Humanistische Spiritualität -
was ist das?
Von Joachim Kahl
Spiritualität ist ein heute oft gehörtes, schillerndes Modewort.
Meist wird es - bezeichnenderweise - als Tarnwort für Religiosität
verwendet, und zwar für jene sich ausbreitende individualistische
Religiosität, die kaum mehr institutionell verankert ist und sich ein
höchstpersönliches Glaubensmenü - esoterisch garniert - aus
einem weltweiten Angebot zusammenstellt. Eine Einschätzung aus
humanistischer Sicht.
Aus keltischen und schamanistischen, aus indischen und indianischen, aus
ostasiatischen und jüdisch-christlichen Versatzstücken brauen sich
viele ihre eigene "spirituelle" Mischung zusammen, modeln sie um und probieren
dann doch wieder einen ganz anderen Weg aus. Dieses erfrischend undogmatische,
aber auch erschreckend unkritische Experimentierverhalten wird soziologisch
als Bastel-Mentalität, Cafeteria-Mentalität, Schnupper-Mentalität
bezeichnet, ein geistiger Ausdruck des gesellschaftlichen
Individualisierungsvorganges der letzten Jahrzehnte. Thomas Luckmann hat
dafür den erfolgreichen Begriff der "Patchworkreligiosität"
geprägt.
Verständlich von daher, dass so mancher Anhänger eines ernsthaften
atheistischen Humanismus und Freidenkertums mit "Spiritualität" nichts
anfangen kann und darin ausschließlich eine aktuelle Ausgeburt von
Irrationalismus und Obskurantismus argwöhnt.
Den Begriff Spiritualität "reinigen"
Ich halte diese Position für falsch und werbe dafür, genauer
hinzuschauen und zwischen esoterischem Schnickschnack und geistigem Sumpf
einerseits und legitimen Bedürfnissen und unverzichtbaren Anliegen
andererseits zu differenzieren. Ohne Berührungsängste möchte
ich den Begriff "Spiritualität" verwenden, weltlich-humanistisch aneignen,
retten, reinigen, positiv besetzen, so dass er ohne Bruch mit taghellem
Bewusstsein und intellektueller Klarheit benutzbar ist.
Ein Humanismus, der keine spirituelle Dimension entfaltet, ist armselig und
steril, verkürzt auf Rationalismus. Ein spirituell vertiefter Humanismus
dagegen baut auch begrifflich eine Brücke zu einer einflussreichen
Strömung des Zeitgeistes und erleichtert so das Gespräch mit suchenden
Menschen aus diesem Bereich.
Die Definitionsmacht zu bestimmen, was unter Spiritualität zu verstehen
sei, trete ich nicht an esoterische Publikationen ab. Unter Berufung auf
den lateinischen Wortursprung (spiritus bedeutet ja Geist) stelle ich
zunächst schlicht fest: Spiritualität heißt Geistigkeit,
Geistorientiertheit. Gemeint sei damit: die geistige Einstellung zum Leben,
die innere Haltung zur Wirklichkeit, und zwar gemüthaft vertieft, Verstand
und Gefühl umgreifend.
Insofern ist klipp und klar zwischen Spiritualität und Religiosität
zu unterscheiden. Beides sind qualitativ verschiedene Dinge, die zwar
Berührungspunkte haben, aber nicht gleichgesetzt werden dürfen.
Spirituelle Bedürfnisse sind gemüthafte Bedürfnisse: das Verlangen
nach Sinn, Ziel, Halt, Ordnung, Trost, Mut im Leben. Wie alle geistigen
Bedürfnisse, die zur Natur des Menschen gehören, können sie
eine religiöse und eine nicht-religiöse Antwort finden. Jedenfalls
ist es intellektuell unredlich, bereits diese Bedürfnisse selbst
religiös zu vereinnahmen und mit Hilfe eines weitgefassten,
funktionalistischen Religionsbegriffs jeden Sinnsucher zum Gottsucher zu
mystifizieren.
Entscheidend sind Inhalte - nicht die Form
Die unterscheidende Trennlinie zwischen einer weltlich-humanistischen und
einer religiösen Spiritualität wird durch deren Inhalte, nicht
durch Formen gezogen. Kerzenlicht, Wohlgerüche, sanfte Musik, Rotwein
und Lyrik können ganz verschiedene Botschaften begleiten und
befördern. Auch Yoga, Fasten und Meditation sind keine Domäne
irgendeiner Religion, sondern können sich von ihren ideellen (etwaig
religiösen) Ursprüngen lösen, verselbständigen und auch
einen Stellenwert in einem atheistischen Lebensentwurf finden.
In zwei Gedichten sei der Unterschied zwischen einer weltlich-humanistischen
und einer religiösen Gestalt von Spiritualität verdeutlicht. Ich
zitiere jeweils eine charakteristische Strophe aus einem Text des
protestantischen Theologen und Märtyrers Dietrich Bonhoeffer sowie des
Berliner Dichters Heinz Kahlau.
Kurz vor seiner Hinrichtung durch die Nazis dichtete Bonhoeffer unter dem
Titel "Von guten Mächten":
Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen
mag, Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen
Tag.
Bei allem Respekt, der Bonhoeffer vornehmlich wegen seines antifaschistischen
Engagements gebührt, weise ich die sich in diesen - oft zitierten -
Worten ausdrückende Gläubigkeit als unbegründet und
unbegründbar zurück. Sie war und ist ein illusionäres,
autosuggestives Wunschdenken.
Eine undogmatisehe, skeptische weltlich-humanistische Spiritualität,
die der tatsächlichen Ungeborgenheit des Menschen illusionslos ins Auge
blickt, spricht sich in Heinz Kahlaus Gedicht "Kein Gott' aus. Darin heißt
es:
Ich habe keinen Vater, der mich tröstet. Es gibt kein Wort, das
unumstößlich ist. Mich stützt kein Glaube. Keine weise
Fügung besitzt ein Maß das meinen Nutzen misst.
Was ist das spezifisch Spirituelle, das sich in beiden Texten - unbeschadet
ihres inhaltlichen Gegensatzes - ausdrückt?
Beide Texte - zumal in ihrem Kontext gelesen - messen dem gemüthaften
Innenraum des Menschen eine Schlüsselrolle zur Meisterung des
äußeren Lebens bei. In beiden Texten geht es um Sinnhaftigkeit,
Stimmigkeit, Gewissenhaftigkeit der eigenen Existenz. In beiden Fällen
ist das Subjekt an Selbstvergewisserung, Selbstfindung, Selbstkongruenz
interessiert und bemüht sich, nicht orientierungslos und strukturlos
in den Tag hineinzuleben.
Zur ganzheitlichen - Verstand und Gefühl umschließenden - Art
von Spiritualität gehört das Gespür für Symbolik und
deren nichtsprachliche, visuelle Ausdruckskraft. Für eine
weltlich-humanistische Spiritualität möchte ich gerne das
Yin-Yang-Symbol erschließen, ein geistiges Geschenk Asiens an die
Menschheit.
Das Yin-Yang-Symbol ist ein Weltsymbol, hervorgegangen aus der unmittelbaren
Anschauung und Deutung der Natur. Es beruft sich nicht auf göttliche
Offenbarung, es knüpft nicht an irgendeinen legendären Vorgang
mit angeblicher Heilsbedeutung an, sondern es ist gebildet aus allgemein
nachvollziehbaren sinnlichen Erfahrungen von Licht und Schatten an einem
Bergabhang.
Das Yin-Yang-Symbol ist ein einzigartiges Beispiel dafür, wie aus
naturalistischen Wurzeln die Höhen ästhetischer und philosophischer
Abstraktion erreicht werden können - in einem langen anonymen Prozess
der Sublimierung, Vergeistigung, Verallgemeinerung. Als chinesischer Inbegriff
dessen, was in Europa als Dialektik bezeichnet wird, stellt es das Grundgesetz
von Polarität und Komplementarität der Gegensätze dar. Es
setzt stilisiert ins Bild, was als erster der Grieche Heraklit auf Begriffe
gebracht hat: dass alles im Fluss ist und die Gegensätze an ihren
Extrempunkten ineinander übergehen.
New-Age-Autoren haben keine Deutungshoheit
Wichtig für einen produktiven Umgang mit dem Yin-Yang-Symbol ist es,
weder seine inneren Schranken zu übersehen noch sich die Deutungshoheit
über seinen Sinn von New Age-Autoren oder von Jutta Ditfürth entwinden
zu lassen. Für eine gründliche - sinologisch und philosophisch
abgesicherte - Analyse des Yin-Yang-Symbols fehlt hier der Platz. Die Behauptung
Jutta Ditfürths in ihrem Buch "Entspannt in die Barbarei: Esoterik,
(Öko)-Faschismus und Biozentrismus", es sei "reaktionär' und
"patriarchalisch", lässt sich leicht entkräften. Ein einfaches
und unverkrampftes Hinschauen zeigt: beide Hälften des Diagramms sind
-unbeschadet seines Hell-Dunkel-Kontrastes - gleich groß und insofern
gleichrangig. Von einem Vorrang des männlich assoziierten Yang-Pinzips
ist nichts zu entdecken.
Die tatsächlichen inneren Grenzen des Symbols hängen mit der
Verabsolutierung des zyklischen Denkens zusammen. Das der Natur abgelauschte
Kreislaufdenken kennt wohl Bewegung und Wandel, aber keinen Fortschritt,
sondern nur die ewige Wiederkehr. Erst die Spirale, die den Kreis öffnet
und mit der geraden Linie verbindet, ermöglicht den inhaltlichen Komparativ:
höher als, später als. Insofern ist das Bild der Spirale, das Heraklit,
Goethe und Friedrich Engels in die abendländische Dialektik eingebracht
haben, dem asiatischen Kreissymbol überlegen.
Dieser Vorbehalt schmälert jedoch nicht im geringsten die produktive
Verwendbarkeit des Yin-Yang-Symbols als eines spirituellen Leitmotivs. Bei
der seelischen Entkrampfung vieler Menschen, beim Aufbau stabiler
Persönlichkeiten und harmonischer Paarbeziehungen kann es gute Dienste
tun.
Auch für die theoretische Arbeit im Sinne des Humanismus ist das
Yin-Yang-inspirierte Polaritätsdenken hilfreich. Die Polarität
von Kopf und Herz liegt dem Verhältnis von Aufklärung und Erleuchtung
zugrunde. Soll Aufklärung nicht zur bloßen Belehrung verkommen,
muss sie sich zur Erleuchtung vertiefen. Aufklärung, die nicht
ein-leuchtet und dann er-leuchtet, bleibt aufgesetzt und
äußerlich.
Aufklärung und Erleuchtung verhalten sich zueinander wie Begreifen und
Fühlen, wie Begriff und Bild. Wer freilich nach Erleuchtung ohne
Aufklärung strebt, sucht begrifflose und sprachlose, also geistlose
Unmittelbarkeit. Aufklärung und Erleuchtung gehören zusammen wie
Reflexion und Meditation.
Humanistische Spiritualität ist nicht alles. Sie ist nur ein Teil von
humanistischer Lebenskunst, zu der noch manches andere gehört. Es gilt
nicht nur, unser Leben spirituell zu vertiefen, sondern auch ästhetisch
zu überhöhen. Lernen wir auch, gewissenhaft und klug zu handeln
und - bei allen Widrigkeiten - Humor zu entwickeln!
Dr. Dr. Joachim Kahl promovierte 1967 zum Doktor der Theologie.
Unmittelbar danach trat er aus der Kirche aus und veröffentlichte 1968
den Essay "Das Elend des Christentums", der zu einem Klassiker der
kirchenkritischen Literatur in Deutschland geworden ist. Joachim Kahl ist
Mitglied im Humanistischen Verband.
aus 'diesseits' 1/00
Aufklärung, die nicht ein-leuchtet
und dann
er-leuchtet, bleibt aufgesetzt und äußerlich.
Joachim Kahl
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