Begründungsnotstand
Zum Humanistischen Selbstverständnis
des HVD
An die Velbert, den 03. 08.1998
Betr.: Humanistisches Selbstverständnis
Bei der Prüfung Ihrer Aussagen zum Selbst- und Weltverständnis vom Februar 1995, der ich in weiten Teilen zustimme, fällt mir auf, 1) daß sie mit einer negativen Begriffsbeschreibung beginnen: nicht religiös gebunden, Konfessionslose, A-gnostiker, Frei-(von etwas?)denker. Dabei verwenden Sie den Begriff der Religiosität im Sinne traditioneller, konfessioneller Einengung auf eine Rückbindung an "Gott". Von einem solchen Gott bzw. entsprechenden metaphysischen Instanzen distanzieren Sie sich jedoch. Wäre es an dieser Stelle nicht passender, das Adjektiv <religiös> durch <konfessionell> zu ersetzen? Denn grundsätzlich ist das lat., "religio" nicht notwendig Rückbindung an transzendente Welten, sondern wird von Religionskritikern wie Ludwig Feuerbach1 (19. Jh.) oder einem interdisziplinär denkenden Gregory Bateson2 (20. Jh.) als Einbindung des Menschen in die Natur verstanden. Jede menschliche Ethik geht von einer solchen Grundannahme menschlicher Weltanschauung aus, und damit behandelt auch eine humanistisch, d.h. immanent verstandene Ethik im Kern religiöse Fragen. 2) Die positive Begründung des Humanismus erscheint mir zu eng, wenn sie sich nur auf Befreiungstendenzen des 19. und 20. Jahrhunderts beruft; sie ist aber vor allem inhaltlich verschwommen, wenn sie sich nicht vom sog. Neuhumanismus eines Wilhelm von Humboldt abgrenzt bzw. vom erkenntnistheoretischen Idealismus der dt. Klassik (von Leibniz bis Kant). Ansätze immanenter Weitsicht und menschlicher Ethik finden sich z.B. bereits Jahrtausende früher in der vor-sokratischen griechischen Philosophie. Darin gibt es höchst "moderne" Vorstellungen gegen eine normative Ethik von "oben", auf die Sie nicht Bezug nehmen: z.B. Thales von Milet - tugendhaft leben = "indem wir niemals das tun, was wir an anderen verurteilen". Heraklit von Ephesus - das Gute (wird nicht normativ gesetzt, sondern) tritt "nur am Übel gemessen in Erscheinung". Demokrit von Abdera - Er entmythologisiert die Vorstellung eines göttlichen Weltschöpfers zugunsten der Annahme einer dem Seienden innewohnenden Gesetzmäßigkeit. Protagoras von Abdera - "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" (Schließlich verfügen wir nicht über "Himmelshaken", D. Dennett in DIE ZEIT, 16.2.96). Oder: "Ein und derselbe Satz kann einmal wahr und das andere Mal falsch sein, je nachdem, von wem und unter welchen Umständen er ausgesprochen wird". Die Liste3 der Belege für eine immanente Weitsicht zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Philosophie, wenngleich derartige Denkansätze in der Realität geschichtlicher Machtverhältnisse im Bunde mit den christlichen Kirchen eher ein Schattendasein führten. Wichtig scheint mir jedenfalls, daß das Bekenntnis zur Immanenz und zum Menschen als vergänglichem historischem Wesen, das wie alles Lebendige dem evolutionären Wandel unterliegt und sich daher nicht als "Krone der Schöpfung" eine Sonderherrschaftsrolle mit Bestandsgarantie anmaßen darf, nicht erst durch die halbherzige Aufklärungsbewegung des 18. und 19. Jhs. in die Welt gekommen ist. 3) Insbesondere vermisse ich die Ableitung der "humanistischen Lebensauffassung" aus grundlegenden Prinzipien heutiger Weltwahrnehmung. Woher leiten sich die von Ihnen genannten "ethischen Kriterien" denn ab, wenn nicht aus den belegbaren Erkenntnissen der jeweiligen Natur- und Geisteswissenschaften? Wollen wir nicht in der Negation (A-theisten) stecken bleiben, müssen wir die Kräfte des Menschen und seine Rolle im ökologischen System neu beschreiben. Die heutigen Neurowissenschaften zwingen uns geradezu, die Höhenflüge der Philosophie in metaphysische Welten oder der Religionen in ihr jeweils anderes "Jenseits" auf ihre Relevanz hin zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Schon ein flüchtiger Blick auf die großen Veränderungen im Laufe der Menschheitsgeschichte zeigt uns, wie aktuell und folgenreich die damals gewonnenen Daseinsperspektiven auch heute noch sind. Dabei liegt die Frühzeit des Menschen weitgehend im Dunkel. Mit der sog. neolitischen Revolution vor ca. 10 000 Jahren verändert sich grundlegend das Verhältnis des Menschen zur Natur. Durch die Entdeckung von Ackerbau und Viehzucht greift die Kultur der Jäger und Sammlerinnen zum ersten Mal (nachweisbar) aktiv in das Naturgeschehen ein, von dem und in dem sie bislang vorwiegend durch Anpassung lebte. Die Menschen erweitern damit aus eigener Kraft ihre Lebensmöglichkeiten, werden seßhaft und gründen Städte, bekommen aber auch die Folgen zu spüren. Deren Auswirkungen lassen sich bis in die Klimaprobleme unserer Tage oder die Versorgungsdefizite in der Ernährung der Weltbevölkerung heute oder den Streit über eine umweltfreundliche europäische Agrarordnung verfolgen. Wir erkennen heute deutlicher als früher, wie gefährlich es ist, sich die Erde auf Geheiß eines christlichen Gottes untertan machen zu wollen, ohne die Notwendigkeit ständigen Ausgleichs zwischen Bedarf und Recourcen zu erkennen. Menschlicher Größenwahn, seine Orientierung an starren Jenseitsvorstellungen und konfessioneller Gehorsam machen blind gegenüber der dynamischen Struktur ökologischer Regelkreise in der Natur, die durch jede Art linearer Einseitigkeit in Unordnung gerät. Der Mensch weiß heute, daß nur er selber die Verantwortung für sein Tun trägt; er muß sich die notwendigen Grenzen nach eigener Einsicht setzen. Der zweite datierbare Entwicklungssprung in der Geschichte des Menschen ist die "rationale Revolution" mit dem Sieg des Logos über den Mythos ca. 500 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung im antiken Griechenland. Ihr "verdanken" wir die folgenschwere gedankliche Trennung von Körper und Geist. Das "Denken über das Denken" feiert patriarchale Triumphe über den als "Gefängnis" abgewerteten Leib (Platon). Die große Sokratische Errungenschaft der Abstraktion, d.h. also der Verallgemeinerung einer Grundidee, die vielen konkreten Beispielen als begriffliche Gemeinsamkeit zugrunde liegt, hat die Ausbildung von Logik und Vernunft ebenso beflügelt wie den Grund gelegt für die Entwicklung der modernen (Natur-) Wissenschaften. Wurde die Zunahme an Rationalität für die Zivilisation und ihre Technologie allgemein als epochale Errungenschaft gefeiert, bescherte sie der europäischen Geisteselite gleichzeitig im religiös-philosophischen Bereich eine Befestigung metaphysischer Spekulationen, wenn beispielsweise die allzu menschlichen Göttergeschichten des Mythos durch abstraktere Weltentstehungsmodelle eingetauscht wurden. Bis in den Neuhumanismus des vorigen Jhs. hinein wurde das Platonische "Reich der Ideen" als Wirklichkeit "des Absoluten" nicht eindeutig überwunden, mit dessen Hilfe einzelne "Wissende" Ethik, Recht und Sozialordnung deduktiv abzuleiten sich anmaßten. Ludwig Feuerbach war nicht der erste, der die damit behauptete transzendente Instanz absoluter Wahrheit als durchsichtiges Täuschungsmanöver eines rein gedanklichen Abstraktionsvorganges und als Projektion menschlicher Sehnsüchte entlarvte. Verschleiert wird nämlich in Metaphysik und Religion gleichermaßen, wer die jeweilige Definitionsmacht hat: die Philosophen und die Priester. Beide Ansätze lenken den Menschen davon ab, das wichtigste Indiz seiner Endlichkeit wahr- und ernstzunehmen: den Tod, indem sie ihm "die Unsterblichkeit der Seele" oder "ewiges Leben" vorgaukeln und damit natürlich echte Autonomie verhindern. Verwunderlich ist eigentlich nur, wie lange es gedauert hat, bis sich in Annegret Stopczyk4 eine Philosophin findet, die sich wieder Gedanken über leibfreundliche (immanent-ganzheitliche) Philosophie macht, oder in Gerd Lüdemann5 ein renommierter Theologe und Jesus-Forscher, der die Lehre der Kirchen als einen "großen Betrug" entlarvt. Erst die dritte der großen menschheitlichen Aufklärungsbewegungen, die den Namen wirklich verdient, die "neurowlssenschaftliche Revolution" am Ende des 20. Jhs., macht dem Spuk der Spaltung des Lebens in Geist oder Materie ein unsanftes Ende. Geist ist nicht länger von Philosophen als das immaterielle Substrat reiner Menschlichkeit ("res cogitans") zu behaupten, Denken nicht länger ohne Zusammenhang mit der Körperfunktion von Gefühl und Erinnerung zu definieren, Ich-bewußtsein und Selbst-verständnis nicht länger gegen die als "niedriger" abgewerteten Funktionen von Organen, Nerven und Gehirn vorzustellen. Bewußtsein wird vom Unterbewußten her gesteuert, es "erfährt" Wahrnehmungen erst, wenn diese eine bestimmte Schwelle der Abweichung vom Bisherigen oder Normalen überschreiten. Schon Wahrnehmung und Empfindung sind unauflöslich mit (begrifflichem) Denken verbunden, Denken immer vom Gefühl kontrolliert, Gefühl immer orientiert an gespeicherten individuellen Erfahrungen (sowie ohnehin an genetischen Vorgaben). Die physikalischen Relativitätstheorien unseres Jahrhunderts (Einstein) haben nun eine biologisch neuronale Entsprechung: Das Gehirn schafft sich seine eigene Wirklichkeit6 . Darin ist weder Platz für Metaphysik oder "Götter" noch gibt es den "festen Punkt" des Archimedes, von dem aus man die Welt aus den Angeln heben könnte. Es ist Antonio Damasio zu danken, daß er "Descartes' Irrtum"7 nicht nur erkannt, sondern dessen Trennung von Körper und Geist auf Grund der erdrückenden neurowissenschaftlichen Befunde auch einleuchtend widerlegt hat. Obwohl die Geheimnisse des Lebens noch langezeit weiterer intensiver Forschungsarbeit bedürfen, hat die Bewußtseinsforschung bereits jetzt so etwas wie einen wissenschaftsdidaktischen Erdrutsch herbeigeführt. Fakultäten aus Geistes- und Naturwissenschaften, z.B. Philosophie und Neurobiologie, sehen sich gezwungen, ihre traditionelle Isolation und Abgrenzung von einander aufzugeben und versuchen an vielen Orten, die verlorengegangene ganzheitliche Sicht in Kooperation wieder bzw. erstmals mit Aussicht auf Erfolg in den Blick zu nehmen. 4) Aus dem oben Gesagten ergibt sich das Dilemma, daß der Mensch heute nicht mehr auf veraltete Muster ethischer Grundlegung zurückgreifen kann, ohne sie auf ihre Eignung für die Bewältigung der jetzt anstehenden Probleme hin zu überprüfen. Das bedeutet nicht notwendig, neue ethische Prinzipien zu (er-)finden; auch stehen wir nicht im "luftleeren Raum". Wir haben bereits Menschenrechte, Verfassungen, Sozialgesetze und Verhaltensregeln, von denen sich viele in der Vergangenheit bewährt haben. Es besteht aber ein Begründungsnotstand, wenn selbst in der Präambel unseres Grundgesetzes die "Verantwortung vor Gott" beschworen wird. Wie ist echte menschliche Autonomie vorstellbar, wenn mit der Berufung auf Gott eine metaphysische Instanz absoluter, d.h. unhinterfragbarer Autorität juristisch sanktioniert wird? Die Klagen auch des HVD über die ungerechte Bevorzugung einiger Kirchen in Deutschland und die Forderung nach strikter Trennung von Kirchen und Staat laufen so lange ins Leere, bis die Verankerung unseres Rechtswesens im Metaphysischen erkannt und politisch geändert wird. Diesem Ziel dient auch der vorliegende Beitrag, den ich mit einem längeren Zitat aus Gregory Batesons Sammlung <Ökologie des Geistes> (s.o.) beschließe: "Wir erhalten damit ein Bild vom Geist, nach dem dieser mit einem kybernetischen System gleichbedeutend ist - die relevante, totale, informationsverarbeitende, Versuch und Irrtum durchlaufende Einheit. Und wir wissen, daß sich innerhalb des Geistes im weitesten Sinne eine Hierarchie von Subsystemen finden wird, von denen wir jedes einzelne als individuellen Geist bezeichnen können. ... Bei der Erwägung von Evolutionseinheiten habe ich die Argumentation vertreten, daß man auf jeder Stufe die vollständigen Wege außerhalb des protoplasmischen Aggregats einzubeziehen hat, sei dies die DNS-in-der-ZelIe, die-Zelle-im-Körper oder der-Körper-in-der-Umgebung. ... Die(se) Identität zwischen der Einheit des Geistes und der Einheit des evolutionären Überlebens ist von sehr großer Bedeutung, nicht nur theoretisch, sondern auch ethisch. Sie sehen also, daß ich nun ... etwas, das ich als "Geist" bezeichne, als dem großen biologischen System - dem Ökosystem - immanent ansiedele. ... Damit ist auch klar, daß die Theologie verändert oder vielleicht erneuert wird. Die mediterranen Religionen haben 5000 Jahre lang zwischen Immanenz und Transzendenz hin und her geschwankt. In Babylon waren die Götter auf den Berggipfeln transzendent; in Ägypten war (der) Gott im Pharao immanent; und das Christentum ist eine komplexe Kombination dieser beiden Glaubensformen. Die kybernetische Erkenntnistheorie, die ich Ihnen vorgelegt habe, würde einen neuen Zugang nahelegen. Der Geist ist immanent, aber nicht nur im Körper. Er ist auch den Bahnen und Mitteilungen außerhalb des Körpers immanent; und es gibt einen größeren Geist, von dem der individuelle Geist nur ein Subsystem ist. Der größere Geist läßt sich mit Gott vergleichen, und er ist vielleicht das, was einige Menschen mit Gott meinen, aber er ist doch dem gesamten in Wechselbeziehung stehenden sozialen System und der planetaren Ökologie immanent. Die Freud'sche Psychologie hat den Begriff des Geistes nach innen ausgedehnt, so daß er auch das ganze Kommunikationssystem innerhalb des Körpers einschließt - den autonomen und den habituellen Bereich, sowie den riesigen (Bereich) unbewußter Prozesse. Was ich sage, erweitert den Geist nach außen hin. Und beide Veränderungen reduzieren die Reichweite des bewußten Selbst. Eine gewisse Demut erweist sich als angemessen, die gemildert wird durch die Würde oder Freude, Teil von etwas Größerem zu sein. Ein Teil - wenn Sie so wollen - von Gott. ... Wenn ich recht habe, muß unser ganzes Denken über das, was wir sind und andere Menschen sind, umstrukturiert werden."8 Mit freundlichen Grüßen Ernst Grewel P.S. Einschränkend zum Bateson-Zitat: die Beigehaltung des Begriffs "Gott" (trotz klarer immanenter Umdeutung) scheint mir eher zu noch größerer Verwirrung beizutragen, als hilfreich zu sein E.G. ____________
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Aktualisiert am 30.11.11