Eine infantile Gesellschaft

Comedy-Schwemme und Girlie-Mania, Erlebniswahn und Fernseh-Irrsinn - nicht nur in Deutschland verstärkt sich der Trend zum Kindischen, der Unwille, erwachsen zu werden. Immer mehr Mittdreißiger verlängern ihre Jugend bis hart an den Vorruhestand. Körperkult, Narzißmus und egoistische Selbstverwirklichung bilden ein neues Massenphänomen die "Kindliche Gesellschaft", so der Titel eines gerade erscheinenden Buches des US-Autors Robert Bly. In einem Beitrag für den SPIEGEL diagnostiziert der Hamburger Professor Dietrich Schwanitz die "infantile Nation". 

Die Tynannei des Kindischen  -  Die Wonnen des Klagens

 

Z E I T K R I T I K

Die Tyrannei des Kindischen

Die um sich greifende, seltsam unfrohe Freude am Kindischen ist das Thema einer
neuen kulturkritischen Studie des Amerikaners Robert Bly. Auch Westeuropa teilt diese Freude, die albernste und bisher krasseste Variante eines die Epoche prägenden Körperkults.
 

In seltenen glücklichen Augenblicken werden SPIEGEL-Redakteure, bevor sie von ihrem Thema gefangengenommen werden, ganz persönlich von ihm überfallen: Mitten in die konzentrierte Arbeit am schwierigen Begriff einer Infantilisierung der Gesellschaft platzte jüngst ein Fernsehteam des Musiksenders Viva an der Spitze Kultmoderator Stefan Raab ("Hier kommt die Maus").

Ohne Voranmeldung und bei laufender Kamera, das drahtlose Mikrofon drohend in der spaßigen Hand, attackierte der karnevalesk drapierte Blödelprofi den SPIEGEL-Redakteur wegen einer Polemik über einen anderen, seriösen Tele-Talkmaster.

Freilich ging es nicht um Argumente, sondern um Sekunden, nicht um einen Wortstreit, sondern um den reinen Effekt: voll erwischt, Spiel ohne Grenzen, Fun ohne Ende.

Nichts geht über die frei Haus gelieferte Empirie: Das Fernsehen, kein Zweifel, ist der größte virtuelle Sandkasten der Republik, in dem die Backförmchen der Kindheit als elektronische Videotien des Abendprogramms wiederkehren. Selbst BILD AM SONNTAG erregte sich Ende Januar 1997: "TV-Irrsinn: Kandidat leckt für 500 Mark Rolltreppen ab!"

In der RTL-Gameshow "Glücksritter" wurden einer gesundheitlich angeschlagenen Kandidatin 13 neue Zahnkronen versprochen, wenn es ihr gelänge, im Publikum 13 künstliche Gebisse einzusammeln. Und auch der neue deutsche Comedy-Kult baut, mit ironischem Augenzwinkern, versteht sich, auf die Banalität des Guten, Doofen, Blöden, auf den hippen Charme von Unschuld und Dummheit: "Ich bau' dir ein Haus aus Schweinskopfsülze", singen Wigald Boning und Olli Dittrich, erfolgreich unter dem Namen "Die Doofen".

Die Grenzen zwischen dämlich und kindisch, pubertär und halberwachsen sind fließend. So faßt auch der amerikanische Gesellschaftskritiker und Poet Robert Bly, 70, Anfang der neunziger Jahre bekannt geworden durch sein den wilden Mann verherrlichendes Kultbuch "Der Eisenhans", Tendenzen der zunehmenden Infantilisierung in der These zusammen: Die Regentschaft der "Halberwachsenen" habe längst begonnen. Titel des Buches, das diese Woche auf deutsch erscheint: "Die kindliche Gesellschaft" (Robert Bly: "Die kindliche Gesellschaft". Kindler Verlag, München; 400 Seiten; 44 Mark.)

Immer mehr Enddreißiger - das gilt für Westeuropa ebenso wie für die USA - verlängern ihre Adoleszenz bis hart an die Grenze zum Vorruhestand, während Jugendliche erst gar keinen Antrieb verspüren, erwachsen zu werden: Boys-Group-Kult und Girlie-Mania allerorten, wo die Nabelfreiheit wohl grenzenlos sein muß.

Exemplarisch für diesen neuen, nicht besonders fröhlich gestimmten Trend zum Juvenilen ist der Fall einer Hamburger Therapeutin: Sie berichtet von einer Patientin, die darüber verzweifelt war, daß ihr erwachsener Sohn keine Anstalten machte, das elterliche Heim - "Hotel Mama" - zu verlassen. Wieso auch - wenn Kindheit, Jugend und Erwachsensein nahezu fugenlos ineinander übergehen und sich dabei auf paradoxe Weise vermischen. Einerseits werden Kinder heute im Alter von fünf Jahren von Kriegsbildern und Werbebotschaften der Erwachsenenwelt überschwemmt, andererseits verhalten sich 50jährige wie Twens, die immer noch von der einsamen Strandhütte auf Bali träumen.

"Infantile Wunschgetriebenheit" entdeckt Buchautor Bly überall dort, wo einst das System der "indoeuropäisch-islamisch-jüdischen Triebkontrolle" die Bastion des Über-Ich beherrschte. Mußte man früher nur vierjährigen erklären, warum mitten auf der Autobahn Florenz-Rom kein Eis am Stiel herbeizuzaubern war, so bedarf es heute auch bei scheinbar ausgereiften Zeitgenossen anspruchsvoller logistischer Ausführungen über die Unmöglichkeit, auch noch eine gut gekühlte Magnum-Champagnerflasche im Trekking-Rucksack mit auf die Berghütte zu schleppen.

"Die meisten Leute haben das Gefühl, unfertig, eigentlich nicht erwachsen zu sein und deshalb auch unfähig, sich für eine bestimmte Lebensform zu entscheiden", sagt die Berliner Psychotherapeutin Eva Jaeggi. Auch der Bremer Ethnologe Hans-Peter Duerr ist davon überzeugt, daß "keine Gesellschaft soviel unglückliches Erleben hervorbringt wie die heutige und gleichzeitig einen narzißtischen Persönlichkeitstypus schafft, der im tiefsten Innern äußerst unglücklich ist".

Alexander Mitscherlichs "vaterlose Gesellschaft" und Christopher Laschs "Zeitalter des Narzißmus" haben sich Ende der neunziger Jahre zu einer radikalisierten Form jener Ego-Gesellschaft vereinigt, in der jeder Aufschub von Glücksmomenten als persönliche Kränkung aufgefaßt wird. Jedes objektive Hindernis im Alltag erscheint als Sabotage an der Selbstverwirklichung im Hier und Jetzt. Was zählt, ist die Verschmelzung mit dem Augenblick, der Moment der einzig wahren Empfindung: ich und mein Magnum in der Badewanne.

Diese kollektive kindliche Genußsucht paßt zur weit verbreiteten Abneigung gegen emotionale Bindungen und persönliche Verantwortung - ein Syndrom, das junge Karrieristen erst richtig fit macht für die mobile Massenkultur. Man ist jung, vital, dynamisch und keinesfalls zu dick, zugleich pragmatisch und flexibel und versteht es, auf den Wellen der wechselnden Moden zu surfen.

Was einst Jugend war und im Werther- oder Revoluzzerstil gegen die Welt der Erwachsenen rebellierte, ist durch einen flächendeckend synthetischen Jugendwahn der ganzen Gesellschaft ersetzt worden, bei dem sich die überlieferten kulturellen Abgrenzungen verwischt haben: 8jährige knacken Computersysteme von Staatsbehörden, 17jährige Gymnasiasten spekulieren an der Börse, während hochmobile Frührentner in Nike-Turnschuhen und mit aufgestülptem Walkman bei McDonald's sitzen und haufenweise Chicken McNuggets in sich hineinstopfen.

Längst üben der dutzendfach geliftete Kindmann Michael Jackson und das ewigjunge Topmodel Cindy Crawford, die Backstreet Boys und die glattgebügelten Soap-Helden vom "Melrose Place" nicht nur massensuggestiv erzieherische Macht über die Kids aus, sondern prägen das Weltbild insgesamt. Prätentiöse Stilisierung ersetzt die reale Aktion, der handelnde Mensch wird zur selbstverliebt spielenden Existenz. Ödipus, der seinen Vater tötete, verstaubt in der Requisitenkammer.

Neil Postmans These vom "Verschwinden der Kindheit" läßt sich vom Kopf auf die Füße stellen: Das Verschwinden der Erwachsenen ist in vollem Gange. Harald Juhnke ist nur der prominenteste Fall eines älteren Herrn, der, statt für seine Ausfälle regreßpflichtig gemacht zu werden, immer wieder - und erfolgreich - auf regressive Unzurechnungsfähigkeit plädiert und damit die Massen unterhält.

Auch die formell Erziehungsberechtigten pochen immer öfter auf den infantilen Grundsatz der Unschuldsvermutung. In Zeiten der Massenarbeitslosigkeit, der drohenden Klimakatastrophe und des ToyotaFunCruiser stimmen sie überein: Nichts ist unmöglich - aber wir sind unschuldig.

Die legitime Schwester der Infantilisierung, so der französische Publizist Pascal Bruckner, ist die "Viktimisierung", der Hang, sich stets als ohnmächtiges Opfer der Gesellschaft zu inszenieren und damit die eigene Verantwortung auf ein gerade noch erträgliches Mindestmaß zu reduzieren. So scheint die Welt ein einziger Kindergeburtstag mit angeschlossenem Ferienklub: "Gebt den Kindern das Kommando!" forderte in den achtziger Jahren prophetisch der Sänger Herbert Grönemeyer.

"Alles ist erlaubt, alle sind dafür, also ist auch alles egal", formuliert Grafikstudent Thomas, 22, das neue Credo der "Halberwachsenen". Jeder votiert für Champagner und gegen das Waldsterben. Widerspruch und Empörung, die einstigen Grundnahrungsmittel des politischen Engagements, sind out. Entpolitisierung, bis heute ein Schreckensbegriff der 68er, ist ein allgemeines, kaum noch bemerktes Phänomen in einer Zeit, in der die Dimensionen der Probleme und die Möglichkeiten, sie zu lösen, immer weiter auseinanderklaffen.

Angesichts dieser Lage bekannte selbst der altlinke Bilderbuch-68er Wolfgang Pohrt im SPIEGEL (811997): "Zynismus ist die Kombination von Lebenserfahrung und Klugheit." Also unvermeidlich?

Diese Haltung ist generationenübergreifend: "Ich fühle mich abgeklärt", erklärt Patricia Pantel, 25, Moderatorin beim Berliner Jugendradio Fritz, in der TAGESZEITUNG. "Ich glaube, daß jeder guckt, wie er selbst zurechtkommt." Sie nennt sich selbst "sehr individualistisch und auch irgendwie egozentrisch".

Während früher Autorität, Disziplin, Pflichterfüllung und Tradition die prekären Bedingungen der sich entwickelnden Individualität markierten, waltet nun die "terroristische Überforderung" (Bly) durch den allgegenwärtigen Zwang zur perfekten Selbstdarstellung - eine hysterisch bejahte Gegenwärtigkeit, die zur Regression auf den kindischen Kult unmittelbarer, selbstsüchtiger Befriedigung führt. Die kommt am Ende auch ganz ohne Objekt aus.

So ist es kein Zufall, daß zwei Tendenzen das Leben in den späten neunziger Jahren maßgeblich bestimmen: die Ästhetisierung der Existenz und die Sexualisierung der öffentlichen Sphäre, infantile Egozentrik und autoerotische Genußsucht unter dem scheinbar objektiven Schutzschirm der Markenartikelindustrie.

Ob für Dessous, Schokoriegel oder Winterreifen geworben wird - der (fast) nackte Körper ist allgegenwärtig, provozierend und triumphierend zugleich. Doch der Glamour der Nacktheit, weit entfernt vom alten Protest gegen die verklemmten Eltern, spiegelt eher kalte Lust als Liebe und Leidenschaft. Denn der Kult um den Körper ist gleichzeitig körper- und liebesfeindlich, die Inbrunst, mit der man sich zeigt, so aseptisch wie das neueste Körperspray: Sie geht einher mit der Angst vor wirklicher, fordernder Nähe und Entblößung.

So wird Sex paradoxerweise zum Zeichen körperloser Kommunikation ohne Folgen: Schaulust pur, eingehüllt im Kokon einsamer Coolness, hautnah dran und doch abgeschottet von der Erfüllung aller Sehnsucht. Dabei ist die Häufigkeit sexueller Kontakte, so der Hamburger Sexualforscher Gunter Schmidt, eher rückläufig. Während der allgegenwärtige Hedonismus die Lust eher nivelliert, sollen immer häufiger Drogen den ultimativen sexuellen Kick verschaffen: Nachdem jüngst mehrere Talkgäste ihre einschlägigen Beischlaferlebnisse unter Rauschmitteleinfluß eindrucksvoll geschildert hatten, sah sich TV-Moderatorin Lilo Wanders ("Wa(h)re Liebe") zu dem leisen Hinweis an die Zuschauer draußen im Lande veranlaßt, theoretisch sei der Liebesakt auch ganz ohne Beigabe von Ecstasy, Speed, Kokain oder LSD möglich. Die Droge befreit - den Sex entbindet sie von jeglicher moralischer oder sozialer Verantwortung: vom Erwachsensein.

Währenddessen herrscht in der deutschen Miracoli-Republik, im Breitengrad von Milchschnitte, Yogurette und Kinderschokolade, der orale Dauerexzeß, wie die Publizistin Cora Stephan beobachtet hat:

Vor den Würstchenständen und Pommesbuden der Republik, in den Fußgängerzonen und verkehrsberuhigten Flaniermeilen, bei zahllosen organisierten Freß- und Saufgelagen unter freiem Himmel spielen sich wahre Orgien der formverachtenden Einverleibung ab. Schlabbern, säfteln, krümeln - der moderne Mensch strotzt nachgerade von Körperlichkeit Die moderne Gesellschaft ist zutiefst infantil.

Und wenn der kleine Hunger kommt, dann kommt die Lila Pause, denn die akute Bekämpfung auch noch des geringsten Unlustgefühls duldet keinen Aufschub. Die dicken Kinder von Landau lassen grüßen.

Diese Tyrannei der sabbernden Infantilität verbindet sich mit einem grassierenden Narzißmus, der die äußere Realität der Welt vorwiegend als Spiegelung des eigenen Selbst wahrnimmt. Statt die konfliktreiche Auseinandersetzung mit der komplexen Wirklichkeit zu riskieren, geraten immer mehr Menschen in die narzißtische Falle einer Scheinwelt, in der sich diffuse Ängste und entgrenzte Potenz- und Allmachtsphantasien abwechseln. Dazwischen: Abgründe innerer Leere.

Bei der Aufgabe, "diese Fantasy-World zu korrigieren", habe auch die Universität versagt, schreibt Professor Dietrich Schwanitz in einem Beitrag für den SPIEGEL: "Statt dessen wurde sie selbst zur Quelle einer geisterhaften Wirklichkeitsverdünnung." Die weitverbreitete Unlust oder Unfähigkeit, zwischen dem eigenen Ich und der Welt überhaupt noch zu unterscheiden, Ambivalenzen und Widersprüche auszuhalten, sie womöglich sinnvoll ins eigene, kritische Selbstbewußtsein zu integrieren führt in eine deprimierende Ich-Höhle. Immer mehr "Halberwachsene" finden nicht mehr aus ihr heraus. Um so wichtiger wird ihnen das Tempo wechselnder Reize, die rastlose Suche nach Anerkennung und Bewunderung, Ausdruck eines verzweifelten Geltungsbedürfnisses, das immer nur kurzzeitig befriedigt werden kann. Sie verabsolutieren die Gegenwart nicht aus Angst vor dem Tod, sondern um selbst gegenwärtig zu sein - jedes Jetzt ein maskiertes Ich.

Tatsächlich hat sich im Laufe der achtziger Jahre, nach dem Zerfall visionärer Ideologien, politischer Utopien und religiöser Transzendenz, eine radikal innerweltliche Konsumgesellschaft entwickelt, deren Mangel an Orientierung narzißtische Verhaltensmuster geradezu herausfordert. Flexibilität, Austauschbarkeit, Wichtigtuerei und Durchlässigkeit sind die neuen Maximen: "Die Transzendenz ist in Tausende von Fragmenten zerborsten, die wie Bruchstücke eines Spiegels sind, in denen wir flüchtig noch unser Spiegelbild greifen können, bevor es vollends verschwindet", sagt der französische Soziologe Jean Baudrillard. Die Welt wird nicht mehr begriffen und kritisiert, sie wird inszeniert und zum Material der besten aller möglichen Meinungen hergenommen, die das Ich von sich selbst haben kann.

Folge: Statt der Konkurrenz um Ideen und Alternativen geht es um einen rasenden ästhetischen Wettbewerb der Lebensstile, der Moden und einer extravaganten Selbstinszenierung, in der Voyeurismus und Jugendkult über tradierte Moral und diskursive Rationalität triumphieren. "Heute muß ich mit Brad Pitt und Tom Cruise konkurrieren, nicht mit Ole aus der Uni-Mensa", sagt der Hamburger Jura-Student Gabriel Rosenblum, 26. Aber er muß es auch nicht mit beredten Vorkämpfern einer revolutionär heraufdämmernden Zukunft wie Rudi Dutschke aufnehmen, die Idole der Coolness von 1968, die es ihrerseits mit Che' Guevara, Adorno und Jimi Hendrix zu tun hatten.

Was vor 30 Jahren mit der antiautoritären Revolte gegen den real existierenden Kapitalismus begann, hat sich über tausend Metamorphosen in einen liberalkapitalistischen Pluralismus verwandelt, in dem eine Tv-Moderatorin wie Bärbel Schäfer zur Berühmtheit werden kann - "mit hoher Wahrscheinlichkeit", so der Autor Jürgen Roth, "das radikal Dümmste, was je vom hiesigen Fernsehen ersonnen und eingesetzt ward, die schlimmste und allerschlimmste Lärmmaschine der Neuzeit, das Topfgesicht der Neuen Welt, aus dem es faucht und faselt bar jeder Begrenzung" - ein erwachsenes Riesenbaby von 32 Jahren.

Ist der "Morbus Infantilitatis" noch einzudämmen?

Der Amerikaner Bly gibt die Parole aus: Back to the roots! Er schlägt die Rückkehr zu den Initiationsriten traditioneller Gesellschaften vor. Allein, wird es junge Menschen reifer und Erwachsene weniger unreif machen, wenn unschuldige Adoleszenten ein Menstruationsritual bei Vollmond exerzieren oder eine Woche im dunklen Wald sitzen und eifrig die Trommel rühren? Sollen sie - modernere Variante - über das Parkett des Wiener Opernballs wirbeln oder mit einem selbst erarbeiteten VW Polo durch das geeinte Europa sausen?

Hanin Elias, 24, Sängerin der Gruppe "Atari Teenage Riot", sieht es realistisch: "Wir wußten schon mit zehn Jahren, wie man zum Orgasmus kommt, und wir wissen, daß wir unbedingt unser Ich finden müssen. Wir sind frei. Wir können unsere Meinung sagen in 'Ich find's Scheiße' bei RTL. Jeder weiß, was nicht stimmt, und niemand kann den wirklich Schuldigen finden. Deshalb geschieht gar nichts." Eben.

DER SPIEGEL 9/1997


 
Mit freundlichen Empfehlungen

Humanistische AKTION

7/1999 


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K U L T U R

Die Wonnen des Klagens

Über die infantile Nation.

Von Dietrich Schwanitz 

Schwanitz, 56, ist Professor für englische Sprache und Kultur an der Universität
Hamburg und Autor des satirischen Uni-Romans "Der Campus" (1995).

Bis zur Wiedervereinigung stand Deutschland unter der Aufsicht seiner Erziehungsberechtigten. Das begünstigte eine schleichende Infantilisierung. Im Schutz des alliierten Kinderzimmers bezog die Bundesrepublik ihre politischen Wahrnehmungsmuster in immer neuen Wellen aus den eigenen Jugendbewegungen.

Das begann mit der Studentenrevolte. Nachdem sie in einem Anfall von Humor den autoritären Stil der Väter durch symbolische Profanierung zerstört hatte, begann sie allmählich, den eigenen Karneval mit einer richtigen Revolution zu verwechseln. Dazu mußte sie einen Großteil der radikalen Staffage fingieren.

Im Rückgriff auf den Kostümfundus der Vergangenheit stilisierte sie die bürgerliche Demokratie als SS-Staat, um die eigene Opposition als antifaschistischen Widerstand inszenieren zu können. Man verteufelte Amerika als den großen Satan und öffnete damit die Kapitalismuskritik wieder den anti-westlichen Ressentiments, die ehemals zur Kulturkritik der radikalen Rechten gehört hatten. Zugleich übersah man den Gulag ebenso wie alle anderen totalitären Errungenschaften des Realsozialismus. Kurzum, man errichtete ein Fantasy-Reich der Politik.

Das rächte sich. Kaum war das Land souverän geworden, löste sich aus dem Gespensterreigen historischer Szenarien die Gestalt des jugendlichen Neonazis mit der Brandfackel in der Hand. Die Reaktion war infantil: Lichterketten. Gegen Haß wurde Liebe gesetzt, gegen die Brandfackel die Weihnachtskerze. Die gemeinsame Pyromanie verriet die geschwisterliche Herkunft aus den Abgründen des deutschen Gemüts.

In der politikfernen und weltflüchtigen Idylle einer innigen Kleinfamilie, mit dem Seelenschmerz der Kerzen, gab man zu erkennen, daß man hierzulande innere Distanz und Zivilisiertheit für unvereinbar hielt, daß man meinte, Fremde lieben zu müssen, um sie nicht totzuschlagen, und daß man nicht verstanden hatte, daß die moderne Zivilisation auf der emotional kühlen Gesellschaft des Rechts und der guten Umgangsformen beruht und nicht auf der Instinktgemeinschaft.

Zuvor schon hatte man auf den Golfkrieg in Form von Kinderkreuzzügen reagiert. In einem Anfall regressiver Einfühlung identifizierte man sich mit dem bombardierten Irak als einer vormodernen Gemeinschaft, um die Repräsentanten der Moderne, die USA und Israel, der Weltverschwörung zwischen Wall Street, Plutokraten, Ölindustrie und Zionisten anklagen zu können. Mehr als alles Bisherige hat diese Demonstration politischer Unreife die deutsche Reputation beschädigt.

All das wurde überwölbt von einer Rhetorik der Betroffenheit. Dieses semantische Gespenst zeugt davon, daß man mehr daran interessiert ist, unschuldig auszusehen, als die Probleme zu lösen. Um moralisch rein zu bleiben, darf man nicht handeln, sonst könnte man sich ja schuldig machen, und so tarnt sich in der Betroffenheit Moral als Leiden, als Sensibilität und Schmerz. Sie ist das Privileg der Minderheiten, die nicht handeln und sich der seligen Verantwortungslosigkeit der Kindheit überlassen.

Das Kind verbindet den Anspruch auf Dauerkonsum und Unterhaltung mit der Ablehnung jeder Verantwortung. Wenn es frustriert ist, überläßt es sich den Wonnen des Klagens. Da es unseren Minderheiten aber vergleichsweise gut geht, brauchen sie Resonanzverstärker als Unglücksausweis. Zu diesem Zweck identifizieren sie sich mit verfolgten Völkern und bedrohten Tierarten. Man imitiert die Verfolgten der Geschichte.

Um dabei mitmachen zu können, buchen sogar die Täter ihr Handeln als Leiden um und stellen sich als unverantwortlich dar: Ein Mord ist dann kein Verbrechen mehr, sondern der Hilfeschrei eines verstörten Kindes.

Wo liegen die Gründe für diese Infantilisierung? Die Ausweitung des Bildungssystems seit den siebziger Jahren hat zur Chancengleichheit geführt. Das erzwang eine neue Zurechnung von Leistungen, die man nicht erbracht und Gelegenheiten, die man verpatzt hatte: Man war dann selber schuld. Nicht mehr Herkunft und Status waren verantwortlich, sondern die einzelnen selbst. Das stellte eine ungewohnte Belastung dar.

Als das zur Massenerfahrung wurde, entstanden ein Legitimationsbedarf für Trotzreaktionen (Null-Bock), eine Diskreditierung von Leistung und Erfolg (Anpassung!) und ein Theorie-Pool für die Begründung des eigenen Versagens (Die anderen sind schuld). Das forcierte die Suche nach den Sündenböcken, denen man sein Unglück in die Schuhe schieben konnte: Amerika, der Logozentrismus, die Männer ...

Diese Konstellation produziert den eigentlichen Antrieb hinter jener pubertären Mixtur aus trotziger Verweigerung, unrealistischer Forderung und frei flottierenden Anschuldigungen bei steigenden Ansprüchen an öffentliche Alimentierung. Bei der Aufgabe, diese Fantasy-World zu korrigieren, hat die Universität versagt. Statt dessen wurde sie selbst zur Quelle einer geisterhaften Wirklichkeitsverdünnung.

So wechseln inzwischen auch die Politiker vor unseren Augen die Kostüme und demonstrieren Betroffenheit, um ihre Unschuld zu beweisen. Jede Realitätsveränderung ruft bei ihnen nicht Tatkraft hervor, sondern Identitätskrisen. Sie verlieren zunehmend die Fähigkeit, zwischen Albernheiten und wichtigen Dingen zu unterscheiden. Und in der Geschäftsordnung der Generationsfolge stilisiert sich die Führungsriege als Rasselbande von Enkeln, um sich die Kinderschuhe wieder anzuziehen.

DER SPIEGEL 9/97


 
Mit freundlichen Empfehlungen

Humanistische AKTION

7/1999 


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Aktualisiert am 28.03.09