Auf der Suche nach einer zukunftsfähigen Wirtschaftsform:

Fundort Mondragón

Kooperatives Wirtschaftssystem - eine Region auf dem Weg aus der Zwei-Klassengesellschaft

von Hans Nerge

Keiner soll Sklave oder Herr eines anderen sein.
(Don José Maria)

 
Die Kleinstadt Mondragón, auf baskisch "Arrasate" genannt, liegt eingebettet in ein enges Tal im Norden Spaniens, umgeben von den steilen Hügeln und Bergen des Baskenlandes.

Im Mittelalter entstand in dieser Region eine besondere Tradition der "Brüderlichkeit", die auch heute noch die Lebensanschauung der Menschen bestimmt. Daraus hat sich eine Kultur des Gruppenlebens entwickelt, die sich in der auffallenden Fähigkeit der Basken zu Kooperation und Fairneß zeigt. Demokratie, Selbstbestimmung und Solidarität sind heute stark verwurzelte Werte in dieser Gesellschaft.

Unter diesen Bedingungen ist seit Mitte dieses Jahrhunderts etwas Einzigartiges entstanden: ein prosperierendes Wirtschaftssystem auf der Grundlage von Demokratie und Kooperation. Seine Basis ist die enge regionale Zusammenarbeit einer größeren Zahl von gemeinschaftlich organisierten Betrieben. Deren Kennzeichen sind der persönliche Besitzanteil der einzelnen Mitglieder und das gleiche Stimmrecht aller in der Generalversammlung. Im Unterschied zu unseren Genossenschaften produzieren die Kooperativen jedoch vorwiegend Industriegüter - und sie machen Gewinne wie andere Unternehmen auch.

Durch ihre bisher unerreicht enge Vernetzung hat sich die Kooperativengemeinschaft vor den sozialökonomischen Einwirkungen des sie umgebenden kapitalistischen Systems in gewissem Maße geschützt. Sie vollzieht daher eine relativ ungestörte sozialökonomische Entwicklung. Eine Entwicklung, die bisher ohne Beispiel ist und nicht vergleichbar mit dem, was wir von den Genossenschaften und selbstverwalteten Betrieben bei uns kennen.

Nicht geschützt hat sie sich jedoch vor dem freien Markt der konkurrierenden Produkte aus den kapitalistischen Betrieben. Die Folge ist, daß die Kooperativen ebenso effizient produzieren wie ihre kapitalistischen Konkurrenten - oder sogar effizienter. Die Folge ist aber auch, daß sie von rezessiven Entwicklungen der kapitalistischen Wirtschaft nicht verschont bleiben.

Das kooperative Wirtschaftssystem in der Region um Mondragón wächst stetig. Im Jahre 1995 war es bereits auf etwa 28 Tsd Mitglieder angewachsen. Es bestand zu diesem Zeitpunkt aus einem Netzwerk von ca. 100 Betrieben verschiedener Branchen, von denen der größte mehr als 2000 Beschäftigte hat. Außerdem gab es bereits einige Fabrikationsstätten, Niederlassungen und Verkaufsbüros in Nord- und Südamerika, Afrika, Fernost und Europa. Der Umsatz aller Betriebe lag in diesem Jahr bei 4,7 Mrd US-Dollar, das gesamte Anlagevermögen betrug etwa 10 Mrd US-Dollar.

Die Fabriken produzieren eine breite Palette von Erzeugnissen auf hohem technischen Niveau, das qualifizierte Arbeitskräfte erfordert. Die Produktpalette beinhaltet elektronische Komponenten für die Fernseh- und Automationstechnik, Werkzeugmaschinen für die Metall-, Kunststoff- und Holzbearbeitung, Industrieausrüstungen wie Roboter für die Montage, Transferstraßen für den Automobilbau, Eisenbahnwaggons, Rolltreppen, Aufzüge, Klimaanlagen, und Haushaltgeräte wie Mikrowellenherde, Gefrierschränke, Spülmaschinen, Waschmaschinen und Wäschetrockner. Darüber hinaus gibt es Metallgießerei-, Bau-, Schiffbau-, Agrar- und Konsumkooperativen. Ein erheblicher Teil der Industrieprodukte wird in die hochindustrialisierten Länder exportiert.

Dieses Buch beschreibt u.a. die besonderen Stärken der kooperativen Ökonomie, das sind ...

aus der Sicht der Arbeitenden:
 

  • die Sicherheit der Beschäftigung, die relativ egalitäre Einkommensverteilung, die volle Teilhabe am Eigentum des Produktivvermögens, die gleichberechtigte Teilnahme an den betrieblichen Entscheidungen und der kooperative Geist unter den Arbeitenden.

aus der Sicht der Ökonomen:
 

  • die hohe Produktivität, die Dynamik, die Transparenz, die effektive Kontrolle des Managements durch die Werktätigen und die straffe Entscheidungsstruktur der Betriebe und ihrer Vernetzung.

aus der Sicht der Kunden und Verbraucher:
 

  • die entsprechend ihrem Gebrauchsziel technisch, ökologisch bzw. biologisch hohe Qualität der Produkte. Hierfür haben die Kooperativen mehrere internationale Auszeichnungen erhalten.

Ein Grundsatz der Kooperativen heißt, 10% des Gewinns werden für gemeinnützige Zwecke ausgegeben. Die Mitglieder betrachten den erzielten Gewinn ihres Unternehmens nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Wohle aller. Ein weiterer Grundsatz heißt, es dürfen höchstens 10% der Belegschaft abhängig Beschäftigte sein. So kann der Gruppenegoismus der Teilhaber, wie er von manchen unserer Mitarbeitergesellschaften her bekannt ist, nicht entstehen.

Wenn möglich wird die Produktion in Gruppenarbeit ausgeführt. Die Arbeitsgruppen kommen ohne hierarchische Struktur aus, sie bestimmen ihre Aufgabenteilung und Arbeitsabläufe selbst und sind für das Ergebnis ihrer Arbeit auch selbst verantwortlich. Voraussetzung für die hierarchiefreie Gruppenarbeit ist jedoch die entwickelte Fähigkeit der Arbeitenden zur Kooperation. Die kooperative Arbeitsweise erscheint in den Augen des westlichen Unternehmers als "schlanke" Produktionsweise.

Die unter diesen Bedingungen mögliche relativ egalitäre Einkommensverteilung - das Verhältnis der größten Einkommen zu den kleinsten soll 3:1 nicht überschreiten - ist ein weiterer Konkurrenzvorteil gegenüber den kapitalistischen Unternehmen, denn überhöhte Managergehälter werden nicht gezahlt. Darüber hinaus beziehen die Kooperativen einen Teil ihrer ökonomischen Stärke aus der Tatsache, daß die erwirtschafteten Gewinne von den Mitgliedern in der Regel nicht abgezogen, sondern größtenteils für Investitionen weiter zur Verfügung gestellt werden.

Die Kooperation unter den Arbeitenden findet ihre Ergänzung in der engen Zusammenarbeit der Betriebe untereinander, der sogenannten Interkooperation. Sie findet statt innerhalb der Kooperativ-Komplexe, welche branchennahe Betriebe miteinander verbinden, und darüber hinaus innerhalb des gesamten Kooperativ-Verbundes. Der Kooperativ-Verbund bildet das tragende Gerüst des kooperativen Wirtschaftssystems. Seine Netzstruktur verbindet die Flexibilität des mittelständischen Unternehmens mit der Stabilität des Großbetriebes und bietet daher eine relativ sichere Zukunftsperspektive.

Die eigene Kreditkooperative, die eigene Kooperative für Sozialversicherung und die eigenen Ausbildungsstätten bieten die Voraussetzungen für eine relativ ungestörte Verwirklichung der kooperativen Grundsätze. Das polytechnische Ausbildungszentrum und das Trainingszentrum für Management bieten den jüngeren Menschen die Möglichkeit, kooperatives Denken und Handeln zu erproben.

Die ökonomischen Vorteile des Prinzips "Kooperation" zeigen sich bei der gegenseitigen Unterstützung der Kooperativen und im Assoziationsvertrag zwischen ihnen und der Kooperativbank. Sie zeigen sich auch in der engen Zusammenarbeit der Industriebetriebe mit dem kooperativen Zentrum für technische Forschung und Entwicklung und mit der Kooperative für Unternehmensberatung.

Die Verbreitung des kooperativen Bewußtseins in der Bevölkerung zeigt sich darin, daß ein großer Teil der Bürger sein Konto bei der Kreditkooperative unterhält. Hierdurch wird die Kooperativengemeinschaft vom kapitalistischen Finanzsystem unabhängig. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für ihre eigenständige Entwicklung.

Die Grundlage des wirtschaftlichen Erfolges der Kooperativen ist die Verantwortungsbereitschaft ihrer Mitglieder. Sie beruht neben dem Eigentum am Betrieb insbesondere auf den menschenwürdigen Arbeitsbedingungen, dem freien Zugang zu allen betrieblichen Informationen, der als gerecht empfundenen Bezahlung, der offenen Diskussion aller Probleme und der Transparenz der Entscheidungsvorgänge. Eine weitere Grundlage des Erfolges ist der kooperative Geist und die ungewöhnliche Kooperationsfähigkeit der Basken. Diese müssen wir erst noch erlernen.

In Mondragón sind Kapital und Arbeit in einer Hand. Hier gibt es nicht die Spaltung der Gesellschaft in Arbeitende und Besitzende. Hier ist das Kapital ein Instrument, das der Arbeit dient. Seine Hauptaufgabe ist die Entwicklung des Betriebes. Seine Rendite ist begrenzt und nicht an den Gewinn des Betriebes gekoppelt. Es ist Vorsorge getroffen, daß es sich nicht in den Händen weniger konzentrieren kann.

Dies konnte durch die Initiative des jungen Priesters Don José Maria mit tatkräftiger Unterstützung der Bevölkerung unter den ungeschützten Konkurrenzbedingungen der kapitalistischen Marktwirtschaft erreicht werden.

Die Ökonomie wird erst ökonomisch,
die Demokratie wird erst demokratisch,
wenn die Ökonomie demokratisch wird. 

Dieser Text beschreibt den Inhalt eines Buches, das vom Autor im Selbstverlag herausgegeben wurde. Nähere Informationen über Telefon 089-39 8247. - Das komplette Buch gibt es hier zu lesen: www.mausehaus.org?doc=mondragon


Inhalt      

1. Einleitung

2. Die Kooperativen
2.1. Die Industriebetriebe
2.2. Die Kooperativbank
2.3. Die Ausbildungseinrichtungen
2.4. Das Zentrum für Forschung und Entwicklung
2.5. Die Kooperative für Sozialversicherung
2.6. Die Bedeutung der unterstützenden Struktur

3. Die Entwicklungsgeschichte der kooperativen Ökonomie
3.1. Der Anfang mit Hilfe der Bürger
3.2. Die Ausbreitung in die Region

4. Die Organisationsstruktur der kooperativen Ökonomie
4.1. Die innerbetriebliche Struktur
4.2. Das Netzwerk der Kooperativen

5. Die Politik der kooperativen Ökonomie
5.1. Der kooperative Geist
5.2. Die Außenpolitik
5.3. Die Innenpolitik

6. Die Stärken der kooperativen Ökonomie
6.1. Sicherheit der Beschäftigung
6.2. Produktivität
6.3. Effizienz
6.4. Dynamik
6.5. Arbeitsklima
6.6. Schlanke Produktionsweise

7. Die Probleme der kooperativen Ökonomie
7.1. Finanzprobleme
7.2. Lösungsvorschläge

8. Die Probleme der selbstverwalteten Betriebe
    in den kapitalistischen Ländern

9. Zusammenfassung

10. Verbreitungschancen der kooperativen Ökonomie 



Mit freundlichen Empfehlungen  
Humanistische AKTION
9/1997,2 
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www.humanistische-aktion.de/mondrago.htm

Aktualisiert am 27.02.09