Thema: Zwischen Gefühl und Ratio Gefühle im Humanistischen Lebenskunde-UnterrichtIn Berlin sind die Humanisten Träger des Schulfaches Humanistische Lebenskunde. Inhaltlich richtet sich der Unterricht an Begriffen wie Aufklärung und Rationalität aus. Welchen Stellenwert aber haben in diesem Fach Gefühle und Emotionen? "Ich hasse Mathe!", "Frau Schulze mag ich!" "Bio macht Spaß!", "Lehrer Meier ist doof!" Wer kennt nicht derartige Erfahrungen aus seiner Schulzeit? Nasse Hände vor einer Klassenarbeit. Herzklopfen beim Liebesbrief unter der Schulbank. Ärger wegen einer Keilerei. Die Schule ist voller Gefühle - vor der Klassentür und im Unterricht. Und selbst ein kopflastiges Thema wie der "Satz des Pyrhagoras" hat seine emotionalen Seiten - sie reichen von interessierter Spannung bis hin zu gähnender Langeweile. Die eigentliche Frage lautet daher, wie Gefühle im pädagogischen Prozess bewusst angesprochen werden sollten, um eine menschlich positive und produktive Gesamtatmosphäre zu fördern und das kritische Denken anzuregen. Einheit von Denken, Fühlen und Handeln Alle reformpädagogischen Überlegungen wie "entdeckendes Lernen" oder "Schule als Lebensgemeinschaft" haben daher nicht zuletzt die Berücksichtigung des Emotionalen zum Ziel. In dieser ganzheitlichen Tradition der Einheit von Denken, Fühlen und Handeln steht die Humanistische Lebenskunde seit ihrer erstmaligen Einführung im Jahre 1920. Der Ansatz wird in dem Berliner Unterrichtsfach, für das der Humanistische Verband als Träger verantwortlich ist, seit den neunziger Jahren noch weiter vertieft. Dabei erhalten alle Sinne ansprechenden Methoden wie Bewegung, Musik, Pantomime auch eine zunehmende inhaltliche Bedeutung. So soll das menschliche Handeln nicht nur auf "gesellschaftliche Interessengegensätze" hin untersucht werden, wie es Lebenskunde durch ihre historische Anbindung an die Arbeiterbewegung schon immer verfolgt. Qualitativ neu ist der Anspruch, dass Gedanken und Ideologien zugleich unter dem Aspekt der "zugrundeliegenden Ängste und Wünsche" thematisiert werden, wie es im Rahmenplan heißt. So kann sich unser Unterricht damit ganz gezielt auch jenen Bereichen widmen, die in traditionellen Fächern oftmals übergangen werden - freilich mit meist weitreichenden Folgen. Ein Beispiel dafür ist etwa die "Faszination von Irrationalem" (Erich Fromm), der nicht nur junge Menschen unterliegen. Ein Ausdruck dieser Faszination sind zum Beispiel Jugendcliquen und -banden mit ihren zum Teil ritualisierten und meist gefährlichen Mutproben. In Lebenskunde können die Schüler derartige Erfahrungen einbringen und thematisieren, ohne Angst vor Ausgrenzung und dem erhobenen moralischen Zeigefinger. Mehr noch: Ich selbst habe meinen Unterricht bei diesem Thema mit den Schülern auf ihre Spielplätze und Jugendtreffs verlegt, um ihre "Subkultur" per Videokamera authentisch zu dokumentieren. Erst dieses tabu- und vorurteilslose Ernst nehmen ihrer Erfahrungen und Befindlichkeiten legte die Grundlage dafür, dass sie sich öffneten und über ihre tiefen Sehnsüchte nach Anerkennung, Geborgenheit und Achtung sprechen konnten. Ein anderes Beispiel betrifft das grundsätzliche Unterrichtsprinzip der Lebenskunde "Störungen haben Vorrang", das aus der Gestaltpsychologie entlehnt ist. Damit ist gemeint, dass es in einem solcherart angelegten Unterricht geradezu kontraproduktiv ist, Unterrichtsstörungen ausschließlich mit den üblichen Formen der Disziplinierung zu unterbinden. Denn meistens verbergen sich hinter den Verhaltensauffälligkeiten tiefere Konflikte der Kinder und Jugendlichen. Das Aufgreifen dieser Probleme führt wiederum meist zu ethischen und moralischen Kernthemen des Faches selbst, wie zum Beispiel zum Themenkomplex "Ausgrenzung-Erniedrigung-Neid-Hass-Gewalt". Die gesellschaftliche und ethische Relevanz dieses Ansatzes wurde erst jüngst durch Unterrichtsforschungen in Hessen unter Leitung von Professor König (Universität Frankfurt) bestätigt. Zum Thema Rechtsradikalismus zeigten die Lehrkräfte den Dokumentarfilm "Von Beruf Neonazi" und diskutierten anschließend mit den Schülern darüber. Dabei wurden jedoch die zwiespältigen Gefühle der Schüler meist übergangen. Denn der Protagonist des Films sprach .durchaus starke Gefühle an wie Kraft, Überlegenheit und Selbstbewusstsein. So entstand in den Klassen alsbald eine Art Doppelmoral - nach außen zeigten sich die meisten antifaschistisch. Untergründig aber waren viele Schüler zugleich fasziniert von dem "coolen Rechten". Ein Unterricht, der sich dem Aufbau ethisch-moralischer Kompetenz verschreibt, darf sich jedoch diesen eher verdrängten Gefühlen nicht verschließen. Sonst bleibt er oberflächlich und damit relativ wirkungslos. Schlimmstenfalls wirkt er sogar kontraproduktiv, wie gerade viele Lehrer aus der DDR bestätigen. In der Humanistischen Lebenskunde wird somit versucht, durch geeignete Methoden in einer Atmosphäre des Vertrauens beziehungsweise ohne moralischen Zeigefinger auch das Untergründige und Tabuisierte zu erreichen. So zum Beispiel über das Schreiben eines fiktiven Briefes an seinen "schlimmsten Feind" oder "besten Freund", das Malen einer Fratze oder eines Engels, das Nachspielen einer "peinlichen Situation". Das entlastet, geht in die Tiefe (ohne therapeutischen Anspruch) und macht entsprechende Gefühle überhaupt erst einer kritischen Reflexion zugänglich. Bekanntlich arbeitet die Werbeindustrie äußerst erfolgreich damit, gerade unsere "geheimen" Sehnsüchte und Ängste subtil anzusprechen. Das Gegenteil von Verführung aber ist Selbstbestimmung - ein zentraler Wert im Humanismus. Emotionalität in all ihren Facetten und kritisches Denken gehören in der Humanistischen Lebenskunde daher in einer besonderen Weise zusammen. Bruno Osuch
Bruno Osuch arbeitet als Gesamtschullehrer und Fachberater
für Humanistische Lebenskunde aus 'diesseits' 1/00
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Aktualisiert am 13.11.11