Menschliches Maß statt göttliche Macht

Faktoren der Religionszugehörigkeit
 

Der Sozialpsychologe Bruce Hunsberger, Professor an der Universität von Waterloo (Canada), hat kürzlich in einem Artikel in der amerikanischen Zeitschrift Free Inquiry (2/99) Faktoren aufgelistet, welche dazu führen, dass Religionen in allen Gesellschaften der Welt immer noch einen so hohen Stellenwert haben. Er fasst aus verschiedenen Studien der letzten 30 Jahre in Nordamerika sechs Faktoren zusammen:
 

  1. Sozialisation: Kinder übernehmen zu mehr als 95% die Religion der Eltern, wenn auch im Allgemeinen in abgeschwächter Form.
     

  2. Soziale Unterstützung: Religiöse Menschen fühlen sich besser integriert und weniger einsam, sie vertrauen auf ein soziales Netz, auf das sie zurückgreifen können. Sie geben an, die Religion biete ihnen Wärme, Sicherheit und Trost.
     

  3. Suche nach dem Sinn des Lebens: Die Religion bietet eine klare Sicht auf das Leben und die Welt und stillt damit ein feststellbares Bedürfnis der Menschen, im Leben einen Sinn zu sehen.
     

  4. Status- und Prestigegewinn: Die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppierung bedeutet Zugang zu potentiellen Freunden, Geschäftspartnern etc. und zu deren Unterstützung.
     

  5. Glück und Freude: 500 befragte Eltern mit hohem Bildungsstand gaben 1997 an, dass es die Religion sei, die ihnen helfe bei der Frage nach dem Sinn des Lebens, beim Umgang mit persönlichen Schwierigkeiten und Leiden, bei der Angst vor dem Tod usw. Nur gerade in einem von insgesamt 16 Bereichen konnte die Wissenschaft einigermassen mithalten: Bei der Aussage ,,Bringt mir Freude am Entdecken".
     

  6. Autoritäre Bedürfnisse: Hunsberger geht aufgrund von einem halben Dutzend Studien davon aus, dass Religionen vor allem für Menschen attraktiv sind, die damit ihre autoritären Bedürfnisse befriedigen und ausleben können. Religion dient dann zur Rechtfertigung und Bestärkung der eigenen autoritären Haltung, die meist auch mit der Forderung nach Körperstrafe, Todesstrafe, mit der Ächtung von Homosexualität und Missachtung von Minderheiten einhergeht.

Beim Studium der Beweggründe von Bekehrten fanden Hunsberger und sein Kollege Altemeyer weiter heraus, dass es sich hier mehrheitlich um Menschen handelt, die kaum religiös erzogen worden sind, die aber nach Schicksalsschlägen Schutz und Trost in einer religiösen Gemeinde suchen, also aus emotionalen Gründen religiös werden. Umgekehrt spielen bei der Mehrheit der aus Kirchen Austretenden intellektuelle Beweggründe die Hauptrolle.

"Macht man eine Kosten-Nutzen-Rechnung", so folgert Hunsberger, "so braucht es eine ausgesprochen starke und unabhängige Persönlichkeit, um die Kosten eines nicht religiösen Lebens zu tragen und auf den zu erwartenden Nutzen der Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft zu verzichten."

Bedenken wir zudem, dass in diesem Jahrhundert jede Generation mit Hunderten von neuen wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften konfrontiert war, so leuchtet ein, dass im emotionalen Bereich, der sich der Logik sowieso entzieht, auch ansonsten rationale Menschen gerne auf den traditionellen Halt der Religion zurückgreifen. Überforderung und Stress im Alltag mögen ebenfalls zum Wunsch beitragen, sich unter eine höhere Autorität zu stellen und damit einen Teil der Last nach ganz oben zu delegieren.

Nur eine Gesellschaft, die sich konsequent am "menschlichen Mass" in Raumplanung, Arbeitswelt und Gemeinschaft orientiert, hat demnach eine Chance, die Menschen von ihrer Sucht nach autoritären Göttern zu erlösen.

Reta Caspar in der schweizerischen Zeitschrift 'Freidenker' 10/1999

 

Anmerkung

Das Auflisten der verschiedenen Faktoren, die dazu führen, daß religiöse Zugehörigkeiten noch immer einen so großen Wert in allen Gesellschaften der Welt haben ist ein sehr wichtiger Beitrag zur Lösung grundlegender gesellschaftlicher Probleme. Es dient einem besseren Verständnis sowohl der religiös orientierten, als auch der übrigen Menschen und kann zu einer gegenseitigen Annäherung führen. Es könnte sogar dazu führen, daß die in den 6 Punkten aufgeführten Faktoren weitgehend auch von freigeistigen und -denkenden Menschen mit entsprechenden Inhalten versehen werden, um der Gesellschaft ein alternatives Angebot zu machen.

Voraussetzung dafür sind allerdings Erkenntnis, Anerkenntnis und Bekenntnis des gemeinsamen letztlichen Zieles: verantwortliche Menschlichkeit. Es kann weniger darum gehen, die jeweils andere Seite wegen ihrer abweichenden Bedürfnisse abzulehnen oder gar zu verunglimpfen, sondern darum, die eigenen Ansichten und Maßstäbe an der gemeinsamen Aufgabe dieser Menschlichkeit auszurichten. Die Qualität der Menschlichkeit ist entscheidend für alles weitere, letztlich sogar für das Weiterbestehen von Mensch und Natur. Diese Qualität immer wieder neu zu bestimmen und weiterzuentwickeln wäre von beiden Seiten - möglichst gemeinsam - zu beiderseitigem Nutzen zu betreiben. Einseitigkeiten und Gegensätzlichkeiten könnten abgebaut werden zugunsten ganzheitlicher Sicht- und Handlungsweisen sowie gemeinsamer Interessen und Aufgaben.

Auf der einen Seite könnte erkannt werden, daß ein Hinterfragen der Gefühle und ein Verzicht auf irreale Glaubensvorstellungen im Ergebnis zu keiner Verunsicherung, sondern zu mehr Sicherheit führt. Auf der andern Seite könnte erkannt werden, daß die Begriffe Religion und Gott - wissenschaftlich betrachtet - lediglich Rückbindung und Chiffre bedeuten, daß ein Inhalt der Chiffre für aufgeklärte Menschen höchstens das Prinzip ganzheitlichen Menschseins bilden kann und eine Rückbindung an dieses Prinzip sowie ein deutliches Bekenntnis dazu für ein sinnerfülltes Leben von größter Wichtigkeit sind. Vielleicht können eines Tages beide Seiten ohne Schwierigkeiten sagen: Verantwortliche Menschlichkeit ist göttliche Macht

Rudolf Kuhr

 

Humanismus ist unter den Religionen, Konfessionen, Weltanschauungen und sonstigen geistigen Rückbindungen diejenige ethische Orientierung, deren Name bereits den direkten Weg und das eigentliche Ziel sinnvollen Handelns enthält und deren Maßstäbe real, plausibel und wissenschaftlich haltbar zu begründen sind.

 
lesen Sie hierzu auch 'Humanistisches Werte-System'
 


 
Mit freundlichen Empfehlungen
 
Humanistische AKTION
 
10/1999
 


 
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Aktualisiert am 05.07.02