uns angesichts der enormen kulturellen und
wirtschaftlichen Unterschiede auf diesem Planeten mit Haut und Haar der
Chimäre einer internationalen Konkurrenzwirtschaft ausliefern. Das
planetare Gemeinwohl, d.h. ein erfülltes Leben für alle Erdenbewohner,
wird unausweichlich zu einer starken Regionalisierung führen. Auch
dafür werden sich unsere Gemeinwesen stark machen müssen. Dann
werden auch wieder überschaubarere Verhältnisse und weitergehende
Mitwirkungsmöglichkeiten einkehren.
Den Gemeinwesen der Industriestaaten geht das Geld aus
[239] Eine weitere Groteske angesichts des ungeheuren Privatüberflusses!
Wir werden uns auf eine Prioritätsordnung für die Ausgaben einigen
müssen. Ob dabei im Hinblick auf die Frage, was wirklich auf dem
Spiel steht, Positionen wie Straßenbau und Militär weiterhin einen
so hohen Rang werden einnehmen können, wird ernsthaft zu überlegen
sein. Im übrigen werden wir uns klar machen müssen, daß es
die Ausgrenzungsmechanismen unserer Wirtschaft sind, welche die Sozialausgaben
ansteigen lassen, und daß der Kampf gegen ausreichende Einnahmen unter
der Fahne eben jener Globalisierung geführt wird, auf der in großen
Lettern die Fragen stehen: Wo sind die niedrigsten Steuern? Wo die
weitmaschigsten Umwelt- und Arbeitsschutzvorschriften? Wo die tiefsten
Löhne?
[240] Für manche Aufgaben der Gemeinwesen werden vermehrt unentgeltliche
Arbeitsleistungen herangezogen und die «sozialen Netze» gefördert
werden müssen.
Unser Land hat Identitätsschwierigkeiten
[241] Die Auswege wären naheliegend. Warum führen wir nicht unsere
Geschichte weiter?
[242] Sie hat uns Strukturen beschert, die Einheit in der Vielheit
ermöglichen. Es gibt Stimmen in der Welt, die finden, wir hätten
hier etwas anzubieten, nach solchen Strukturmodellen bestehe ein Bedürfnis.
Unser Angebot kann nicht darin bestehen, daß wir uns überall
heraushalten, wo über die regionale und globale Zukunft verbindlich
verhandelt wird ausgenommen dort, wo unmittelbare Vorteile auf der
Hand liegen.
[243] Zwei herausragende Wesenszüge unserer politischen Tradition sind
die Selbstbescheidung und die Solidarität. Was das in unserer
Zeit konkret bedeuten müßte, dürfte inzwischen klar geworden
sein. Diese Vergangenheit bedarf keiner "Bewältigung", sondern einer
Aktualisierung. Warum findet unser Land eine "Marktnische" nicht auch darin,
sich in der entschiedenen Förderung nachhaltiger Techniken und im Entwerfen
von praktikablen Modellen und Visionen für eine zukunftsfähige
nationale und internationale Gesellschaft hervorzutun?
[244] Wir brauchen indessen nicht auf große wirtschaftlichpolitische
Reformprojekte und Umwälzungen zu warten. Jedes gute Wort, jede Bereitschaft
zur Verständigung und Hilfeleistung, jedes fortschrittliche Konsumverhalten,
jeder noch so bescheidene Einsatz für eine Wende zum Besseren ist ein
Zeichen der Hoffnung, das sich fortpflanzt.
Wer weiterlebt wie bisher,
hat nicht begriffen, was droht;
- es nur intellektuell zu denken, bedeutet nicht,
es auch in die Wirklichkeit seines Lebens aufzunehmen.
Karl Jaspers, Philosoph 1883-1969
*
"... während sich die
meisten Menschen in hybrider Weise als frei betrachten, sind wir doch in
der neuronalen Sklaverei von Indoktrinationen gefesselt, Objekt für
ausbeuterische Gehirnwäschen, Lust suchend auf Befehl anderer. ... Es
besteht sehr wenig Hoffnung, die Mängel unserer Gesellschaft rasch zu
beseitigen, wenn nicht jeder einzelne seine eigenen Motive, seine Lebensweise
und seine gesellschaftsorientierte Mitarbeit einer gründlichen Kritik
unterzieht. Selbsterkenntnis ist (jedoch R.K.), wenn sie offen und ehrlich
geschieht, eines der stärksten Mittel um Unlust hervorzurufen. Solange
diese Selbsterkenntnis nicht als Mittel eingesetzt wird, die Lebensweise
zu ändern, was an sich bereits lustvoll ist, kann sich niemand als "reif"
betrachten, weder in geistiger noch in sozialen noch in neurophysiologischer
Hinsicht. ..."
Aus 'Campbell: Der Irrtum mit der Seele' (Originaltitel 'The
Pleasure Areas' - Buchbesprechung: www.humanistische-aktion.de/seele.htm
)
|
Bearbeitung für das Internet: Rudolf Kuhr
Mit freundlichen Empfehlungen
Humanistische AKTION
5/2004
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