Markt der Menschlichkeit

Erst der Mensch - dann der Markt

Dr. Lothar Späth

Rede anläßlich der Verleihung des Zukunftspreises der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA)
am 9. Juni 2001 in Bonn auf der 29. Bundestagung. 

 

Wer CDA so erlebt, wie ich es erlebt habe, als ich zwei Stunden durch die Ausstellungen gegangen bin, der hat den Eindruck, dass die CDA auch das Recht hat, einen Zukunftspreis zu vergeben. Denn den kann nur jemand vergeben, der sich mehr mit der Zukunft als mit der Vergangenheit beschäftigt und das ist für die Union wichtig! Besonders gefreut hat mich, dass Horst Teltschik die Laudatio gehalten hat. Nicht nur, weil auch einem pietistisch geprägten Schwaben Lob gefällt - bei einem langen Leben in der Politik und in der Wirtschaft weiß man die Stunden des Lobes zu schätzen, da die Stunden der Kritik zwangsläufig vorher und nachher kommen. Ich habe auch gespürt, wie intensiv Sie sich nicht nur mit meinem Lebenslauf befasst haben. Einige Bemerkungen zwischen den Zeilen habe ich besonders sensibel aufgenommen, weil ich mich immer zu der Mannschaft gezählt habe, die sich im fröhlichen Wettbewerb - parteipolitisch - befand. Ich habe versucht, zu beeinflussen, wie es im Osten weiter gehen soll. Nicht ohne Wirkung. Aber auch an den Folgen danach habe ich gearbeitet.

Für mich hat es auch eine Symbolik, wenn ich diesen Preis von jemandem erhalte, der ein Repräsentant dieses Umbruchs in einer ganz besonderen Weise ist. Lieber Rainer Eppelmann, das will ich an dieser Stelle auch einmal sagen: Es war gut, dass der Wechsel zwischen Ost und West bei der CDA so erfolgte, als ob dies normal wäre - denn das muss auch etwas Normales werden! Aber es war gut, dass es diese Phase gab und es ist gut, dass es den Rainer Eppelmann - mit der ihm eigenen und offenen Art Dinge anzugehen -gibt. Es ist zwar noch viel an Brücken zwischen den neuen und den alten Bundesländern zu ordnen und manchmal habe ich das Gefühl, es ist in den letzten Jahren nicht so schnell gegangen mit der inneren Gemeinschaft der Deutschen. Ich war verzweifelt, wenn ich im Osten immer gehört habe, es geht nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben, und meine Schwaben dann gesagt haben: " Mir machen nix mehr, jetzt reicht es".

Und deshalb lassen sie mich noch mal herzlichen Dank sagen, auch dass diese Ehrung in diesem Saal erfolgt, zu dem ich eine gewisse Distanz gewonnen habe. Aber bei den vielen Neubauten ist ein Gebäude geblieben , dass wirtschaftlich für interessante Begegnungen genutzt werden kann. Diese neue Bestimmung des Saales finde ich gut. Da es ja Zukunftspreis heißt und nicht Vergangenheitspreis, möchte ich nicht über die Geschichte der Jenoptik reden. Auch wenn die Geschichte der Jenoptik inzwischen schon zehn Jahre alt ist, und das zählt im Osten bekanntlich doppelt. Es ist mir wichtiger an diesem Platz, ein paar Bemerkungen zu den Zukunftsthemen zu machen! Ganz einfach, weil ich eine Sorge habe. Die Ehrungen häufen sich und dann kommt das Gefühl auf, dass jetzt die Phase einsetzt, wo man bei der nächsten Veranstaltung nicht mehr selbst auftreten muss. Manfred Rommel hat es in seiner eigenen Art bei Verabschiedungszeremonien gesagt, dass ihn diese Sorge beschleiche. Ängstigen sie sich nicht, denn mich beschleicht sie noch nicht, und ich fühle mich gesund und munter. Ich möchte noch viel bewegen.

Deshalb rede ich darüber, was mich bei dem Thema bewegt: Wo steht die CDU in der Zukunft? Ich finde es gut, dass sie mit einem Zukunftskongress an die Öffentlichkeit getreten ist, statt mit Personalquerelen. Es ist wichtig, dass wir bei dieser Suche mehr über die Menschen und ihre Bedürfnisse und Probleme reden. Denn nur, wenn die Menschen begreifen, dass wir ihre Probleme lösen wollen, werden wir wieder Mehrheiten bekommen. Mit dem Gefühl: Das sind die, die uns besser verstehen als andere. Dieser Wettbewerb muss ein Wettbewerb um die Menschen sein, und an dem Punkt akzeptiere ich den Satz: "Der Mensch kommt zuerst - und dann der Markt." Horst Teltschik hat diesen Satz etwas relativiert, und ich will ihn weiter relativieren, indem ich sage: Wir müssen lernen, dass der Markt eine Funktion ist und der Mensch um Gotteswillen nicht in Wettbewerb mit Funktionen gerät. Wenn ich von Europa rede, dann liebe ich nicht den Binnenmarkt. Wer liebt schon einen Binnenmarkt? Dann will ich wissen, ob es uns gelingt, die Europäer zusammenzuführen und sicherzustellen, dass dieses kulturelle Europa in einem freien demokratischen System zusammenwächst. Es ist eine Frage, ob unsere Kinder und Enkel in einem friedlichen gemeinsamen Europa leben oder ob sich die blutige Jahrhundertsituation wiederholt, unter der unsere Eltern und Großeltern gelitten haben. Wenn wir heute von Globalisierung reden, dann ist dies natürlich ein Faktum. Wir können jetzt die Zuwanderung Osteuropas stoppen oder nicht, wir haben fundamentale Entwicklungen in Europa geleistet. Bedenken Sie mal, dass wir eine Verordnung übif die Beschränkung der Einfuhr polnischer Himbeeren  haben  und gleichzeitig fünfhunderttausend Arbeitslizenzen ausgeben für Polen, die bei uns zum Spargelstechen und Himbeeren ernten kommen. Die dürfen aber nicht die Eigenen mitbringen, weil sonst der europäische Markt gefährdet wird. Was glauben sie, wie lange wir den Menschen in Europa solche Geschichten erzählen können? Das werden sie uns nicht abnehmen. Wir werden lernen müssen, dass unsere Grenzen durch die Globalisierung zu einer gewissen Offenheit gezwungen werden.

Der ungarischer Finanzminister hat vor wenigen Tagen in Budapest gesagt: "Du brauchst dich nicht so furchtbar über die Frage aufregen, wie ihr die Zuwanderung regelt, denn die Arbeitslosigkeit in Ungarn zwischen der österreichischen Grenze und Budapest ist weg. Die deutsche Autoindustrie hat das Problem für uns gelöst. Die sitzt dort überall. Unser Problem ist von Budapest bis an die ukrainische Grenze". Mit anderen Worten, wir müssen überlegen, wie wir gemeinsam die Probleme lösen können. Eine reine Abwehrhaltung hilft uns nicht. Sonst ist der einzige Unterschied, dass zwar wenige Polen und wenige Ungarn und Tschechen rein kommen, dass aber unsere Betriebe dorthin auswandern. Hier helfen keine Heilslehren. Die Globalisierung ist nicht etwas was wir aufhalten können, sie ist aber auch nicht etwas, was wir glauben sollten. Sie findet einfach statt, und dies hat gewaltige Folgen.

Nehmen wir doch mal dieses einfache Beispiel. Die Bundesregierung hat mit wirklicher Überzeugung beschlossen: Das Wachstum beträgt 2,8 %. Das ist die legitimierte deutsche Regierung, die so etwas beschließen kann, da trete ich immer für ein. Dann hat sie gesagt: "Aber die folgen nicht". Sie können niemanden mit diesem Beschluss zwingen, sich staatsbürgerlich zu den 2,8 Prozent durchzuringen. Die Leute würden es ja gerne glauben. Aber, entweder wir haben die 2,8 Prozent oder wir haben die 2,0 Prozent, was sehr viel wahrscheinlicher ist; vielleicht sind es sogar auch nur 1,8. Entsetzlich der Gedanke, dass aus dem Beschluss der Bundesregierung nichts wird. Und wenn sie das weiterspinnen, dann habe ich noch ein viel dramatischeres Beispiel: Vor einem Jahr war die große Weltkonferenz in Okinawa. Mit Clinton, mit Putin, Schröder und Chirak. Der Aufwand müsste etwa 500 Millionen gewesen sein - einschließlich Sicherheit. Und was haben die beschlossen? Wissen sie es? Viele sagen: "Die haben nichts beschlossen". Das ist unehrlich, denn sie haben eine Grundsatzerklärung abgegeben. Horst Teltschik weiß, wie solche Grundsatzerklärungen formuliert werden. Da stand drin, dass es den Armen auf der Welt besser gehen soll, ohne dass die Reichen davon tangiert werden.

Interessanter Weise hat sich der Dow Jones an diesem Tag nicht bewegt, der Dax auch nicht und selbst der Nikkei, ganz in der Nähe von Okinawa, zeigte keine Bewegung. Wenn der Herr Greenspan, den kein Mensch in der Welt je gewählt hat, um 17.00 Uhr in Washington einen Journalisten anruft - Aufwand 8,5 Cent für ein Ortsgespräch - und der dann hustet und sagt: "Ich denke über den Zins nach", dann haben sie noch 40 Sekunden Zeit, bevor die Finanzmärkte verrückt spielen. Das ist Globalisierung! Darüber müssen wir nachdenken, dass wir diese Wettbewerbswelt, diese Finanzwelt nicht mehr ordnen können. Selbst so geniale Entwürfe, wie sie Oskar Lafontaine mal hatte, reichen dafür nicht aus. Wir können nicht zuerst die Welt ordnen und uns dann bewegen. Die Welt gibt uns nicht die Zeit. Deshalb wird die Politik sich mit der Frage befassen müssen, was sie nicht beeinflussen kann. Sie kann nicht beeinflussen, dass VW in China Autos produziert, bei Stundenlöhnen unter einer Mark in Putong bei Shanghai und trotzdem in Wolfsburg 44 Mark, einschließlich Nebenkosten, aufwenden muss. Jetzt können sie keinen Weltautolohn machen, so mit 22,50 DM. Mit einem Chinesen wäre das zur Zeit möglich. In Wolfsburg habe ich mal einen Vortrag gehalten, die konnten sich mit dem Gedanken überhaupt nicht anfreunden. Wir müssen erkennen: Die Globalisierung bringt für uns das Problem, dass die anderen besser werden, und das wir Autos der Luxusklasse aus Deutschland exportieren und chinesische Autos eines Tages einführen, aber nur, wenn sie jemand kauft. Ich bin nur nicht sicher, ob alle Deutschen auf Lebenszeit versprechen, nie ein chinesisches Auto zu kaufen, wenn es funktioniert und billig ist. Deshalb dürfen wir nicht glauben, wir könnten diesem Wettbewerb entgehen. Wir müssen die gesellschaftspolitischen Fragen lösen, dass wir in einem der reichsten Länder der Welt leben und einen Wohlfahrtsanspruch haben, den wir jeden Tag neu verdienen müssen. Deshalb ist die Idee - Wir müssen die Löhne senken - in Deutschland Gott sei dank weg. Wir werden sie nicht senken. Wir werden Phasen haben, wo Reallöhne nicht mehr steigen, damit kann man sich vorübergehend arrangieren, aber das Ziel muss Wachstum sein. Wachstum ist eine Funktion des Wettbewerbs. Den brauchen wir nicht wegen dem Markt, sondern weil die Menschen den Vorteil des Wachstums in Anspruch nehmen. Und zwar alle. Denn wenn es nichts zu verteilen gibt, ist es schwierig das gerecht zu machen.

Gegen alle politischen Behauptungen werden auch die Lohnnebenkosten in den nächsten 30 Jahren in Deutschland nicht sinken. Mein Rat: Beschäftigt euch als CDA mit der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, im Sinne der Zukunftsvorsorge! Das ist euer Thema. Lasst euch das nicht wegnehmen!

Jetzt geht es politisch darum, wie wir unsere Gesellschaft gestalten. Deshalb bin ich so skeptisch, wenn die Politik den Eindruck zu erwecken versucht, wir könnten die Lohnnebenkosten senken. Das ist ein Argument, mit dem man die Wirtschaft beruhigt. Aber sie können sie nicht senken. Sie können auch nicht die Rentenkosten senken in einer alternden Gesellschaft. Sie können nicht bei einer älter werdenden Bevölkerung einfach die Lohnnebenkosten senken, weil sie sonst eine Absenkung der Renten durchsetzen müssten. Oder sie senken die Beiträge und die Renten, um dann die neuen Rentnerjahrgänge zusätzlich zu bedienen.

Jede Lösung, die Menschen täuscht und nicht verdeutlicht, dass wir Deutschen die Rentenversicherung sanieren müssen und die Meinung: "Die Lohnnebenkosten sinken und die höheren Renten werden trotzdem bezahlt" ist unehrlich. Ehrlich ist: "Der Steueranteil wird höher, die Beiträge steigen oder die Renten sinken". Doch dass jetzt die Ökosteuer damit vermischt wird und ich einen Teil meiner Rentenbeiträge an der Tankstelle bezahle, ist auch keine Lösung. Denn, wenn sie das deutsche Rentenrecht konsequent anwenden, dann heißt es: Die Rente ist abhängig von der Höhe der Beiträge. Dann muss also jede Familie am Wochenende auf die Autobahn, um die Altersversorgung zu sichern. Wenn aber alle wieder auf die Autobahn gehen, dann haben wir kein Geld für die Autobahn. Wollen wir dann aus der Pflegeversicherung Bauzuschüsse für den Straßenverkehr finanzieren?

Was ich damit aufzeigen will: Es hilft nicht, wenn sie die Leute täuschen und das Anliegen Ökologie, für das ich etwas übrig habe, mit Lohnnebenkosten verbinden und so die Leute durcheinanderbringen. Wir geben 27 Milliarden für Verkehrsinvestitionen aus und sammeln 87 Milliarden bei den Verkehrsteilnehmern ein. Ist doch logisch, dass die Leute wütend werden. Wenn ich an der Tankstelle sage: "Du musst viel mehr fürs Benzin zahlen aber dafür bekommst du den dritten Streifen an die Autobahn oder eine tolle Zugverbindung im Nahverkehr", dann lässt er mit sich reden. Wenn ich aber sage: "Es ist wegen deiner Rente", dann sagt der: "Ich bin Beamter, ich will eine andere Tankstelle".

Oder nehmen sie die Gesundheitsreform. Sie können 10 Reformen machen. Das Gesundheitswesen in Deutschland wird teurer, weil die Menschen älter werden. Jetzt machen wir Biotechnologiewettbewerbe, um junge Unternehmen anzusiedeln. Was machen diese Unternehmen? Sie entwickeln neue Medikamente, die das Alter schöner und länger machen, und das sehr erfolgreich. Sollen wir ihnen sagen, sie dürfen damit keine Arbeitsplätze schaffen, weil damit unsere Lohnnebenkosten steigen?

Das können sie schon in ihrer Familie beobachten. Es ist eben Realität, wenn die 80 jährigen zahlreicher werden und die 18-jährigen weniger. Der 70-jährige mit einem Oberschenkelhalsbruch, der die Treppe heruntergefallen ist, bekam früher zwei Schrauben in der Chirurgie und dann einen Stock in die Hand gedrückt mit den Worten: "Opa, das hält für die paar Jährchen". Der Opa war fröhlich, weil der Arzt "ein paar Jährchen" gesagt hat. Heute erhält er zwei Implantate, völlig neue Gelenke. Machen sie mal einen Kostenvergleich. Oder der Patient, der nach dem zweiten Herzanfall früher tot war. Der bekommt heute sechs Bypässe und meldet sich mit 70 Jahren zum Seniorensport an. Und je älter ich werde, um so sympathischer wird mir das Ganze. Den Menschen zu erzählen, wir senken die Lohnnebenkosten, ist bei genauer Betrachtung der dieser Entwicklung unehrlich. Wir müssen sagen: "Es gibt weniger Mallorca und mehr Gesundheitskosten."

Bei der Globalisierung werden alle Arbeitsplätze bedroht. Doch am wenigsten diejenigen, die mit Innovativen und neuen Produkten für die Weltmärkte Arbeitsplätze bei uns schaffen. Da schließt sich der Kreis. Nicht bei der Kostendiskussion, sondern bei der Innovation. Die Zahl der Arbeitsplätze nimmt ab, nicht weil wir weniger produzieren, sondern weil wir mehr Produkte mit weniger Leuten produzieren. Die deutsche Autoindustrie ist wettbewerbsfähig auf dem Weltmarkt, weil wir gelernt haben mit 20 % weniger Menschen 20 % mehr Autos zu produzieren. Jetzt überlegen sie, wie sie 40 % mehr Autos mit 40 % weniger Leuten produzieren können. Jeder mittelständische Maschinenbauer, den ich frage, was er in dieser Situation macht, sagt: " Ich versuche, mit weniger Leuten mehr zu produzieren." Diese Produktivität ist unser zentrales Problem bei den älteren Arbeitnehmern. Wir haben kompetente, erfahrene ältere Arbeitnehmer, die durch diese Produktivitätssteigerung immer früher aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt werden. Ich bin für alles aufgeschlossen, nur nicht für die Idee, sie würden wieder a l l e in den Arbeitsmarkt integriert. Früher haben die Älteren ihre Erfahrung in den Betrieb mit einbringen können. Die mangelnde Muskelkraft wurde durch Lebenserfahrung ersetzt. Das hat Ruhe im Betrieb gebracht. Wenn die Jungen aufgeregt waren hat der sie beruhigt und gesagt: "Unser Chef spinnt heute weil sein Fußballverein verloren hat. Schaut euch die Ergebnisse von Schalke an." Das war eine wichtige soziale Rolle und die wurde von allen anerkannt.

Das Problem ist, dass sie in dieser modernen Informationsgesellschaft mit dieser Lebenserfahrung so wenig anfangen können. Spielen sie mal mit ihren Kindern oder Enkeln 20 Minuten Videospiele - dann haben sie eine Übersicht über die Qualität ihrer Lebenserfahrung und deren Wert. Meine Enkel sagen dann: "Opa, wir kommen noch mal vorbei und erklären es Dir. Aber jetzt nicht, jetzt wird es spannend." Das ist auch das soziale Problem unserer älteren Arbeitslosen. Der Opa, der früher mit dem Werkzeugkasten kam, war der Liebling der ganzen Familie. Heute muss er warten, bis der Enkel ihm das Videogerät neu einstellt.

Ich habe mich bei dem Rundgang an einem Stand besonders lange aufgehalten, wo uns der Vertreter eines Wohnungsunternehmens erläutert hat, wie er mit den älteren Mietern, die entweder arbeitslos sind oder schon ausgeschieden, freiwillige Dienste organisierte. Und diese Leute leben plötzlich auf, weil sie eine Aufgabe haben. Das bekomme ich nicht tariflich geregelt. Übrigens, auch die Jungen werden mal ältere Arbeitnehmer sein und unter Umständen in der Informationsgesellschaft so schnell verbraucht, dass sie schon mit 45 Jahren Probleme bekommen. Sollen die alle spazieren gehen oder können wir deren soziale Kompetenz nicht in der Nachbarschaftsbetreuung einsetzen?

Gehen sie mal auf einen Sportplatz. Inzwischen haben wir ja alles profitmäßig organisiert. Früher wurde das alles ehrenamtlich für ein paar Groschen gemacht. Heute haben wir keine Sportclubs, sondern Fitnesscenter. Wenn wir die Älteren wieder einsetzen würden, wo ihre starken sozialen Fähigkeiten liegen, in Lebenserfahrung, Organisation und Betreuung, dann könnten wir unsere Gesellschaft menschlicher machen, indem wir Brücken bauen.

Um es offen zu sagen: Mich interessiert bei der 68er Diskussion nicht, mit welchen Polizisten sich der Herr Fischer vor 30 Jahren geprügelt hat. Mich interessiert, warum die 68er nicht die Verantwortung dafür übernehmen wollen, dass wir in eine Entwicklung hinein geraten sind, bei der wir an unseren Universitäten und Schulen geglaubt haben, wir müssten nur noch Schiedsrichter aufziehen und wir jetzt einen so eklatanten Stürmermangel haben. Das ist unser Problem. Vor kurzem hat mir ein Freund ganz aufgeregt erklärt: "Weißt Du eigentlich, das die Hälfte aller Bundesligaspieler Ausländer sind?" Ich habe nachgerechnet : "Kann sein." Da frage ich: "Wie sieht es mit Schiedsrichtern aus?" Da sagt er: "Haben wir noch genug". Sollen wir nun mit Greencards Stürmer einführen, damit die Schiedsrichter was zu tun haben? Und deshalb ist die Frage: Wie unternehmerisch ist unsere junge Generation? Umfragen an Universitäten zeigen, dass wieder mehr Menschen unternehmerisch tätig werden wollen. Und das ist gut so. Denn wenn wir nicht neue Produkte, neue Verfahren, neue Unternehmen haben, womit wollen wir den Anspruch eines modernen Industrielandes mit seinem Wohlstand finanzieren?

Und da sind wir wieder bei der Weltwirtschaft. Wir können nicht erwarten, dass die Chinesen die nächsten 30 Jahre mit einer Mark Stundenlohn zufrieden sind. Wir können nicht erwarten, dass die Tschechen und die Polen bei ihrer Begabung, zum Beispiel im Maschinenbau, sich entschließen, auf Dauer für 4,80 Mark zu arbeiten und wir sie dann nur noch aus der EU raushalten müssen, damit sie unseren Wettbewerb nicht stören. Der Druck ist da und der Wettbewerb kommt. Die ganze Welt wird gegen uns konkurrieren. Entweder wir sind besser oder es geht uns schlechter! Ich glaube, dass wir alle Voraussetzungen haben. Aber dann müssen wir auch risikobereit in die Zukunft gehen. Uns fehlen 20 Jahre, in denen wir glaubten, es gäbe risikofreien Fortschritt. Den gibt es nicht. Nur ein Beispiel: Transrapid. Sagen sie mir eine Nation der Welt, die für zwei Milliarden Mark ein umweltfreundliches und technisch revolutionäres Massenverkehrsmittel entwickelt und es dann jahrelang dort, wo niemand wohnt, auf und ab fahren lässt, weil sie nicht den Mut hat, es einzusetzen. Jetzt nehmen es die Chinesen. Aber die zahlen uns nicht Lizenzen für unsere Ingenieurleistung, sondern bekommen noch 300 Millionen DM Steuergelder, damit sie den Transrapid nehmen. Wir trauen uns nach 10 Jahren Planung nicht, den Transrapid zwischen Hamburg und Berlin fahren zu lassen. Jetzt sagen die Chinesen ganz listig: "Wenn ihr uns die Technik schenkt - dann dürft ihr auch mal die Strecke Shanghai - Peking bauen - 50 Milliarden". Und die Deutschen sind begeistert von der Idee. Sehen sie, da machen wir später Rentnerausflüge, damit wir mit dem deutschen Transrapid mal eine Strecke zwischen Shanghai und Peking fahren können. Wahrscheinlich verdienen die Chinesen dann auch noch an den Flugreisen von Frankfurt nach Shanghai.

Zurück zu Europa, dass nicht nur eine Veranstaltung des Binnenmarktes, in den ich mich verlieben soll, sein darf. Im europäischen Flugverkehr stehen nicht genügend Start- und Landebahnen zur Verfügung, weil wir soviel internationalen Flugverkehr haben. Dabei wissen wir, dass wir in 30 Jahren den Transrapid von Paris über Frankfurt nach Moskau und von Kopenhagen über Frankfurt nach Sizilien brauchen. Da wäre die Idee, dass wir in Europa ein Verkehrswegesystem schaffen, worüber wir auch Güter transportieren und mit dem es mehr Wettbewerb auf der Strecke gibt. Stellen sie sich ein 3-Milliarden-Programm vor. Da sagen die Leute: "Das geht nicht". Wir haben im letzten Jahrzehnt 1,5 Billion Mark in den Aufbau Ost investiert und manche haben nicht geglaubt, dass wir das überleben. Aber wer hindert uns, statt einer kleinkarierten Maul-und-Klauenseuche-Diskussion im europäischen Parlament Zukunftsthemen aufzugreifen?

Ich bin in einem Dorf aufgewachsen - da gab es alle drei Jahre Maul- und Klauenseuche. Wenn ich mir überlege, was wir im letzten halben Jahr zu diesem Thema in Deutschland angestellt haben, dann glaube ich, dass unser Verkehrsproblem bedeutender ist. Lasst uns ein 300 Milliarden Programm mit der EU auflegen für ein Transrapidsystem und stellen sie sich vor, was das wirtschaftlich bedeutet an Arbeitsplätzen und Technologie. Die ganze Welt kann lernen, wie man schnelle Schienensysteme mit modernen Luftsystemen verbindet - und das im dicht besiedelten Europa. Da kämen die Amerikaner nicht mit, weil sie solche dichtbesiedelten Gebiete kaum haben. Die Asiaten werden lange brauchen, dann werden sie unsere Systeme kaufen. Oder lasst uns Satelliten aufstellen, worüber in Zukunft die Logistiksysteme laufen. Das GPS System, das so was heute schon kann, wird von der amerikanischen Marine betrieben. Von der hängen wir heute ab. Dabei könnten wir Europa ein ziviles System bauen. Das können die Asiaten noch nicht - aber sie könnten es von uns kaufen.

Das Hauptprodukt von Jenoptik sind Chipfabriken - keine Kartoffeln, sondern Halbleiter. Wir bauen in Singapur die achte, in Taiwan die zwölfte Fabrik. Wir haben in Malaysia im Urwald gerade die erste gebaut, wir bauen in Shanghai zwei gleichzeitig - mitten in der Halbleiterkrise. Wir müssen überlegen, wenn 1,3 Milliarden Chinesen Konsumansprüche stellen, ob dann die Handys bei uns gebaut werden mit Chips Ws Asien und dann zurücktransportiert werden. Oder ob die Zeit kommt, wo die alles in Asien herstellen und mit einer Monatsproduktion Europa befriedigen können. Da muss ich doch überlegen, was wir besser können? Verkehrsysteme, Ingenieursysteme, intelligente Technik - darüber möchte ich mit den Europäern diskutieren, um Zukunftschancen wahrzunehmen.

Was wir brauchen, ist eine Aufbruchstimmung in Europa. Wir haben gehofft, wir werden stärker als die Amerikaner, der Euro wird stärker und der Dollar schwächer, weil jetzt die europäische Wirtschaft den Weltmarkt übernimmt. Inzwischen glaubt in Amerika niemand mehr, dass es im Herbst ein schwächeres Wachstum der US Wirtschaft gibt. Und warum? Nicht weil die Amerikaner besser sind - sondern weil sie an die Zukunft glauben. Ich war gerade 10 Tage in den USA und habe mit Leuten über die selben Themen gesprochen - die Halbleiterindustrie - wie in Europa. Der Unterschied ist immer nur der, das die Amerikaner sagen: "Es ist beschissen, ganz beschissen, aber im Oktober geht es wieder los". Ich habe nicht einen gefunden, der mir begründen konnte, warum es im Oktober wieder los geht. Wenn ich mit Deutschen und Europäern rede, sagen die: "Es wird ganz schlimm, und noch viel schlimmer im Herbst". Und ich sage ihnen, was passiert: Im Oktober geht es in Amerika tatsächlich los, weil alle daran glauben. Und bei uns geht es tatsächlich schlechter, weil alle meinen, dass es schlechter wird. Von Ludwig Erhard stammt die These, dass die Hälfte der Wirtschaft Psychologie ist. Und die Hälfte von Psychologie ist Optimismus.

Das Problem der gegenwärtigen Regierung ist, dass der tiefe Massenpessimismus inzwischen so organisiert ist, dass selbst persönlicher Optimismus keinen Erfolg mehr hat, gegenüber diesem offiziellem Pessimismus. Wenn wir das nicht überwinden, dann werden wir wirkliche Probleme bekommen. Herr Schröder hat ein Problem und das sind seine Fußtruppen - leider im Moment nicht die Opposition. Was wir brauchen, sind Zukunftsentwürfe. Was glauben sie, wie fasziniert eine junge Generation über Europa nachdenkt, wenn wir so ein Schienensystem vorschlagen? Was glauben sie, wie schnell die Stimmung im Osten umschlägt?

Vier Überschriften las ich letzte Woche in der Tageszeitung:

Erste: Der Numerus Clausus muss in der Informatik eingeführt werden, weil die Zahl
           der Anmeldungen so groß ist, dass die Universitäten dies nicht verkraften.

Zweite: Wir brauchen mehr Greencards für Informatiker!

Dritte: Im Osten laufen die jungen Leute weg!

Vierte: Die ostdeutschen Bundesländer verlangen mindestens 100 Milliarden zusätzlich!
 

Da habe ich überlegt, mit einer Milliarde kann man 25 Fachhochschulen für Informatiker á 40 Millionen bauen. Jetzt nehmen wir doch mal die erste Milliarde und bauen die 25 Hochschulen, heben den Numerus Clausus auf und sagen: "Wer im Westen keinen Studienplatz bekommt, geht in den Osten." Dann kommen die jungen Softwareunternehmen ganz schnell in den Osten, denn die gehen dorthin, wo die Leute ausgebildet werden. Und damit höre ich mittendrin auf, weil das alles nicht mehr mein Geschäft ist, sondern ich führe deshalb begeistert ein Unternehmen, weil ich in einer Stadt lebe, in der ich vor 10 Jahren eigenhändig 16.000 Entlassungen ausgesprochen habe. Und heute habe ich zwei Probleme, die ich mir nie hätte träumen lassen:

Erstens, die Gewerbeflächen gehen uns in Jena aus. Und Zweitens: Ich bekomme keine Leute mehr. Der einzige Engpass unserer Expansion in Jena sind zur Zeit Menschen. Womit wir wieder beim Thema wären: Wie wichtig der Mensch ist. Kapital ist überhaupt kein Thema. Ich bekomme aus der ganzen Welt Kapitalangebote. Soviel Kapital kann ich überhaupt nicht gebrauchen. Die Zeit ist vorbei, wo Arbeit gegen Kapital steht. In Deutschland haben sie 14 Billionen DM Privatvermögen und jedes Jahr 300 Milliarden Zinseinnahmen, leider für Leute, die den Zins nicht brauchen. Jetzt brauchen wir intelligente Reichtumsvernichtungskonzepte für die Älteren. Das sind Dienstleistungen. Wo sollen die Alten ihr Geld ausgeben? Das müssen wir ihnen klar machen: Nicht der Scheck, den sie in die Gruft mitnehmen, erhält ihren Namen, sondern der, der in einen Kindergarten oder in eine Sozialstation gesteckt wird. Kapital ist nicht mehr das Thema. Unser Thema sind Menschen und Talente. Wer den Wohlstand sichern will, der muss in die Qualifizierung von Menschen investieren. Markt und Mensch stehen nicht gegeneinander. Auch im Osten geht es um eine Bildungsinfrastruktur, um eine Forschungsinfrastruktur und um Mut zur Zukunft.

Wir haben allen Grund, unser Wertesystem zu schätzen, wir brauchen nicht nach Amerika zu sehen, höchstens bei der Flexibilität. Doch ich will nicht den Armutsbegriff der USA in Europa. Die Französische Revolution und die christliche Soziallehre haben die Brüderlichkeit und die Solidarität anders gedeutet wie Armutsversorgung. Auch diese Menschen sollen am Standard der Gesamtgesellschaft teilhaben. Aber das geht nur, wenn diejenigen, die etwas leisten können, dies auch wirklich tun. Solidarität heißt, dass derjenige, der etwas leisten kann, mehr schafft, als er selber braucht, um auch dem Schwachen zu helfen. Manchmal habe ich das Gefühl, wir leben in einer Gesellschaft, in der unter Solidarität viele nur noch verstehen, dass die Starken nichts mehr machen dürfen, damit sich die Schwachen nicht so schlecht fühlen. Wir brauchen die Leistungsgesellschaft und die Solidarität. Beides hängt eng zusammen. Und wenn wir nicht die Erfolgsgesellschaft haben, dann haben wir auch keine soziale Kapazität. Ludwig Erhard konnte die dynamische Sozialpolitik nur einführen, weil wir eine noch dynamischere Wirtschaft hatten. Wenn aber die Wirtschaft nicht mehr wächst, dann können wir auch nicht die Sozialpolitik dynamisch wachsen lassen. Das sind die zwei Seiten der Medaille. Wer es gut mit den Menschen meint, der muss ein soziales Gefühl haben, aber gleichzeitig muss er die Leistungsgefühle der Menschen ausleben lassen, damit aus der Summe der Leistungen die Kraft kommt, mit der Solidarität in einer Wohlstandsgesellschaft möglich ist; auch für die Frage der persönlichen Verantwortung zur Vorsorge für das Alter, der Selbstverantwortung aber auch der Hilfe zur Selbsthilfe.

Oder nehmen sie den Standpunkt der Gerechtigkeit. Das ist ein zentraler Punkt unserer Wertvorstellungen, der christlichen Gesellschaftslehre und der Union. Wir brauchen nie mit der FDP um die größte Liberalität kämpfen. Ich bin liberal, aber nicht ohne Wertansatz. Nur die Wirtschaft allein ist kein Programm der CDU. Die Volkspartei CDU wird Wahlen nicht mehr gewinnen, wenn sie nicht die beiden Elemente ausbalanciert und mit der Brücke eines christlichen Menschenbildes zusammenhält. Wir brauchen tausend Reformen, wir müssen unsere gesellschaftlichen Konzepte fortschreiben, doch wir dürfen nicht unsere Werte verändern. Das darf man nicht verwechseln. Aber diese Wertvorstellungen - die eine christlich-demokratische Politik hat - reichen für all diese Reformen. Dazu gehört auch das Spannungsverhältnis, dass in der Volkspartei CDU immer war. Das halten wir aus. Wir müssen nur aufpassen, das wir nicht zu sehr mit uns selbst beschäftigt sind, sondern wieder mehr mit der Zukunft. Wir müssen unseren politischen Wettbewerbern die Zukunftsideen vorgeben, nicht wegnehmen. Und wir müssen aufpassen, das die nicht die Überschriften machen, während wir die Arbeitsprozesse entwickeln. Es gehört auch zur Mediengesellschaft, die richtigen Überschriften zu finden.

In diesem Sinne nochmals herzlichen Dank für diesen Zukunftspreis! Der CDA, der CDU und den Kräften, die Wertvorstellungen entwickeln für eine moderne deutsche Zukunft in Europa, wünsche ich viel Glück für die Zukunft - und so verstehe ich den Zukunftspreis.

 

Solidarität heißt, dass derjenige, der etwas leisten kann, mehr schafft,
als er selber braucht, um auch dem Schwachen zu helfen.

 
Lothar Späth

 
kurzer Text zum Thema Werte
 


 
Mit freundlichen Empfehlungen
 
Humanistische AKTION
 
8/2001
 


 
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Aktualisiert am 06.07.02