SPIEGEL-Gespräch 

"Hart im Sinkflug"

Der US-Soziologe Amitai Etzioni über den Zwang, die Gesellschaft wieder an Werten auszurichten
 

SPIEGEL: Herr Etzioni, Ihre Forderung, in der Politik wieder stärker die Werte statt bloß Marktgesetze zu betonen, findet gleichermaßen Anklang bei Helmut Kohl, Rudolf Scharping und Joschka Fischer. Macht Sie das nicht stutzig?

Etzioni: Bei der Debatte über die Zukunft des Wohlfahrtsstaates hat die Diskussion über das moralische Gerüst der Gesellschaft den größten Stellenwert. Kein ernst zu nehmender Parteiführer kann deshalb bei der Diskussion über den Sozialstaat einer Wertedebatte ausweichen.

SPIEGEL: Aber Sie hantieren mit so unverbindlich-vagen Begriffen wie Tugend, Moral und Gemeinschaft. Was bringen die für politische Entscheidungen?

Etzioni: Wir Kommunitaristen werden oft mit der Öko-Bewegung verglichen. Bevor es sie gab, kümmerte sich auch kaum einer um die Umwelt. Wir setzen das Bewahren der Gesellschaft auf die Tagesordnung, wir wehren uns gegen die Dominanz der Kosten-Nutzen-Logik der Ökonomen. Mit unserem Werteansatz sind wir die einzige Alternative zu den christlichen Rechten.

SPIEGEL: Was unterscheidet Sie denn von denen, etwa von einem fundamentalistischen Eiferer wie dem US-Präsidentschaftskandidaten Pat Buchanan?

Etzioni: Die christlichen Fundamentalisten wollen die Menschen über Gesetze und Verbote dazu zwingen, gute Menschen zu sein. Wir denken, daß man einen moralischen Dialog der Überzeugung führen kann. Bei allen Gesprächen in Europa oder in den USA stelle ich immer wieder fest, daß Mitglieder westlicher Gesellschaften nach einer Werteorientierung streben.

SPIEGEL: Der deutsche Kanzler Kohl ist mit dem Anspruch angetreten, das Land geistig und moralisch zu erneuern. Und was ist daraus geworden?

Etzioni: Stellen Sie sich eine Abwärtskurve mit verschiedenen Niveaus vor, wenn Sie den moralischen Zustand messen möchten. Die USA sitzen am untersten Punkt, aber bekommen gerade die Kurve. Großbritannien befindet sich etwa in der Mitte, Deutschland noch weiter oben, ist aber hart im Sinkflug.

SPIEGEL: Das müssen Sie uns erklären.

Etzioni: Ein Indikator für den moralischen Zustand einer Gesellschaft ist die Charaktererziehung innerhalb der Familie oder in Einrichtungen, die sich ,darum kümmern. Andere Anzeichen sind die Zunahme von Kriminalität, Drogen, Alkoholmißbrauch, Mißbrauch des Steuer- und Sozialsystems, Abwendung von der Politik oder Mißtrauen gegen die Regierenden. Diese Dinge stehen auch in Deutschland nicht zum besten. Die große geistige Erneuerung hat hier nicht stattgefunden.

SPIEGEL: Die Deutschen haben derzeit andere Sorgen. Es geht um Einschnitte ins soziale Netz. Die Sozialausgaben verschlingen bereits ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts.

Etzioni: Gegenwärtig gehen die westlichen Ökonomen davon aus, daß sie in der Welt in immer härterem Wettbewerb stehen. Sie müssen mit Ländern konkurrieren, in denen das Lohnniveau bei unter einem Dollar pro Tag liegt, ohne Sozialleistungen, ohne Auflagen für den Umweltschutz. Wir sehen schon die ersten Auswirkungen dieser Freihandelswirtschaft: langsam fallende Einkommen in den reichen Ländern, dazu kommt in den Industrienationen technologischer Wandel, der Jobs kostet. Dies, kombiniert mit dem Zusammenbruch vieler sozialer Systeme, wird langfristig für enormen Druck auf unsere Gesellschaften sorgen SPIEGEL: Was hat das mit Moral zu tun?

Etzioni: Moralisch wäre es, dem Bürger diese Zusammenhänge klarzumachen. Statt dessen wird ihm jede Woche eine neue kleine Hiobsbotschaft mitgeteilt: hier ein paar Kürzungen beim Zahnersatz, dort keine Lohnfortzahlung mehr im Krankheitsfall. Jede Woche ein kleiner Schmerz. Auch hier macht der Ton die Musik.

SPIEGEL: Den Franzosen hat ihre Obrigkeit das Ausmaß der Kürzungen auf einmal mitgeteilt, und prompt gab es massive Proteste.

Etzioni: Was aus der Sicht des Durchschnittsdeutschen passiert, ist folgendes: Die Mittelklasse, die diese kleinen Schritte schon spürt, fühlt sich bedroht. In dieser Situation können die Leute anfällig werden für Radikalismen aller Art.

SPIEGEL: Ohne Einschnitte im Sozialbereich wird die Krise des Wohlfahrtsstaates wohl kaum zu lösen sein.

Etzioni: Ich sage auch nicht, daß wir den Wohlfahrtsstaat nicht antasten können. Aber der kommunitaristische Weg wäre, die öffentlichen Ausgaben zu reduzieren, indem Bürger in Gemeinschaftsarbeit Aufgaben selbst übernehmen. Das bringt zusätzliche Freude ins Leben. Ich würde es auch vorschlagen, wenn wir keine ökonomische Krise hätten.

Lassen Sie mich das an einem Beispiel aus der amerikanischen Stadt Seattle erläutern. Die Hilfe bei Herzanfällen in den ersten vier Minuten kann lebensentscheidend sein. Normalerweise müßte man in Seattle 15 Notfallambulanzen plazieren, drei Schichten einrichten und 18 Millionen Dollar pro Jahr dafür ausgeben. Das Rote Kreuz trainierte nun 400000 Bürger. Bei einer Herzattacke hilft jetzt jemand am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft dem Patienten, bis die normale Ambulanz kommt. Das spart der Stadt 18 Millionen im Jahr. Aber noch wichtiger: Die Leute fühlen sich anders in Seattle.

SPIEGEL: Damit sprechen Sie Vertretern der freien Marktwirtschaft aus dem Herzen. Die plädieren auch für den Rückzug des Staates aus dem Sozialwesen.

Etzioni: Die radikalen Marktvertreter sind komplett blind für die kornmunitaristischen Kategorien. Der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman hat uns, als wir ökologische Gemeinschaftsdienste vorschlugen, mit der Hitlerjugend verglichen. Er meint, man müsse für alles bezahlen, und konnte nichts anfangen mit dem Begriff der moralischen Pflicht. Dahinter steht ein Menschenbild, das von Maximierung des persönlichen Nutzens ausgeht, nicht von Werten oder Tugenden.

SPIEGEL: Den Dienst für die Gemeinschaft spüren die Bürger in komplexen Gesellschaften zunächst, indem sie immer höhere Abgaben und Steuern zu bezahlen haben.

Etzioni: Ich wage mal die Prognose, daß wir etwa 15 Prozent der Ausgaben durch kleine soziale Netze ersetzen können, aber rund 85 Prozent des öffentlichen Wohlfahrtsstaates beibehalten müssen. Der andere Punkt ist, daß die Kosten für die professionellen Dienstleistungen rapide steigen. Hier muß angepaßt werden. Wir können auch die Löhne einfrieren oder den technologischen Wandlungsprozeß verlangsamen. Das Wichtigste ist jedoch die psychologische Vertrauensseite: Die Bürger müssen sicher sein, daß nicht das ganze soziale Sicherungssystem zur Disposition steht. Was die Menschen schockiert, ist, daß sie im Moment alles bedroht sehen.

SPIEGEL: Riskiert, wer technologischen Wandel stoppt, nicht den weiteren Abbau von Arbeitsplätzen?

Etzioni: Wirtschaftsführer in Deutschland fordern vor allem Lohnsenkungen, um die Firmen im Land zu halten. Wer so etwas sagt, sollte ehrlich offen legen, um wieviel die Einkommen eigentlich fallen müssen, damit die Arbeit hier bleibt. Der Staat könnte auch durch eigene Investitionsprogramme Arbeitsplätze im privaten Sektor schaffen, aber dies ist extrem teuer. Einzige Alternative ist, was wir "workfare" nennen.

SPIEGEL: Ein zweiter Arbeitsmarkt.

Etzioni: Das Weiße Haus hat mich dazu um ein Modell gebeten: In Krankenhäuser, Museen, Kindereinrichtungen, in den gesamten sozialen Sektor können wir Arbeitskräfte schicken und ihnen einen Minimallohn geben, bezahlt von den Institutionen, in denen sie arbeiten. Das wird Probleme mit den Gewerkschaften geben, weil sie Konkurrenz sehen. Aber wir können einen Dialog darüber führen, und dies sind Arbeiten, die sonst keiner macht.

SPIEGEL: Glauben Sie im Ernst, daß ein Automobilfacharbeiter, der seinen Arbeitsplatz an die Billigkonkurrenz in Fernost verliert, sich mit gemeinnütziger Arbeit zufriedengibt?

Etzioni: Das amerikanische Fernsehmagazin "60 Minutes" hat genau dazu 50jährige aus mittleren Positionen befragt, die seit zwei Jahren arbeitslos waren. Diese Männer sagten, sie würden für alles arbeiten. Warum? Weil in unserer Gesellschaft ein gut Teil der Identität durch die Arbeit definiert ist. Ich denke, sogar beim miesesten Job in der gemeinschaftsbezogenen Arbeit gilt: Es gibt keine Art von Arbeit, die nicht würdig ist.

SPIEGEL: Die Deutschen haben da schlechte Erinnerungen an Reichsarbeitsdienste und Zwangsarbeit unter den Nazis.

Etzioni: Immer wenn ich nach Deutschland komme, halten mir Gesprächspartner entgegen, daß wir nicht über Gemeinschaft sprechen können, weil es unter den Nationalsozialisten die Volksgemeinschaft gab. Wenn jemand diesen Begriff mißbraucht hat, dann kann es jetzt nicht mehr angehen, die Diskussionen zu tabuisieren. Als Kommunitaristen sind wir nicht für Zwangsrekrutierungen, aber wir können ein Angebot machen, damit jemand die Wahl hat.

SPIEGEL: Der Nationalsozialismus hatte noch eine andere Folge. Begriffe wie Ehre, Treue, Disziplin sind seither in der deutschen Gesellschaft diskreditiert.

Etzioni: Wer versucht, Moral aufzuzwingen, wird nicht erfolgreich sein - nehmen Sie den Kampf religiöser Fundamentalisten gegen das liberale Abtreibungsrecht. Der andere Weg ist der offene moralische Dialog.

SPIEGEL: Wie soll das in der Realität funktionieren? Wer nimmt an diesem Dialog teil? Die Erfahrung lehrt: Autorität hat derjenige, der stärker ist.

Etzioni: Deutschland ist weitaus mehr reguliert als die US-Gesellschaft. Aber auch bei Ihnen finden schon lange moralische Dialoge statt. Nehmen Sie die Kruzifix-Debatte. Bei Themen wie dem Abtreibungsrecht, der Ökologie oder den Bürgerrechten dauerte der Dialog 2o Jahre und länger. Heute haben wir eine andere Sicht der Dinge. Heute reden wir etwa über Moral am Markt.

SPIEGEL: Ist diese Theorie von der Ethik am Markt nicht eine Luxusdebatte für Wohlhabende? Wer nach den Erfolgskriterien der Marktwirtschaft lebt, wird sich holen, was er kriegen kann.

Etzioni: Es gibt Menschen, die den Wohlfahrtsstaat schamlos ausnutzen. Auch in diesem Fall wäre ich dafür, moralischen Dialog einzusetzen: Da können wir den Zeigefinger heben und sie anprangern.

SPIEGEL: Der Zeigefinger steckt oft hinter Ihren Ideen - nach dem Motto: Wenn du das nicht machst, bist du ein Schuft. Wollen Sie den Tugendterror der Gutmenschen?

Etzioni: Neulich hielt mir ein österreichischer Interviewpartner entgegen, daß ihm bitte schön niemand vorschreiben solle, was er zu tun habe. Warum reden wir immer von Verboten und Zwängen? Wir könnten vieles auch mit Wertschätzungen und Prämierungen ausdrücken. Wenn wir eine soziale Ordnung aufrechterhalten wollen, brauchen wir ein Minimum an Wertekonsens. Das ist, glaube ich, besser, als an jeder Ecke einen Polizisten aufzustellen oder nach dem Marktmodell für jede kleine Wohltat zu bezahlen.

SPIEGEL: Sie sind in einem Kibbuz aufgewachsen. Haben Sie daher Ihren Glauben an den Idealismus?

Etzioni: Ich mußte Deutschland mit sieben Jahren verlassen, wegen Hitler. Meine Eltern waren streng, meine Großeltern waren noch strenger. Eine meiner ersten Erinnerungen sind nicht die Braunhemden im Schwarzwald, sondern die Schläge meiner Tante, weil ich mich danebenbenahm. Wir zogen um nach Palästina, jeder in diesem Dorf war Emigrant aus Deutschland. Dann steckten mich meine Eltern in ein Internat. Dort lernte ich den Druck der Gemeinschaft kennen. In dieser Schule - Schimon Peres besuchte sie auch - belästigten sie mich ebenfalls mit ihren Werten, aber wir hatten soziale Rituale, die uns einen wichtigen Rahmen gaben.

SPIEGEL: Funktionieren solche Rituale auch in komplexeren Gemeinschaften?

Etzioni: Es muß nicht nur die Familie sein, auch in Nachbarschaften, Arztpraxen oder Büros kann so etwas funktionieren. Es gibt zwar keine Garantie, daß die Familie die Kinder zu idealen Menschen erzieht. Doch es gibt eine ziemlich hohe Korrelation zwischen familiärer Zuwendung und Kriminalität. Ich achte deshalb Modelle wie in Ihrer Gesellschaft, die Eltern Erziehungsurlaub gewähren.

SPIEGEL: Was fasziniert Politiker wie Bill Clinton oder Helmut Kohl so, daß sie mit Ihnen essen gehen?

Etzioni: Die Bürger der West-Gesellschaften sehnen sich nach einer Tugenddebatte. Wir greifen nur auf, wonach es Bedürfnisse gibt. Das sollten wir nicht religiösen Eiferern oder den Sekten überlassen. Dafür haben aufgeweckte Politiker ein Gespür.

SPIEGEL: Herr Etzioni, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Das Gespräch führten die Redakteure Michael Schmid-Klingenberg und Sylvia Schreiber.

Amitai Etzioni gilt als "Guru des Kommunitarismus in den USA. Die Kormmunitarier verstehen sich als parteiübergreifende politische Bewegung, die sich gegen zerstörerischen Individualismus und die ausschließliche Orientierung an Marktgesetzen wendet. Sie fördern eine neue Wertedebatte in westlichen Gesellschaften und vertreten die Überzeugung, nur die Stärkung der Gemeinschaftsidee könne die Krise der Wohlfahrtsstaaten überwinden

Etzioni, 67, der als Soziologieprofessor an der George Washington University in Washington D. G. lehrt, emigrierte 1936 mit seinen Eltern, jüdischen Kaufleuten aus Deutschland, nach Palästina. Als Jugendlicher schloß er sich dem jüdischen Untergrund an und nahm am Unabhängigkeitskampf gegen die Briten teil. Später studierte er an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Ende der fünfziger Jahre wanderte er In die USA aus. Buchautor Etzioni ("Die Entdeckung des Gemeinwesens", "Jenseits des Egoismus-Prinzips") ist Berater des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton. In Deutschland hat er Kontakt zu Kanzler Helmut Kohl, SPD-Fraktionschef Rudolf Scharping und dem Grünen-Fraktionssprecher Joschka Fischer.

DER SPIEGEL 10/1996 


 
Mit freundlichen Empfehlungen
 
Humanistische AKTION  
 7/1999 

 
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Aktualisiert am 30.01.12